SWR2 Wissen

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
Schwerpunkt "Lange Nacht der Tunnel"
SWR2 Wissen
Die alte Gotthard-Bahn
Eine Region wird abgehängt
Von Helmut Frei
Sendung: Freitag, 27. Mai 2016
Redaktion: Udo Zindel
Regie: Maria Ohmer
Produktion: SWR 2016
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MANUSKRIPT
Musikakzent
Erzähler:
Erstfeld am nördlichen Fuß der berühmten, alten Gotthardbahn. Die Strecke galt
nicht nur als eine der wichtigsten Verbindungen über die Alpen, sie war auch
Herzstück des Landverkehrs zwischen Nordsee und Mittelmeer. Davon profitierte
Erstfeld. Das Provinznest wuchs zu einem in ganz Europa bekannten Bahnknoten
heran, mit betriebstechnischen Einrichtungen wie Lokdepot und Rangierbahnhof. Die
haben nun ausgedient. Denn künftig rollen die schnellen Personen- und schweren
Güterzüge nicht mehr auf steiler Strecke über das Gebirge, sondern auf flacher
Trasse unten durch. Die Gotthardlinie über den Berg degradiert zur Regionalbahn
und Ausweichstrecke für Notfälle.
Ansage:
Die alte Gotthard-Bahn – Eine Region wird abgehängt. Eine Sendung von Helmut
Frei.
Erzähler:
Katzenjammer in Erstfeld, wo sich nur einen starken Kilometer vom alten Bahnhof
entfernt das Nordportal des neuen Gotthard-Basistunnels befindet. Enttäuschung
auch drüben, in der Südschweizer Gemeinde Bodio. Dort kommt die neue
Untergrundbahn wieder ans Tageslicht. Die alte Strecke "oben drüber" war 84
Kilometer lang, der Basistunnel "unten durch" misst nur noch 57 Kilometer. Überall
an der traditionsreichen Bahnlinie flackern Erinnerungen auf. Auch bei Eisenbahnern
wie Charly Infanger. Die Gotthardstrecke ist ihm als Lokführer vertraut. Er kennt jede
Kurve und auch die heiklen Stellen, wo vor allem bei schweren Güterzügen sein
Können als Lokführer gefragt war:
Atmo:
Güterzug
Charly Infanger:
Grade nach Erstfeld hat es eine Stelle gegeben, die nannten wir Kupplungsfriedhof.
Zuerst ist es steil, und dann geht´s in den flachen Teil über und wenn man dann nicht
aufgepasst hat, hat die Lok einfach weitergezogen. Und die schwere Last war immer
noch im Gefälle oder in der Steigung drinnen und dann hat es viele Zugstrennungen
gegeben. Ich hab immer gesagt, einfach einen Zug über den Berg zu führen, das ist
problemlos eigentlich. Aber wirklich gut zu fahren, das war eine Kunst.
Erzähler:
Charly Infanger hat sich entschieden, in die Führerstände von S-Bahn-Zügen im
Großraum Zürich umzusteigen. Dennoch engagiert er sich nach wie vor in einem
Verein, der historische Eisenbahnfahrzeuge erhält. Sie waren einst am Gotthard
unterwegs und sind jetzt in den Hallen neben dem Erstfelder Bahnhof untergebracht.
Charly Infanger:
Zum Beispiel waren wir damals 250 Lokführer und heut sind wir schätzungsweise
vielleicht 30, 35. Und Mitte Jahr ist auch das fertig. Der Großteil von Erstfeld war
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irgendwie mit der SBB verflochten. Sei es als Lokführer, Heizer, Bremser damals,
auch im Rangierdienst. Und jetzt ist es einfach vorbei.
