Die Sprache der Verwaltung zwischen Verständlichkeit und juristischer Präzision Prof. Dr. Arno Scherzberg „Ein juristischer Text soll verständlich, zugleich aber auch unmissverständlich sein, zwei Eigenschaften, die leicht im Widerstreit stehen.“ „Das Schreiben einer Behörde wirkt wie eine Visitenkarte der öffentlichen Verwaltung.“ (BBAW, zit. nach Herberger, in Lerch, Die Sprache des Rechts I, 2004 S. 185; Bundesverwaltungsamt, Arbeitshandbuch „Bürgernahe Verwaltungssprache“ S. 6) Gliederung I. Der Ausgangsbefund II. Linguistische Grundlagen III. Rechtliche Vorgaben IV. Die Sprache „des Rechts“ V. Die Sprache der Verwaltung VI. Handlungsempfehlungen und Fazit Sprachberatung bei Gesetzgebung Geschäftsordnung Berliner Verwaltung § 43 - Sprache, Stil und Form (Hervorhebung vom Verf.) (1) Die Schriftsätze sollen knapp, klar und vollständig sein. Auf eine leicht verständliche Darstellung in gutem Stil und höflicher Form ist Wert zu legen. Es sind einfache Sätze zu bilden und geläufige Wörter zu verwenden. Unentbehrliche Fachausdrücke sind zu erläutern, wenn dies zum Verständnis erforderlich ist. Zu vermeiden sind insbesondere überflüssige Zusätze und Wiederholungen, ein steifer Satzbau mit vielen Hauptwörtern sowie entbehrliche Modewörter. Leitfragen des Vortrags Was genau ist rechtlich gefordert? Wo liegen die Hindernisse einer bürgerfreundlichen Verwaltungskommunikation und Wie könnten Verbesserungen gelingen? II. Linguistische Grundlagen Unabhängig davon, ob ein Satz komplex oder einfach ist und ob er Fachbegriffe enthält: das Verstehen kommt in keinem Fall automatisch zustande, sondern hängt vom Verständnishorizont des Lesers ab. Verständlichkeit ist keine Eigenschaft eines Textes, sondern das Ergebnis einer Interaktion von Text und Leser. Nicht der Autor, sondern der Leser bestimmt, was (für ihn) der Text bedeutet. II. Linguistische Grundlagen Beim Textverstehen rechnet der Leser den Zeichen einen bestimmten Sinn zu. Seine Fähigkeit hierzu ist von Ausbildung, Sozialisierung und Erfahrung abhängig und damit höchst individuell. Ein Text wird deshalb nie einheitlich verstanden. Im Gegenteil: Mit der Zahl der Adressaten nimmt die Wahrscheinlichkeit des einheitlichen und „richtigen“ Verstehens sogar ab. Der Wortlaut kann die Verständlichkeit eines Textes nie garantieren. III. Rechtliche Vorgaben Art. 41 EGrCh Art. 20 Abs. 3, Art. 28 GG: Rechtsstaatsprinzip (rechtlicher Gehör) Art. 20 Abs. 1 GG: Demokratieprinzip (?), Sozialstaatsprinzip (!) Grundrechte in ihrer objektiv-rechtlichen Ausprägung Umsetzungen in VwVfG, SGBI: §§ 41, 43 VwVfG: Wirksamwerden von VA erst nach angemessener Gelegenheit zur Kenntnisnahme. § 39 VwVfG: Pflicht zur Begründung, diese muss aus sich heraus verständlich sein. § 28 VwVfG: Recht auf Anhörung, schließt Hinweis- und Informationspflichten ein. § 25 VwVfG, § 13 SGB I: Pflichten azur Beratung und Betreuung. III. Rechtliche Vorgaben Folgt daraus ein Recht auf „verständliche“ Kommunikation“? - (+) Der Bürger ist nach den genannten Normen wirksam über die für sein Recht maßgeblichen Umstände zu informieren. - (+) § 25 VwVfG schließt auch die Korrektur von Irrtümern ein, so dass sich die Behörde zu vergewissern hat, ob der Bürger die Angaben richtig verstanden hat. - (-) Begriff der Verständlichkeit ist vage. Eindeutige Maßstäbe hierfür fehlen. Verständlichkeit kann nur relativ zur Komplexität der Materie gefordert sein(Rechtssicherheit). - (-) Verstehen ist individuell. Die Behörde muss grundsätzlich von einer durchschnittlichen Auffassungsgabe ausgehen können. Ein Recht auf Verständlichkeit besteht, ist aber nur bei grober Missachtung justiziabel. 