Forensik in der Vernetzung Was brauchen entlassene Maßregelvollzugspatienten? Roland Freese Facharzt für Psychiatrie; Forensischer Psychiater (DGPPN) Ärztlicher Leiter der Forensischen Fachambulanz Hessen Ärztlicher Direktor der Forensischen Klinik Rheinblick 1 ANTWORT: Intensive Ambulante Nachsorge 2 Charakteristika der Klientel 1 Männer : Frauen (%) 92 : 8 Durchschnittsalter 36 2/3 Jahre mittlere Verweildauer, 63er ~ 4,5 Jahre 3 Charakteristika der Klientel 2 Hauptbehandlungsdiagnosen (hirn-)organische Störung Geistige Behinderung stationär 8,4% 8,0% ambulant 5,3% 10,8% Schizophrenie o.ä. affektive Psychose 40,0% 1,1% 53,8% 4,6% Persönlichkeitsstörung PST + Lernbehinderung Paraphilie Sucht sonstige o. keine Diagnose 21,5% 10,9% 3,6% 2,2% 4,4% 13,8% 6,2% 3,8% 1,7% 4 Charakteristika der Klientel 3 – Krankheitskarriere 1 Erkrankungsbeginn Krankheitsdauer o-36 Jahre > 16 Jahre hoher Anteil an comorbiden Störungen: ➪ Substanzmissbrauch ➪ Lernbehinderung ➪ dis-/antisoziale Persönlichkeitsstörung Suicidversuche (durchschnittlich 2.2 Versuche; range: 1-1o) 38% 5 Charakteristika der Klientel 4 – Krankheitskarriere 2 Voraufenthalte Allgemeinpsychiatrie (1x 24%; 2-5x 38%; >6x 38%) 75% ➪ freiwillig, nie BtG oder HFEG ➪ ≥ 1x BtG ➪ ≥ 1x HFEG ➪ vorwiegend Zwangseinweisungen 19% 1o% 71% !! 51% !! LZ-Patienten Typ II: viele, kurze, zwangsweise Aufenthalte 6 Charakteristika der Klientel 5 – biographische Eckdaten Kriminalität im Elternhaus erhebliche elterliche Gewalt elterlicher Alkoholmißbrauch 11 % 31 % 36 % Trennung von den Eltern bereits vor dem 5. Lebensjahr Heimaufenthalte bereits vor dem 5. Lebensjahr durchschnittliche Dauer 48 % ohne Hauptschulabschluß ohne abgeschlossene Berufsausbildung 24 % 8% 6,5 J. 25 % 55 % 65 % 7 Charakteristika der Klientel 6 – Delinquenz-/Dissozialitätskarriere Delinquenzbeginn Index-Delikt Delinquenzkarriere 24 1/3 Jahre 33 1/2 Jahre > 9 Jahre Indexdelikt unter Behandlung 28% Kinder- und Jugendkriminalität Einweisungsdelikt vor dem 21. Lj. Gewalt bei Einweisungsdelikt polytrope Vordelinquenz 30 % 26 % 90 % 67 % 8 Charakteristika der Klientel 7 – Indexdelinquenz stationär ambulant vollendete Tötung versuchte Tötung (gefährliche) Körperverletzung Sexualdelikt o. körperliche Gewalt Sexualdelikt m. körperlicher Gewalt Eigentumsdelikt o. Gewaltanwendung Eigentumsdelikt m. Gewaltanwendung (schwere) Brandstiftung sonstige (BtMG, StVO, Bedrohung etc.) 15,6% 12,0% 21,5% 2,9% 21,1% 3,6% 6,2% 12,7% 4,4% 13,1% 11,5% 24,6% 16,2% 3,8% 9,2% 11,5% 10,1% 9 Zwischenergebnis 1 MRV-Klientel weist eine Vielzahl an störungsbezogenen, psychosozialen und kriminologisch relevanten Risikofaktoren auf 10 Risikofaktoren - Störung hohes Maß an Chronifizierung (Typ II) geringe Krankheits- + Behandlungseinsicht schlechte Compliance hoher Anteil comorbider Störungen Impulsivität geringe Empathiefähigkeit 11 Risikofaktoren - Sozial schwere Sozialisationsdefizite Bildungsdefizite niedrige Sozialschicht wenige Sozialkontakte viele psychosoziale Belastungsfaktoren keine sozialkonforme Zukunftsplanung 12 Risikofaktoren - Kriminologie früher Delinquenzbeginn lange, polytrope Karriere gewalttätige Vordelinquenz Neigung zu aggressivem acting-out Dissozialität chronische Missachtung von Auflagen, Weisungen Unterlaufen von Vereinbarungen und “Spielregeln” 13 Delinquenzbedingende Merkmale (Jöckel & Müller-Isberner, 1993) Tätergebundene kriminogene Merkmale Sucht/Missbrauch Schwere biographische Schädigung Dissozialer Charakter Endogene Psychose Persönlichkeitsstörung Lernbehinderung/Minderbegabung Hirnschädigung Sexuelle Deviation/Paraphilie Kriminelle