Atmo:
Lok fährt ins Depot
Erzähler:
Die Eisenbahn bestimmte das Leben in der Gemeinde Erstfeld. Ihrem Personal
verdankte sie Einrichtungen wie die Musikgesellschaft, eine Bibliothek und die
Gründung einer evangelischen Pfarrei in stockkatholischer Umgebung. Entlang der
zentralen Gotthardstraße schossen Gaststätten wie Pilze aus dem Boden. Die
meisten hatten ihre Stammgäste. In der einen Kneipe trafen sich die Bremser, in
einer anderen die Angestellten der Station Erstfeld. Auch die Beschäftigten des
Depots hatten ihr bevorzugtes Lokal. Das Rangierpersonal kam in der Gaststätte
"Frohsinn" zusammen. Später baute Paul Jans sie zum Hotel für Eisenbahnfreunde
aus. Schweizer nennen die Begeisterung für Rad und Schiene ganz unschuldig
"Bahnsex":
Paul Jan:
Wir hatten Gäste aus zehn verschiedenen Nationen und hatten vor allem
Amerikaner, Kanadier, Deutsche. Da kamen zum Beispiel Firma Sedok aus Prag,
haben immer fünf Gruppen gebucht. Die kamen immer mit dem Zug, sind drei bis vier
Tage geblieben, je nach Programm. Ich konnte einem Deutschen kaum ein Zimmer
Richtung Bahnseite verkaufen. Hingegen die Engländer wollten immer bahnseitig die
Zimmer. Also ich hatte immer zu wenig Zimmer Richtung Eisenbahn.
Musikakzent
Atmo:
Billard in der Kantine
Erzähler:
Flaute in der Kantine von Amsteg, wenige Kilometer von Erstfeld und dem Nordportal
des Gotthard-Basistunnels. Zwei Arbeiter vertreiben sich ihre Pause mit einer
Billardpartie. Den Speisesaal für die Malocher, in dem es früher nach Schweiß,
Maschinenöl und feuchtem Staub aus dem Tunnel roch, nutzt heute eine
Rentnerrunde für ihren Stammtisch. Die Herrschaften müssen sich nach einer neuen
Bleibe umschauen, weil die Tage der Amsteger Kantine gezählt sind und auch die
Betriebsamkeit auf der berühmten Gotthardstrecke zu Ende geht:
Elisabeth Tresch:
Da werden uns die eleganten Züge fehlen. Die gehen dann durchs Tunnel. Je nach
dem Klang weiß man: ist es ein Italiener, ist es ein Deutscher oder ein Schweizer.
Erzähler:
Elisabeth Tresch von der Rentnerrunde. Sie verkaufte ihr Hotel, das mitten in Amsteg
liegt und zu den traditionsreichsten Herbergen der Schweiz zählt. Schon Goethe
logierte dort. In der heißen Phase, als die Tunnelbohrmaschinen von Süd und Nord
in den Berg vorrückten, buchten Gäste wohl oder übel auch renovierungsbedürftige
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Zimmer. Inzwischen sind die geschäftlichen Gründe für Elisabeth Treschs
Eisenbahnliebe etwas überholt. Sie bevorzugt den Bus.
Elisabeth Tresch:
Früher mussten wir 20 Minuten auf die Bahnstation laufen. Und jetzt haben wir sie
praktisch vor dem Haus.
Musikakzent
Erzähler:
Bei Amsteg ist das Tal des Flusses Reuss, der im Gotthard-Massiv entspringt, schon
ziemlich eng geworden. Eisenbahn, Autobahn und eine gut ausgebaute
Verbindungstraße zwischen den Ortschaften haben sich dort breit gemacht. Südlich
von Amsteg beginnt einer der spektakulärsten Abschnitte der alten Gotthardbahn.
Die Züge klettern hinauf zum Dorf Wassen. Auf mehreren Etagen umkreisen sie die
Kirche des Ortes, die auf einer auskragenden Bergflanke steht. Dreimal öffnet sich
den Reisenden der Blick auf das Postkartenmotiv. Trügerische Idylle. Der
Bevölkerungsrückgang droht an die Substanz dörflichen Lebens zu gehen. 1960
hatte Wassen fast 900 Einwohner, heute sind es nur noch knapp halb so viele. Am
Bahnhof hält längst kein Zug mehr zum Ein- und Aussteigen. Busse haben die
Eisenbahn auch hier ersetzt.
Kirstin Schnider:
Es ist ganz schlecht, von hier mit dem Bus den Anschluss von hier auf den Zug nach
Lugano zu kriegen. Die Fahrpläne sind nicht aufeinander abgestimmt. Da geh ich
davon aus, dass die gefunden haben, es lohnt sich überhaupt nicht darauf zu achten.
Da fährt alles unten durch an uns vorbei und wir stehen dumm da.
