Manifesta Episode Una

Manif esta
Am 16. März 2016 lädt die Manifesta zum Fototermin auf dem Helvetiaplatz, zum Gründungsanlass der Zürcher Zunft der Künstler. Die Projektbeteiligten werden vorgestellt
und die Gründungsurkunde unterzeichnet, ausserdem gibt es Einblick in die Umbaupläne für
das Cabaret Voltaire, das während der Manifesta zum temporären Zunfthaus wird.
Episode 6:
ing
Walking Talk
Lasst uns doch gleich noch
den neuen Film für Kickstarter machen: Beim letzten
Versuch im Cabaret Voltaire
hat Nora die Tonspur verkackt … Also wenn wir das
Ding jetzt prozessionsmässig
auf dem Platz herumtragen,
kommt das am besten.
Wir machen das so: Ich erzähle, wie die Zunft der Künstler einen Club für
kreative Menschen schafft. Dann erzähle ich von den Joint-Venture-Performances zwischen Künstlern und Nicht-Künstlern, durch die man in die Zunft
aufgenommen wird. Nur wer in unserem Zunfthaus auf der Bühne steht, kann
Mitglied werden: «Künstler und Nichtkünstler, entwickelt Ideen! Nicht­
künstler, schnappt euch einen Künstler! Künstler, schnappt euch einen Nichtkünstler! Schickt die Idee an den Zunftmeister Manuel, der das PerformanceProgramm koordiniert!» Das wäre dann die Überleitung zu dir, Manuel, und du
kannst von ein paar bereits geplanten Performances erzählen.
Da ist leider noch nichts Konkretes spruchreif ...
Aber ich kann erzählen, dass wir gezielt Performer
einladen möchten, damit jeder Abend seine High­lights hat. Und ich kann den Spendenaufruf machen,
deshalb filmen wir ja diesen Kickstarter: «Wir
brauchen zahlungskräftiges Publikum, um ausgewählten Performern Reise und Unterkunft zu
bezahlen! Als Gegenleistung bieten wir VIP-Balkone
und VIP-Tische an!»
Also wir wollen ja was verkaufen und
wenn man sagt, wir machen ein unglaublich spannendes Programm, interessiert
das keinen. Wir brauchen etwas wie: «Da
pinkelt ein Papageienzüchter auf eine
Konzeptkünstlerin!»
Es gibt einen Künstler, der
Spitzenidee: «Es gibt eine Performance mit professionellen Nudisten
und einem professionellen Künstler,
der ihnen Hosen anmalt.» Das will
man hören, das will man sehen!
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Kunstbulletin 5/2016
Das Cabaret Voltaire ist voller Patina und wir haben überlegt, wie wir das brechen und homogenisieren können. Um
den für die Manifesta zentralen Gedanken der Arbeitswelt
aufzugreifen, radieren wir diese Patina komplett aus: Wir
verlegen einen grauen Büroteppich und ziehen eine Akustikdecke ein. Im Mittelpunkt zwischen den beiden Säulen
befindet sich die Bühne, sie wird mit Spiegeln nach hinten
abgeschlossen. Durch die Erhöhung der Bühne und das
gleichzeitige Herunterhängen der Decke bringen wir Performer und Zuschauer in eine neue Verbindung.
Neben Christian Jankowski und Manuel Scheiwiller,
der als Zunftmeister amtet, gehören Ray Herlitz
als Zunftschreiber sowie die Baukunstmeister Alessandro Bosshard und Savvas Ciriacidis zu den Gründungsmitgliedern der neuen Zunft.
Wir sollten auf unser
Ehrenkomitee hinweisen: Bis jetzt sind
­Manon, Gianni Motti
und Thomas Hirschhorn
dabei. Und dann zwei,
drei Worte von den
Baukunstmeistern; da
würde ich dann euch
bitten, Alessandro und
Savvas.
Alessandro Bosshard und Savvas Ciriacidis sind vom Team
des Lehrstuhls von Professor Alex Lehnerer an der ETH
und haben gemeinsam mit ihren Studenten die temporäre
3 Architektur entwickelt.
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Wir werden zwei Eingänge machen; einen
für die Mitglieder und
einen für die Novizen,
die durch ihn direkt
die Bühne betreten.
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Und nach der Performance
springen sie runter und
sind zu Mitgliedern der
Zunft geworden!
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Wenn jemand auf der Büh­ne steht, ragt sein Kopf
über die Decke hinweg.