46 VwVfG ist anwendbar. IV. Die Sprache „des Rechts“ Rechtstexte sollen nicht „gelungene Kommunikation“ ermöglichen, sondern Entscheidungen anleiten. Dazu enthalten sie in der Regel abstrakte Merkmale und bedürfen einer methodengerechten Konkretisierung auf die Umstände des Einzelfalls. Recht für den Einzelfall wird erst im Zuge der Rechtsanwendung im Einzelfall erzeugt. IV. Die Sprache „des Rechts“ Abstrakte Normen beantworten nur abstrakte Rechtsfragen“. Die Forderung, wer von einem Gesetz betroffen ist, müsse seine Bedeutung für den Einzelfall (anhand des Wortlauts) verstehen können, ist deshalb nicht erfüllbar. Ein Rechtstext ist bestenfalls „abstrakt“ verständlich. V. Die Sprache der Verwaltung Sie ist eine Fachsprache, die der Vergewisserung von Neutralität, Sachbezogenheit und Rationalität des Verwaltungshandelns dient. Einige Stilelemente signalisieren aber auch ein Machtgefälle oder zumindest eine Distanz zwischen Behörde und Bürger. Eine solche Distanzierung ist indes keinesfalls rechtlich geboten. Problem: viele Texte der Verwaltung dienen gegenläufigen Zwecken: - der Sinnvermittlung an die Betroffenen und - der gerichtsfesten Begründung der Entscheidung. V. Die Sprache der Verwaltung Aber auch ein gerichtsfester Bescheid darf übersichtlich gestaltet sein und Fachbegriffe in allgemeinverständlichen Worten erläutern. Nach dem sog. Hamburger Modell sind vor allem vier Dimensionen der Textverständlichkeit zu beachten: die sprachliche Einfachheit, etwa durch die Verwendung konkreter und bekannter, anstatt abstrakter und wenig geläufiger Begriffe und durch Erläuterung von Fachwörtern; Die semantische Kürze, etwa durch kurze Sätze und einfache syntaktische Strukturen; Eine angemessenes Arrangement der Textinformationen, etwa durch Beispiele, Hervorhebungen und Zusammenfassungen und eine Anreicherung des Textes mit Interesse erweckenden Elementen, z.B. durch eine persönliche Ansprache. V. Die Sprache der Verwaltung Allerdings sind einer Vereinfachung auch Grenzen gesetzt: Bei komplexer Materie Bei gleichlautenden Schreiben an Adressaten mit unterschiedlichem Verständnishorizont In jedem Fall ist eine angemessene Balance zwischen Einfachheit und Präzision herzustellen Entsprechendes Sprachgefühl muss eingeübt werden Bescheidtechnik als Gegenstand der Ausbildung unzureichend. U.U. Wandel im professionellen Selbstverständnis der Mitarbeiter erforderlich. V. Die Sprache der Verwaltung Ergebnisse eines Speyerer Forschungsprojekts: Veränderungsprozesse müssen partizipativ gestaltet werden. Die Behördenleitung muss die Einübung eines bürgernahen Sprachstils fördern (z.B. Anreize in Ziel- und Leistungsvereinbarungen) Weitere Anregungen: Service-Center im Modus Front- und Backoffice (Frontoffice mit Übersetzerfunktion) Dialogische Struktur bei Formularen Vernetzung von behördlichen Initiativen auf Internetportal mit gemeinsamer Datenbank VI. Fazit Verständlichkeit ist adressatenabhängig, sie lässt sich deshalb durch Textgestaltung allein nicht sicherstellen. Rechtstexte müssen primär geeignet sein, Entscheidungen der Rechtsanwender anzuleiten. Dazu sind sie fachsprachlich, abstrakt und u.U. auch vage formuliert. Ihr Wortlaut erlaubt deshalb i.d.R. keinen unmittelbaren Schluss auf die Rechtslage im Einzelfall. Sie lassen sich deshalb nur „abstrakt“ verständlich gestalten. Verwaltungstexte müssen sowohl gerichtsfest als auch konkret verständlich sein. Dabei sind eine verständnisfördernde Struktur und erläuternde Zusätze sinnvoll und geboten. Sinnvoll ist die Aufnahme der Sprachproblematik in die Ausbildungsgänge in Recht und Verwaltung und die Veränderung des professionellen Selbstverständnisses der Mitarbeiter, u.a. durch Erarbeitung einer entsprechenden corporate identity der Behörden. Weiterführende Hinweise Fisch-Margies: Bessere Verwaltungssprache, 2014. Forschungsstelle „Verständliche Sprache“ Ruhr-Universität Bochum http://www.moderne-verwaltungssprache.de/ IDEMA: Gesellschaft für verständliche Sprache: http://verstaendlichesprache.de/einfachverstaendlich/ (enthältlich sind ein Wörterbuch mit Übersetzungen von Fach- in Alltagssprache und Mustertexte für Verwaltungshandeln, gegen Entgelt) BMJ: Allgemeine Empfehlungen für das Formulieren von Rechtsvorschriften, http://hdr.bmj.de/page_b.1.index.html Bundesverwaltungsamt: Arbeitshandbuch „Bürgernahe Verwaltungssprache“, http://www.buerokratieabbau.brandenburg.de/media_fast/4055/Buergern ahe_Verwaltungssprache_BBB.pdf
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