Erzähler:
Kirstin Schnider, ehrenamtliche Gemeindepräsidentin des Dorfes Wassen. Im
Hauptberuf ist sie Schriftstellerin. Die Liebe habe sie aus Zürich nach Wassen
gezogen, aus der kleinsten Metropole der Welt ins Bergdorf, umzingelt von
Verkehrsachsen. Dennoch ist Kirstin Schnider froh, dass sich ihre Landsleute in einer
Volksabstimmung Ende Februar dieses Jahres für den Bau einer zweiten Röhre des
Gotthard-Straßentunnels entschieden. Sie votierten nicht dagegen wie die ökologisch
orientierte Alpeninitiative:
Kirstin Schnider:
Es ist einfach so, dass mich die Städter, die so vehement gegen diese zweite Röhre
sind, manchmal nerven, weil ich ganz genau weiß, wieviel es zu konsumieren gibt in
den Städten, dass dieses Zeug einfach nicht vom Himmel fällt, sondern unter
Umständen über den Gotthard und genau über Lastwagen zu uns kommt. Wenn ich
die Traube auf dem Tisch haben will, gibt´s immer noch ein Auto, das da in die Nähe
fahren muss.
Atmo:
Morgenstreich
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Erzähler:
Über Nacht hat es geschneit. Und kalt ist es geworden an diesem Schmutzigen
Donnerstag, mit dem die Fasnacht in Wassen auf ihren Höhepunkt zusteuert. Das
Dorf wie in Watte gepackt. Beim Gemeindehaus, das auch die Räumlichkeiten der
kleinen Gemeindeverwaltung beherbergt, sammeln sich kostümierte Männer und
Frauen. Um vier Uhr morgens setzt sich ihre kleine Musikkappelle zum
"Morgenstreich" in Bewegung. Manche Musikanten sind schon Jahrzehnte dabei.
Fasnacht in Wassen ist kein Event für Touristen. Weder draußen auf der Straße, wo
das Leben fast normal weitergeht, noch drinnen im Gasthaus, wo sich die Bläser,
Trommler und andere Fasnachter bei der traditionellen Mehlsuppe aufwärmen.
Atmo:
Gasthaus
Erzähler:
Bei Suppe und Bier diskutiert eine Männerrunde über Politik. Dabei spielt auch die
Eröffnung des Gotthard-Basistunnels eine Rolle. Einst schien der Funke der
Begeisterung für das Mammutprojekt aus den Ballungsgebieten der Schweiz auch
auf die Bergregion am Gotthard überzuspringen. Mittlerweile ist davon nicht mehr viel
zu spüren in Wassen. Stattdessen Enttäuschung. Felix Baumann stammt aus dem
Bergdorf und arbeitet beim regionalen Elektrizitätswerk.
Felix Baumann:
Man hat es uns vor dreißig Jahren verkauft als Korridor für den Schwerverkehr. Und
jetzt ist es fertig und der Schwerverkehr läuft genau gleich weiter auf der Straße. Und
jetzt wird es nur noch verkauft als schneller Personentransport durch den Gotthard.
Also auch wir in der Schweiz werden von den Regierungen verarscht.
Musikakzent
Erzähler:
Einer, der sich mit dem Straßenverkehr über den Gotthard schon aus beruflichen
Gründen arrangiert hat, ist der Koch Damian Fry. Er hat ein kleines Hotel am
nördlichen Dorfeingang von Wassen gepachtet und zu einer respektablen
gastronomischen Adresse ausgebaut. Der Weg über den Gotthard sei schon immer
eine Achse des Kulturtransfers gewesen, sagt der Koch, und erzählt eine kleine
Geschichte. Darin geht es um ein Kirchlein aus der Gegend und um Säumer. Säumer
waren Transporteure, die lange vor der Motorisierung die verschiedensten Güter
über die Alpen schleppten.
Damian Frey:
D´Säumer sind von Norddütschland, von Holland sind die bis auf Italien do dure und
hend eigentlich immer wieder War mitbrocht…
Erzähler:
Darunter eine Wandfarbe, die Fachleute bei der Restaurierung einer mittelalterlichen
Kapelle in der Nähe von Wassen entdeckten. Sie sei erst wenige Jahre, bevor sie am
Gotthard verwendet wurde, in Hamburg auf den Markt gekommen. Die
Gotthardregion – ein Scharnier zwischen den Welten. Ob sie auch künftig diese Rolle
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spielen kann, diese Frage beschäftigt Heidi Zgraggen seit langem. Sie ist Mitglied
Regierung des Kantons Uri, zu dem Wassen gehört. Das kleine Land am Gotthard
habe seit jeher vom Transitverkehr gelebt:
Heidi Zgraggen:
Zuerst waren es die Säumer, dann kommt die Postkutsche, die Eisenbahn, die
Autobahn. Und was jetzt neu ist, ist, dass diese internationale Transitachse,
zumindest was die Eisenbahn betrifft, nicht mehr an diesem Puls des Transits ist. Mit
Vorteilen: Lärmbelastung beipielsweise. Nachteil vielleicht oder auch ein bisschen
Wehmut: Man sieht dann diese internationalen Züge nicht mehr von Mailand oder
eben von Zürich. Das ist an sich etwas Schönes, wenn man da in der Nacht diese
beleuchteten Züge sieht. Und das wird wegfallen.
