Steigt die Wahrscheinlichkeit für eine Gewaltstraftat mit der Zahl der Risikofaktoren? Eine Überprüfung der Risikokumulations-Hypothese anhand einer Längsschnittstudie an Dortmunder und Nürnberger Jugendlichen Sünkel, Z.1, Weiss, M.1, Wallner, S.1, Stemmler, M.1 1Institut Kontakt: Zara Sünkel Universität Erlangen-Nürnberg Department für Psychologie und Sportwissenschaft Lehrstuhl für Psychologische Diagnostik Nägelsbachstraße 49c 91052 Erlangen Telefon 09131-85-64008 Fax 09131-85-64018 [email protected] für Psychologie, Universität Erlangen-Nürnberg Hintergrund Ergebnisse In unterschiedlichen Studien wurden konsistent Risikofaktoren aus unterschiedlichen Bereichen für die Entwicklung antisozialen Verhaltens gefunden (z.B. Farrington, 1997; Hawkins et al., 1998; Lipsey & Derzon, 1998; Loeber et al., 2003). In 12 der 17 operationalisierten Risikofaktoren des Cracow Instruments unterschieden sich Jugendliche, die im letzten Jahr mindestens ein Gewaltdelikt begangen hatten, signifikant von denen, die entweder kein Delikt oder nur Delikte ohne Gewalt begangen hatten (siehe Abbildung 2): Ein fast viermal höheres Risiko für ein Gewaltdelikt hatten Jugendliche, die antisoziale Einstellungen aufwiesen oder aggressives Verhalten zeigten. Ein mehr als zweimal so hohes Risiko lag vor, wenn die Eltern einen ineffektiven Erziehungsstil praktizierten, der Jugendliche in einer desorganisierten Nachbarschaft lebte, in der Schule Probleme hatte oder allgemein Problemverhalten an den Tag legte, aber auch wenn seine Sozialisation mit Gleichaltrigen ungünstig war. Der prädiktive Wert eines einzelnen Risikofaktors ist jedoch meistens eher gering bis moderat (z.B. Hawkins et al., 1998; 2000; Lipsey & Derzon, 1998). Empirische Befunde weisen auf eine „dose-response-relationship“ hin, d.h. dass die Wahrscheinlichkeit des antisozialen Verhaltens umso höher ist, je mehr Risikofaktoren jemand ausgesetzt ist (Deater-Deckard et al. 1998; Loeber & Pardini, 2008; Rutter et al., 1970; Stouthamer-Loeber et al., 2002). Das Cracow Instrument wurde entwickelt, um „risk and need factors“ zu beurteilen und zu handhaben, die sich spezifisch auf Jugendgewalt beziehen (Corrado, 2002). Fragestellungen Unterscheiden sich Nicht-Gewalt-Täter und Gewalttäter hinsichtlich der Cracow Risikofaktoren? Steigt mit zunehmender Risikoexposition die Wahrscheinlichkeit für ein Gewaltdelikt? Methode Stichprobe Die verwendete Teilstichprobe bestand aus 726 Jungen der neunten Klasse aus Nürnberger und Dortmunder Schulen. Studiendesign Zurückgegriffen wurde auf die ersten Selbstberichtsdaten der Längsschnittstudie „Chancen und Risiken im Lebensverlauf“ (SFB 882, Teilprojekt A2) aus dem Jahr 2012. Studienimplementation Abbildung 2. Risikofaktoren des Cracow Instruments und der Zusammenhang mit Gewalttäterschaft im letzten Jahr. Berichtet werden nur die signifikanten Relativen Risiken. RR=Relatives Risiko. Geschulte Mitarbeiter führten an den Schulen im Klassenverband die Befragungen im Rahmen zweier Schulstunden durch. Jeder Schüler füllte individuell einen Fragebogen aus. Fragebogen Erhoben wurden deviante und delinquente Handlungen und unterschiedliche Aspekte des Lebens anhand von bewährten, modifizierten oder neu entwickelten Items und Skalen (z.B. Freizeit, Freunde, Schule, Peers, Familie, Nachbarschaft, Persönlichkeit, soziodemografische