Identität 6o% 45% 42% 42% 4o% 31% 27% 18% 18% Exogene kriminogene Merkmale Psychosoziale Belastungsfaktoren Rauschmitteleinfluß bei Tat Induzierende Tatsituation Kriminelles Umfeld 94% 44% 8% 5% 14 Risikofaktoren - Literatur I Antisoziale Ansichten, Einstellungen, Gefühle und Peer-Kontakte Identifikation mit kriminellen, antisozialen RollenModellen und Werten Impulsivität Mangel an sozialen und zwischenmenschlichen Fähigkeiten Selbstschädigende Coping-Strategien Unfähigkeit, zu planen und konzeptionell zu denken 15 Risikofaktoren - Literatur II Unfähigkeit, Schwierigkeiten vorherzusehen und damit umzugehen Egozentrik Externalisierung von Verantwortung Konkretistisches, starres und zuweilen irrationales Denken Störungen von Selbstkontrolle und Problemlösungsfähigkeiten Substanzgebundene Abhängigkeiten 16 Risikofaktoren - Literatur III Zusätzlich bei Sexualstraftätern: Marshall, 1996; Marshall & Barbaree, 1998 Leugnung und Bagatellisierung Deviante sexuelle Phantasien Fehlende Empathie mit dem Opfer und seiner Verletztheit 17 Risikofaktoren - Literatur IV Zusätzlich bei Schizophrenen: Link et al. 1992; Monahan & Steadman, 1994; Swanson et al., 1994 Floride paranoide Symptomatik (TCO-symptoms) Fehlende Krankheits- und Behandlungseinsicht Schlechte Compliance Fehlen eines Hilfe gebenden psychosozialen Netzwerkes 18 Zwischenergebnis 2 Die stärksten Prädiktoren zukünftiger Gewalt und Rückfälligkeit sind nur schwer oder gar nicht zu extingieren (Hodgins, 2oo2) 19 Die Folgen: Ratlosigkeit… Hilflosigkeit… Resignation… 20 Der Ausweg: no cure but control (Laws, 1989) 21 Kontrollmechanismen I interne, intrapersonelle Mechanismen Einsicht in Störungs- und Deliktzyklen Vernunft: erst denken, dann handeln Empathie mit Dritten Orientierung an Normen und Werten 22 Kontrollmechanismen II externe Mechanismen soziale Kontrolle Reglementierung (z.B. gerichtlich) aufsuchende Nachsorge 23 Konzept des § 63 StGB MRV in Hessen STUFE 1 AUFNAHMESTATIONEN STUFE 2 SPEZIALSTATIONEN ⇓ > 14 Stationen mit innerer Differenzierung „Nicht therapierbare, hoch zu sichernde Patienten“ chronifizierte Psychotiker, gesichert, therapeutisch nicht/langfristig nicht/langfristig erreichbar chronifizierte Psychotiker, gesichert, therapeutisch mittelfristig mittelfristig erreichbar ⇓ STUFE 3 Haina + Gießen Hanau KfFPKfFP-R 1o.3 KfFPKfFP-R 1o.2 ENTLASSUNGSSTATIONEN 5 Stationen Entlassungsvorbereitung/Entlassungsvorbereitung/-erprobung Rehabilitation chronifizierte Psychotiker, (fakultativ) geschlossen, geschlossen, Südhessen Entlassungserprobung „Wohnheim“ Südhessen, (fakultativ geschlossen) geschlossen) Entlassungserprobung „Betreutes Wohnen“ Südhessen, offen ⇓ STUFE 4 Haina Haina + Gießen KfFPKfFP-R 1o.1 KfFPKfFP-R 5.1 KfFPKfFP-R 5.2 FORENSISCHE FACHAMBULANZ HESSEN Nordosthessen mit Dependance Schotten (ggf. ggf. Kassel) Kassel) Mittelhessen Südhessen Haina Gießen KfFPKfFP-R 24 Kriminaltherapie Stufe 4 Nachsorge (3)-5 (-??) Jahre bedingte Entlassung aus dem Maßregelvollzug unter Führungsaufsicht (Auflagen & Weisungen) 25 § 68b StGB Weisungen Das Gericht kann dem Verurteilten ... weitere Weisungen erteilen, namentlich solche, die sich auf Ausbildung, Arbeit, Freizeit, die Ordnung der wirtschaftlichen Verhältnisse oder die Erfüllung von Unterhaltspflichten beziehen („Ambulanzweisung“). 