Atmo:
ICN fährt
Erzähler:
Es kommt selten vor, dass hat einer der windschnittgen Schnellzüge, die zwischen
Zürich und Lugano pendeln, in Göschenen hält. Aber es kommt vor. Sobald er wieder
abgefahren ist, fällt der Bahnhof zurück in den Schlafmodus:
Atmo:
Bistro
Erzähler:
Was draußen auf den Gleisen geschieht, nehmen die Besucher des Bistros im
Göschener Bahnhofsgebäude allenfalls nebenbei wahr. Wohnzimmergroß der
Gastraum, das Angebot an Ess- und Trinkbarem überschaubar. Einige Reisende
überbrücken die Wartezeit auf ihren Anschlusszug im Bistro. Sie sitzen auf
Plastikstühlen an billigen Tischen. Das ist also vom Bahnhofsbuffet in Göschenen
übrig geblieben. Es war einmal eine Institution, sagt Bernadette Senn. Seit mehr als
vierzig Jahren arbeitet sie hier:
Bernadette Senn:
Die Leute hatten nicht lang zum Umsteigen, mussten sie schon wieder auf den
Schnellzug gehen. Vom Wallis und vom Bündnerland sind sie gekommen mit dem
Zug und sind da wieder auf den Schnellzug nach Zürich und Bern und Basel. Wir
hatten eine große Speisekarte und all Tag zwei Menü, oder - drei sogar. S´Erste
Klasse is weiß gedeckt gewesen und Stoffservietten und wir haben auch
Polsterstühle gehabt, Erst Klass, vorne waren nur Holzstühle – und des macht´s
schon aus.
Erzähler:
Auch Automobilisten, die mit ihren Fahrzeugen den Gotthard-Eisenbahntunnel
huckepack per Zug passierten, schätzten dieses "Bahnhofsbuffet". Als 1980 der
Gotthard-Straßentunnel in Betrieb ging, kam das Aus für den sogenannten
Autoverlad und es begann der Abstieg nicht nur des Göschener Bahnhofs.
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Bernadette Senn:
Im Dorf sind die Wirtschaften zugegangen. Wir haben keinen Geldautomaten nicht,
wir haben keine Post mehr. Es haben einmal über 50 Personen da auf dem Bahnhof
gearbeitet. Und die haben Mittagszeit gehabt und sind essen gekommen und nach
einer Stunde wieder zur Arbeit gegangen. Und mein Mann ist jetzt der letzte
gewesen, wo pensioniert worden ist da - als Rangierarbeiter.
Musikakzent
Atmo:
Zug im Gotthard-Tunnel
Erzähler:
Gerade einmal sechzehn Minuten dauert die Fahrt mit dem Zug von Göschenen
nach Airolo, knapp 15 Minuten davon im Gotthard-Scheiteltunnel, der 1882 feierlich
eröffnet wurde. Verglichen mit den dauerbeleuchten Röhren des neuen Basistunnels
wirkt er beängstigend dunkel, wie ein Denkmal frühtechnischer Zeit. An den Fenstern
der Waggons huscht die schrundige Betonhülle vorbei, gelegentlich unterbrochen
von Nischen. Dort können sich Bahnpersonal und Bauleute in Sicherheit bringen,
wenn ein Zug vorbeidonnert. Kurz vor Erreichen des Bahnhofs Airolo passieren die
Züge den Scheitelpunkt der Gotthardstrecke auf 1.151 Metern überm Meer. Er
markiert auch eine Wasserscheide. Richtung Norden über Reuss und Rhein in die
Nordsee, Richtung Süden über Ticino und Po ins Mittelmeer. Der metallene
Singsang der Eisenbahn, der in der Röhre widerhallt, wiegt manche Fahrgäste in
einen Dämmerschlaf, der vom Kreischen der Bremsen unterbrochen wird.