Daten). Als Gewalttäter galt jemand, der im letzten Jahr (2011) mindestens ein Gewaltdelikt begangen hatte (Raub, Körperverletzung ohne Waffe, Körperverletzung mit Waffe, Gewaltandrohung mit Waffe; siehe Abbildung 1). Entsprechend dem Cracow Instrument (Corrado, 2002) wurden 17 dichotome Risikofaktoren operationalisiert (siehe Abbildung 1). Differenziert (anhand der ursprünglichen Skalenwerte) betrachtet, unterschieden sich die beiden Gruppen jedoch nicht in allen Unteraspekten der dichotomen Risikofaktoren. So fanden sich keine Unterschiede im Unteraspekt Verhaltensprobleme mit Gleichaltrigen (Risikofaktor: Sozialisation mit Peers) und hinsichtlich Empathie (Risikofaktor: Persönlichkeit). Hinsichtlich des Risikofaktors Bindung unterschieden sich die beiden Gruppen lediglich in der Wichtigkeitseinstufung ihres Vaters. Obwohl sich Gewalttäter und Nicht-Gewalttäter im Risikofaktor Schule und Sozioökonomischer Status der Familie nicht signifikant unterschieden, hatten Nicht-Gewalttäter daheim mehr Bücher und stuften die Kohäsion an ihrer Schule als stärker ein. Gewalttäter (MW=4.50, s=2.85) wiesen mehr Risikofaktoren auf als Nicht-Gewalttäter (MW=2.06, s=1.88; ES=1.01). In Abbildung 3 sind die Anteile an Gewalttätern in Abhängigkeit von der Anzahl der vorliegenden Risikofaktoren dargestellt. In der Analysestichprobe der männlichen Neuntklässler lag der Anteil an Gewalttätern bei 20%. Ab drei Risikofaktoren lag der Gewalttäteranteil demnach über dem der Analysestichprobe. Abbildung 3. Anteil der Gewalttäter in Abhängigkeit von der Anzahl der vorhandenen Risikofaktoren. Abbildung 1. Bereichsspezifische Risikofaktoren des Cracow Instruments mit entsprechenden Unteraspekten sowie Definition eines Gewalttäters. Diskussion Nicht jeder Risikofaktor des Cracow Instruments erhöhte das Risiko für Gewaltdelikte signifikant bei männlichen Jugendlichen der neunten Klasse. Hinsichtlich der Unteraspekte fanden sich einige Variablen, die nicht ausreichend zwischen Gewalttätern und Nicht-Gewalttätern differenzierten. Durchschnittlich war die Risikoexposition der Gewalttäter um etwas mehr als zwei Risikofaktoren höher als die der Nicht-Gewalttäter. Ab drei Risikofaktoren lag der Anteil der Gewalttäter mit 22% über dem, der aufgrund der Verteilung in der Analysestichprobe zu erwarten war (20%). Um die Qualität der einbezogenen Risikofaktoren zu verbessern, müssen die nicht trennscharfen Items anhand einer Latent Class Analysis entfernt werden. Darüber hinaus sollen den Risikofaktoren im Sinne eines Rasch-Modells Schwierigkeitsindizes zugeordnet werden. Literatur (Auszug) Corrado, R. R. (2002). Multi-Problem Violent Youth. Amsterdam: IOS Press. Lipsey, M. W. & Derzon, J. H. (1998). Predictors of Violent or Serious Delinquency in Adolescence and Early Adulthood: A Synthesis of Longitudinal Research. In Rolf Loeber and David P. Farrington (Eds.), Serious & Violent Juvenile Offenders – Risk Factors and Successful Interventions, p. 86-105. California: SAGE Publications, Inc. Stouthamer-Loeber, M., Loeber, R., Wei, E., Farrington, D. P. & Wikström, P.-O. (2002). Risk and Promotive Effects in the Explanation of Persistent Serious Delinquency in Boys. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 70, 111-123.
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