26 „Ambulanzweisung“ … dass der ehemals Untergebrachte „mit der Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie in Verbindung zu bleiben, die mit ihr vereinbarten Termine einzuhalten und sich, insbesondere in Krisen, von ihr beraten zu lassen und dabei stets offen über alle seine Probleme zu sprechen sowie dem jederzeitigen Austausch von Informationen über seinen Zustand zwischen der Ambulanz und anderen ihn betreuenden Personen zuzustimmen" habe 27 Forensische Fachambulanz Hessen (FFH) (Stand Mai 2oo3) Versorgungsgebiet Hessen Einwohner ~ 6.1oo.ooo Fläche 21.114 Km2 Entfernung N-S: 25o/O-W:175 Km 4oo Stationäre 63er Patienten Ambulanzprobanden >155 Ambulanzstandorte 4 1 : 11 Caseload, anerkannt Ambulanzteam 12,5 VK Ärzte (4); Psychologen (3); Pflegemitarbeiter (3); Sozialarbeiter (4) 28 Verweildauer und Wiederaufnahmen nicht entlaßbar 2o-33% mittlere Verweildauer, alle ~ 3,5 Jahre mittlere Verweildauer, 63er ~ 4,5 Jahre Wiederaufnahmequote (WA) ca. 23% WA-Quote (JVA) 4o-6o% 29 Effizienz - Wiederaufnahmen I Stichprobe 199o-2oo2 Nges N/anno % Gesamtzahl aller Klinikaufnahmen 15o4 115,7 347 26,7 23,1% davon Wiederaufn.(WA) 125 9,6 davon WA not at r!sk -------------------------------------------------------222 17,1 14,8% verbleiben WA at r!sk 30 Effizienz - Wiederaufnahmen II Stichprobe 199o-2oo2 Gründe einer Wiederaufnahme (N=222) Weisungsverstoß mit neuem Delikt (N=127) Ø Delikt (N= 95) ohne Ambulanzbetreuung (N= 131) mit Ambulanzbetreuung (N= 91) 19,1% N= 25 76,9% N= 7o 8o,9%*** N= 1o6 23,1% N= 21 31 Therapeutische Effektivität Aufgaben & Selbstverständnis I Arbeitsauftrag ist zwiespältig und komplex „...durch aktiv nachgehende, aufsuchende forensische Nachsorge Risikoeinschätzung und Prognosebildung; aber auch ein ausgewogenes Verhältnis an Kontrolle/Risikomanagement und effizienter modularer ambulanter Kriminaltherapie (MAK) anzubieten.“ 32 Therapeutische Effektivität Aufgaben & Selbstverständnis II Orientierung an 12 “Prinzipien”, u.a. Autorität - ACT shared Casemanagment Doppelmandat Kooperation Kommunikation Koordination 33 Therapeutische Effektivität Aufgaben & Selbstverständnis III oberstes Ziel der Ambulanzarbeit: frühestmögliche Überleitung der Probanden an allgemeinpsychiatrische, wohnortnahe Versorgungsstrukturen (Nervenärzte, Psychotherapeuten, Ambulanzen, WfBs, Tagesstätten, PSKBs etc.) kaum erreichbares Ideal: Transfer der Probanden in ein selbstbestimmtes, eigenständiges Leben 34 R!sk-Assessment 1 Exakte Kenntnis des Probanden Exakte Kenntnis des Entlassungssettings Erarbeitung der „Needs“ des Probanden Erarbeitung der „R!sks“ des Probanden Durchführung des „MAK-R!SK“ 35 R!sk-Assessment 2 Erstellen eines Alarmplans durch Team-Besprechung 36 R!sk-Assessment 3 Konkrete Festlegung des Betreuungssettings (9Ws) Erarbeitung des Betreuungsplanes 37 Prognosebildung STEP I jeder Kontakt muß als aller erstes die bestehende Risikoeinschätzung überprüfen 38 Prognosebildung STEP II Vorgehen zur Prognosebildung persönlichen Eindruck verschaffen Collateral-Bericht(e) einholen Orientierung im aktuellen Setting 39 Prognosebildung STEP III neue aktuelle Risikoeinschätzung und Kurzzeit-Prognose bis zum nächsten Routinetermin erstellen (wegen der unübersichtlichen „Gemengelagen“ draußen nie länger!) 40 Prognosebildung STEP IV ➪ bei Krise sofort stationäre Intervention 41 Prognosebildung STEP V ➪ im Zweifel sofort IntervallVerkürzung 42 Prognosebildung STEP VI ➪ im günstigen Fall: do what ever should/could be done 43 ➨ zu richten an: Roland Freese Fragen? ☺ Anmerkungen? ☺ Kritik? " Klinik für Forensische Psychiatrie Haina - FFH Hoher-Lohr-Weg 1o-11 D - 35114 HAINA (Kloster) FON/FAX: o6456-91-509/511 eMail: [email protected] o. Klinik für Forensische Psychiatrie Rheinblick Kloster-Eberbach-Str. 4 D - 65346 ELTVILLE FON/FAX: o6123-6o2-253/429 eMail: [email protected] 44
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