Atmo:
Zug im Gotthard-Tunnel, Ansage "Airolo"
Erzähler:
Gleich beim Bahnhof das Hotel Forni.
Marzio Forni:
Der Betrieb existiert schon seit der Eröffnung vom Eisenbahntunnel und unsere
Familie führt das seit hundert Jahren. Als der Eisenbahntunnel gekommen ist, dann
sind verschiedene Betriebe entstanden, und dann später auch vom Tourismus vor
allem aus Mailand.
Erzähler:
Nicht nur Hoteliers und Gastwirte aus Airolo, sondern auch Handwerker und
Baufirmen der Region setzen auf den beschlossenen Bau einer zweiten Röhre für
den Gotthard-Straßentunnel und die Sanierung der bestehenden. Einen
wirtschaftlichen Schub brauche Airolo dringend, sagt der Hotelier Mario Forni – wie
vor 36 Jahren, als der Straßentunnel eröffnet wurde.
Marzio Forni:
Als Kind haben wir geholfen, als es den Autoverlad gleich vor dem Hotel gehabt hat.
Wir haben da einen Stand gehabt, Sandwich und Getränke an Leute, die da
gestanden sind in der Kolonne. Wir haben Benzin verkauft. Und dann ist der
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Gotthard-Tunnel für die Autos gekommen. Dann war dieses Geschäft weg, aber man
hatte ein anderes Geschäft. Und die Gäste sind aus der Autobahn gekommen zum
Übernachten. Und wir haben Gäste, die sind zum 70. Mal bei uns. Die waren schon
vor 30 Jahren da. Immer für eine Nacht auf die Durchreise zwischen Belgien und
Italien.
Erzähler:
Trotzdem sehen Marzio Forni und seine Frau Hanni keine Chance mehr, ihr Hotel
weiterzuführen. Ihnen geht es wie vielen anderen Mittelständlern. Sie wissen nicht,
welchen Spielraum ihnen mächtige Investoren wie Samih Sawiris lassen. Der
steinreiche Ägypter ist wild entschlossen, unweit von Airolo und Göschenen ein
exklusives Hoteldorf mit einem angeschlossenen riesigen Ski-Zirkus aus dem Boden
zu stampfen. Hanni Forni hat sich damit abgefunden, dass Sohn und Tochter da
nicht mit einem kleinen, in der vierten Generation familiengeführten Hotel in den Ring
steigen möchten.
Musikakzent
Erzähler:
Mit knapp 1.600 Einwohnern ist Airolo eine der größeren Gemeinden in der Oberen
Leventina. Der Anschluss an die alte Gotthardstrecke bescherte dem Ort einen nicht
vorhersehbaren wirtschaftlichen Aufschwung, nicht nur durch Werkstätten und die
Anlagen der Gotthardbahn. Airolo gilt als erster Skiort im Tessin. Die Entwicklung
begann schon, während der Scheiteltunnel entstand. Sie setzte sich den 20er-Jahren
und mit der Erschließung der nahen Berge durch erste Liftanlagen fort. Airolo wurde
zum Wintersportort, der nicht zuletzt bei Touristen aus der italienischen Metropole
Mailand beliebt war. Sie konnten Airolo nun direkt mit dem Zug erreichen. Die
Ingenieure und Jünger des technischen Fortschritts ließen sich nicht von den
Protesten der Bergbauern auf beiden Seiten des Tunnels beindrucken. Bergbauern
aus Airolo fürchteten um ihre Arbeit in den langen Wintern, wenn der Hunger in ihren
Höfen Einzug hielt. Um sich und ihren Familien wenigstens das Überleben zu
sichern, verdingten sie sich für Schneeräumarbeiten an der alten Passstraße über
den Gotthard. Sie stampften den Schnee, damit Fuhrwerke den Pass benützen
konnten, erzählt Livio Lombardi, ein Landwirt und Unternehmer aus Airolo. Von der
Eisenbahn fühlten sich die Bergbauern existenziell bedroht, weil man sie nicht mehr
brauchte.
