Protokoll - Literaturwissenschaft Online

Einführung in die Literaturwissenschaft
IX. Terminologie der Erzähl-Analyse
I. Einleitung
Goethe definiert das Epos als die »klar erzählende«1 Dichtkunst – klar insofern, als die Erzählung
von − vergangenen! − Ereignissen Zusammenhänge und Kausalität deutlich werden lässt, ohne von
Affekten getrübt zu werden.
Leitfrage ist: wer spricht? = von wem geht die Erzählung aus bzw. wer hat die Kontrolle?
Peter Handkes Don Juan (erzählt von ihm selbst) demonstriert die Wichtigkeit dieser Frage, gerade
weil sie nicht einfach zu beantworten ist (mehrere Optionen gehen durcheinander):
Don Juan war schon immer auf der Suche nach einem Zuhörer gewesen. In mir hat er den eines
schönen Tages gefunden. Seine Geschichte erzählte er mir nicht in der Ich-Form, sondern in der
dritten Person. So kommt sie mir jetzt jedenfalls in den Sinn.2
Von der Frage nach dem Erzähler hängt wesentlich auch die Glaubwürdigkeit des Erzählten ab
(handelt es sich um einen ›unreliable narrator‹?).
2. Leitdifferenzen
a) Autor vs. Erzähler
Selbst bei ›autobiografischen‹ Texten gilt es prinzipiell zwischen dem AUTOR (realer Mensch
außerhalb des Textes) und dem fiktionalen ERZÄHLER (abstrakte Instanz innerhalb des Textes) zu
unterscheiden.
b) histoire vs. discours
Unter ›histoire‹ ist der Stoff/Plot einer Geschichte zu verstehen (was sich nacherzählen lässt),
während ›discours‹ die ästhetisch ausgeformte Darstellung des jeweiligen Stoffes meint (die Art
und Weise des Erzählens). − Bei der Analyse des ›discours‹ sind vor allem die Zeitordnung und der
Erzählmodus von Bedeutung.
3.1. Zeitordnung
Die Analyse der Zeitordnung bezieht sich zunächst auf die Untersuchung des Tempus (bzw.- der
Tempora), in dem eine Geschichte erzählt wird (Präteritum/Präsens/Futur − einheitlich oder
abwechselnd). Darüber hinaus muss die Zeitordnung hinsichtlich der Chronologie des Erzählten
1
2
Johann Wolfgang Goethe: Naturformen der Dichtung. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe,
Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Friedmar Apel u.a.. Abteilung I: Sämtliche Werke.
Band. 3/1: West-Östlicher Divan. Herausgegeben von Hendrik Birus. Frankfurt am Main 1994 (Bibliothek
deutscher Klassiker 113), S. 206–208, hier: S. 206.
Peter Handke: Don Juan (erzählt von ihm selbst). Frankfurt am Main 2004, S. S. 7
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untersucht werden: Liegt eine chronologische (= natürliche) oder eine nichtchronologische (=
artifizielle) Darstellung vor?
3.2. Modus
Franz K. Stanzel unterscheidet in seiner in den 1960/70er und 1970er Jahren entstandenen
Erzähltheorie (Typische Formen des Romans, 1964; Theorie des Erzählens, 1978)
grundsätzlich drei Erzählsituationen:
− auktoriale Erzählsituation:
Er-Perspektive: Jemand erzählt allwissend die
Geschichte Anderer.
− Ich-Erzählsituation:
Erzählung in Ich-Form
− personale Erzählsituation:
Erzählung in der dritten Person, jedoch aus der
subjektiven Sicht erzählter Personen
Stanzels Kategorien gelten heute als überholt. Aktueller ist das durch Gérard Genette3 in der
französischen Literaturwissenschaft entwickelte und nachfolgend von Martinez/Scheffel4 für
die deutsche Literatur adaptierte Konzept der Narratologie. Die zugrundeliegenden
Zentralbegriffe sind Diegese (= erzählte Welt) und Diegesis (= dichterische Darstellung ›einer
Welt‹). Unterschieden werden hier 2 Erzählhaltungen (›wie‹ steht der Erzähler zum
Geschehen?), 2 Erzählebenen (von ›wo‹ aus wird erzählt?) sowie – daraus resultierend – vier
Erzählertypen:
Erzählhaltungen:
a) homodiegetisch:
Erzähler und Geschichte gehören zur selben Welt
b) heterodiegetisch:
Erzähler und Geschichte gehören nicht zur selben Welt
Erzählebenen:
a) extradiegetisch (›erste Stufe‹):
eine Geschichte wird erzählt
b) intradiegetisch (›zweite Stufe‹):
in einer Erzählung wird erzählt
Erzählertypen:
3
4
Gérard Genette: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. München 1998.
Matias Martinez / Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 1999.
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a) extradiegetisch-heterodiegetisch: Erzähler ›erster Stufe‹, der in seiner Geschichte nicht
auftritt.
Bsp.: Journalist erzählt, wie Angela Merkel zum zweiten
Mal als Bundeskanzlerin vereidigt wurde
b) extradiegetisch-homodiegetisch:
Erzähler ›erster Stufe‹, der in seiner eigenen Geschichte
erscheint
Bsp.: Angela Merkel erzählt, wie sie als Bundeskanzlerin
vereidigt wurde
c) intradiegetisch-heterodiegetisch: Erzähler ›zweiter Stufe‹, der in seiner Geschichte nicht
auftritt)
Bsp.: Journalist erzählt, wie Angela Merkel am Abend
erzählt hat, wie sie als Bundeskanzlerin vereidigt wurde
d) intradiegetisch-homodiegetisch:
(Erzähler ›zweiter Stufe‹, der seine eigene Geschichte
erzählt)
Beispiel: Angela Merkel erzählt, wie sie einem Journalisten
erzählt hat, wie sie als Bundeskanzlerin vereidigt wurde
Die Kategorie der Fokalisierung beschreibt zusätzlich, aus welcher Sicht erzählt wird:
1) Nullfokalisierung:
Erzähler > Figuren (›Übersicht‹: Erzähler sagt mehr, als die
Figuren wissen)
2) Interne Fokalisierung:
Erzähler ≈ Figuren (›Mitsicht‹: Erzähler sagt, was die
Figuren wissen)
3) Externe Fokalisierung:
Erzähler < Figuren (›Außensicht‹: Erzähler sagt weniger als
die Figuren wissen)
Martinez/Scheffel führen als weitere Kategorie die Differenz ›faktual‹ ↔ ›fiktional‹ an. Da aber
prinzipiell jedes Erzählen ›fiktiv‹ ist, bleibt diese Unterscheidung problematisch, sodass die
alternative Unterscheidung ›fremdreferenziell‹ ↔ ›selbstreferenziell‹ leistungsfähiger ist (bezieht
sich ein Text auf eine Wirklichkeit außerhalb dieses Textes oder auf sich selber?)
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