Dem entsprechen Balkone,
auf denen Zuschauer
stehen und ebenfalls über
die Decke hinweg gucken.
Je nachdem, wo sich der
Performer befindet, kann
man nur einen Teil von
ihm sehen. Oder der Zuschauer geht sehr nahe an
die Bühne heran, wodurch
das körperliche Verhältnis
zwischen ihm und dem Performer eine grössere Rolle
spielt.
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FOKUS // MANIFESTA / EPISODE 6
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Während man das Modell des Cabaret Voltaire tapfer über den Helvetiaplatz trägt, entsteht eine angeregte
Diskussion.
Vielleicht müsste man
thematisieren, weshalb
ausgerechnet die Manifesta auf die Idee
kommt, auf ein so altbackenes Format wie
die Zunft zurückzugreifen?
Alle anderen traditionellen Berufe
werden durch
eine Zunft geehrt,
nur die Künstler
und Künstlerinnen
nicht!
Abgesehen davon ist es das
Konzept der Manifesta, die
Kunst mit der Stadt zusammenzubringen. Zünfte sind in
Zürich sehr viel präsenter als
anderswo, vor allem durch das
Sechseläuten.
Dieser Böögg kippt
immer wieder um und
hat letztes Jahr
wahllos Feuerwerkskörper ins Pub­likum
geschleudert.
Es wäre dennoch toll, am
Sechseläuten dabei zu sein.
Für den offiziellen Umzug
war das trotz Fürsprache
des Präsidialdepartements
unmöglich; auch unser
­Antrag, eine Stunde früher
vorneweg zu marschieren,
so wie die Frauen der Gesellschaft zu Fraumünster
in den letzten Jahren, wurde abgelehnt.
Ich finde das alles nicht
so wichtig: Unsere Zunft
orientiert sich nicht am
Ist-Zustand der Zünfte
von Zürich. Rückbesinnung
und Erhalt von Tradition
sind wichtig, noch wichtiger ist jedoch die zeit­
genössische Perspektive,
all das neu und frisch zu
denken. Gründung bedeutet Aufbruchstimmung,
­darum geht’s!
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Kunstbulletin 5/2016
Wie lange wird es die neue Zunft der Künstler am Ende geben? Und kann das Performance-Programm im
Cabaret der Künstler – Zunfthaus Voltaire die Erwartungen erfüllen? Eine Zwischenbilanz liefert die Manifesta
ab dem 11. Juni 2016.
Die Kostüme und Rituale am
Sechseläuten sind aus einer
zeitgenössischen Perspek­
tive durchaus in­teressant:
Ich kann verstehen, dass
man darin ästhetisches
­Potenzial sieht.
Aber ist das Ganze
nicht irgendwie überholt? Für mich sind
Zünfte etwas Elitäres,
sie repräsentieren die
Oberschicht. Zugang
erhält man entweder
über die Familienlinie
oder durch Fürsprache
von bestehenden
Mir ist eigentlich alles,
was nach Erbmonarchie
riecht, zuwider. Immerhin
macht das Sechseläuten
solche gesellschaftlichen
Realitäten in gewisser
Weise sichtbar.
Und im Prinzip funktioniert
auch das Kunstsystem ähnlich:
Es gehorcht eigenen Regeln und
ob man dazugehört oder nicht,
ist von relativ wenigen Meinungsmachern abhängig; man
bleibt gerne unter sich und
­mischelt sich die Dinge zu.
Ich bezweifle, dass die
Zunft der Künstler
über einen Eintrag bei
Wikipedia hinauskommen wird. Die Zünfte
sind historisch gewachsen und definiert, deshalb ist die Begründung
einer neuen rein objektiv unmöglich.
Aber das Ganze ist doch
eine kuratorische Strategie!
Zunft, Zunfthaus und das
ganze Brimborium sind ein
Format, um im besten Fall
ungewöhnliche und experimentelle Performances wäh­
rend der Manifesta zu ermöglichen. Das allein kann
der Zunft der Künstler ihre
Legitimation verschaffen.
Fortsetzung
folgt
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Mitwirkende: Alessandro Bosshard und Savvas Ciriacidis (Ciriacidis Lehnerer Architekten), Christian Jankowski
(Kurator Manifesta), Manuel Scheiwiller (Künstler und Zunftmeister) und viele andere. Script: Oliver Kielmayer;
Fotografie: Livio Baumgartner.
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