Atmo:
Glocken in Airolo
Erzähler:
Mittagszeit in Airolo. Am sonnigen Hang Gärten zwischen locker bebauten
Häuserzeilen. Eine lange Treppenflucht vom Bahnhof direkt hinauf ins Zentrum. Der
Ort hat sich weder als adrettes Touristendorf herausgeputzt, noch wirkt er wie eine
sterbende Gemeinde. Airolo lebt. In einem bahnhofsnahen Neubau hat sich die
Filiale einer Supermarktkette niedergelassen. Es gibt einige Läden und Werkstätten,
mehrere Cafés und sogar eine Bar.
Atmo:
Einfahrt eines Zuges in Airolo, Ansage
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Erzähler:
Neues hat sich am Bahnhof von Airolo getan. Die Molkerei "Muuh" ist ins ehemalige
Bahnhofsrestaurant eingezogen. Livio Lombardi hat den Betrieb gegründet. Er und
sein Sohn lassen dort Joghurt verschiedener Geschmacksrichtungen herstellen. Sie
beliefern nicht nur Supermärkte des Schweizer Einzelhandelsriesen Migros, sondern
auch Abnehmer in Russland. Eingefädelt hat das Geschäft ein einflussreicher und
nicht unumstrittener Tessiner Politiker namens Filioppo Lombardi, ein Strippenzieher
aus dem Lombardi-Clan, der im Tessin sehr einflussreich ist.
Musikakzent
Erzähler:
Der Winter hat doch noch die obere Leventina erobert. Wenige Kilometer talwärts
von Airolo kann sich der Schnee nur kurze Zeit halten. Bei Ambri-Piotta ein Stück
Schweiz, wie es nicht im Bilderbuch steht. Ein unansehnliches Dorf am südlichen
Abschnitt der Gotthardstrecke, im breiten, in der schneelosen Zeit zwischen Winter
und Frühling trostlos wirkenden Tal des Ticino. Es scheint aus lieblos hingestreuten
Häusern zu bestehen, die sich um eine riesige Halle mit tonnenförmigem Dach
scharen.
In der Halle finden die Heimspiele des örtlichen Eishockeyclubs statt. Er entstand
1937 als Dorfverein und spielte sich bis in die Schweizer Nationalliga hoch.
Hauptquartier des Clubs ist der Bahnhof, wo nur noch ganz wenige Züge halten. Ein
Stab von Mitarbeitern kümmert sich um Fanclubs und Werbung, managt Umsätze in
der Größe eines mittelständischen Unternehmens. Der Eissportverein Ambri-Piotta
wuchs mit den Jahren zu einem der wichtigsten Arbeitgeber im nördlichen Teil des
Tessins heran. Und Filippo Lombardi ließ sich zum Präsidenten dieses Clubs wählen.
Inzwischen ist klar, warum.
O-Ton:
Der Ständerat Filippo Lombardi – der ist auch ein Cousin hier aus der Region, der
hat schon Kontakte genommen mit einer Gruppe aus Russland. Und die wollen eben
hier in Ambri-Piotta, wo diese Eishockeymannschaft – der ist Präsident vom
Eishockey-Club Ambri-Piotta- ein neues Stadion und Anlagen für andere
Möglichkeiten.
Musikakzent
Atmo:
Güterzug
Erzähler:
Ein Containerzug auf dem Weg von Köln ins Umland von Mailand. Bald wird man
diese Güterzüge auf der Bergstrecke am Gotthard nur noch selten sehen. Das Elend
dieser Landschaft auf dem Abstellgleis, das so gar nicht zum Bild der adretten
Schweiz passt, offenbart sich auch in Faido, der Bezirkshauptstadt der oberen
Leventina. Direkt beim Bahnhof zwei Hotelanlagen im Jugendstil. Mit prächtigen
Sälen, Wintergarten und ungepflegten Palmen und verlotterten parkartigen Gärten.
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Eine Szene wie aus einer Kulissenstadt, der Filmleute fluchtartig den Rücken gekehrt
haben.
Mittlerweile sollen sich Geldmagnaten aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion
dafür interessieren. Sie zählen auf politischen Beistand, der den Arbeitern des
Stahlwerkes Monteforno versagt blieb.1995 machte ihre Fabrik dicht. Bis heute sind
die von Gras und Büschen überwucherten Schienen des werkseigenen
Güterbahnhofs zu sehen. In seinen besten Zeiten zählte das damals größte
Industrieunternehmen des Tessins 1.750 Beschäftigte. Sein Hauptquartier hatte es in
Bodio. Dort liegt heute das Südportal des 57 Kilometer langen GotthardBasistunnels.
Atmo:
Faido, Brauerei
Erzähler:
Wer auf den morbiden Charme verflossener Hotel-Herrlichkeit steht, mag in Faido
auf seine Kosten kommen. Aber der Ort hat auch seine schönen Ecken. Der
Marktplatz macht einen hübschen kleinstädtischen Eindruck. Etwas entfernt davon
sind in einem der alten Häuser an der Kantonalstraße, die mitten durch Faido führt,
Getränkelager und Büro der kleinen Brauerei San Gottardo untergebracht. Hier sind
die Wege kurz, ist der Pioniergeist zu spüren, mit dem Lorenzo Mottini sie vor einigen
Jahren gründete. Er wollte sich nicht damit abfinden, dass einige namhafte
Brauereien im italienisch-sprachigen Südkanton der Schweiz von Deutschschweizer
Großbetrieben aufgekauft wurden. Doch Gottardo-Bier war zu schnell gewachsen
und drohte in den Bankrott zu schlittern. Lorenzo Mottini bleibt zuversichtlich –
demonstrativ.
Lorenzo Mottini, darüber Übersetzer:
Für unser traditionelles Lagerbier verwenden wir bayerischen Hopfen. Für unsere
Spezialität, ein ungefiltertes Bier, dagegen, eine Hopfensorte aus der Schweiz.
Erzähler:
Natürlich wird der Hopfen nicht per Bahn angeliefert und auch das im Schweizer
Klosterdorf Einsiedeln erzeugte Gottardo-Bier erreicht das zentrale Depot in Faido
nicht mit dem Zug über die Gotthard-Strecke der Bahn, sondern per LKW auf der
Straße. Trotzdem baut Lorenzo Mottini darauf, dass sich mit dem neuen GotthardBasistunnel der Tourismus belebt. Sozusagen als Nebenprodukt des schnelleren
Transits durch das Gotthardmassiv.
Lorenzo Mottini, darüber Übersetzer:
Der Transitverkehr bringt Vor- und Nachteile. Ein Vorteil ist, dass noch mehr
Menschen noch schneller ins Tessin kommen. Allerdings besteht auch die Gefahr,
dass Randzonen touristisch abgehängt werden. Deshalb glaube ich, dass es wichtig
wäre, die Zeit zu nutzen und auch die Leventina-Strecke mit politischer
Unterstützung noch weiter touristisch zu erschließen.
Erzähler:
Bei Bodio fädeln sich die Züge durch den Gotthard-Basistunnel wieder in die Trasse
der alten Strecke über das Gebirge ein. Wie zwei Pfeile aus der Unterwelt schieben
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sich die beiden Röhren des aus Beton geformten Südportals in das hier schon
geweitete Tal. Winterharte Palmen in Gärten und auf Plätzen. Der Süden lässt
grüßen. Die gefeierte "neue Alpentransversale Gotthard" macht die Gegend nun
auch hier vollends zum Verkehrskorridor. Er endet auf Schweizer Seite in der
Grenzstadt Chiasso. In ihrem von Straßen und Schienen durchzogenen Zentrum
erscheint sie wie der leibhaftig gewordene Horror des modernen Transitverkehrs.
Claudio Moro weiß das. Er war Bürgermeister von Chiasso und beschönigt nichts.
Die Stadt ist ein Verkehrs- und Handelszentrum. Sie sei um den Bahnhof herum
entstanden und verdanke ihren Wohlstand und Aufschwung der alten Gotthardbahn,
sagt Claudio Moro. Sein Vater zog nach Chiasso, um dort bei der Bahn zu arbeiten.
Die Gleisanlagen beanspruchen ein Drittel des Stadtgebiets. Chiasso ist ein
Knotenpunkt zwischen Nord und Süd, Nordsee und Mittelmeer, zwischen Zürich und
Mailand. Die beiden Metropolen sind die Fixsterne für viele Handels- und
Transportunternehmen, die in Chiasso ansässig sind. Der neue Gotthard-Basistunnel
wird sie einander noch näher bringen. Davon ist Claudio Moro überzeugt. Aber was
geschieht mit dem Raum dazwischen, vor allem mit den kleinen Berggemeinden des
Tessins, die nicht profitieren vom Gotthard-Basistunnel?
Musikakzent
Claudio Moro:
Wir waren in der Vergangenheit und wir bleiben immer noch eine Peripherie
grundsätzlich. Peripherie von Mailand und Peripherie von Zürich.
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