Autofiktionales Erzählen in der Frühen Neuzeit Dieter MARTIN (Freiburg Uni) Hinter dem Titel meines Beitrags sollte ein Fragezeichen stehen: Kann es in der Frühen Neuzeit, im 16. und 17. Jahrhundert, schon so etwas wie Autofiktionales Erzählen‹ geben? Die Voraussetzungen dafür scheinen nicht allzu günstig zu sein. Denn in der Epoche der Frühen Neuzeit war noch nicht einmal die Autobiographie recht etabliert. Die große Zeit des autobiographischen Erzählens, in der selbstbewusste Individuen wie Rousseau und Goethe ihren Lebensweg rückblickend mit Sinn erfüllen, lag noch in der Zukunft. Zudem wird kontrovers diskutiert, ob die Frühe Neuzeit schon wusste, was ›Fiktionalität‹ sei. Aus den wenigen fiktionstheoretisch ergiebigen Quellen der Zeit kann man zwar schließen, dass Autoren und Leser einigermaßen genau zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen unterschieden haben. Wie weit sie aber bereits ein Konzept von ›Fiktionalität im Kopf hatten, ob sie gar schon mit der Möglichkeit‹ ästhetischer Autonomie rechneten, ist fraglich.1) Vorsicht ist also angesagt, wenn hier nach ›Autofiktion‹ in der Frühen Neuzeit gefragt wird. Es kann sicher nicht darum gehen, Barockautoren zu Kronzeugen für ein dezidiert modernes theoretisches Konzept zu erklären. Das wäre in der Tat anachronistisch. Aber vielleicht lassen sich mit dem aktuellen Ansatz der ›Autofiktionalität‹ doch spezifische Merkmale einer Literatur beschreiben, für die das goethezeitliche Kriterium ›ästhetischer Autonomie noch kein geeigneter Maßstab ist. Und vielleicht, so die weitere Überlegung, zeigen sich so erstaunliche Affinitäten zwischen Früher Neuzeit und Moderne – sind 1) Vgl. zuletzt den Artikel von Tilmann Köppe: Fiktionalität in der Neuzeit. In: Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hrsg. von Tobias Klauk und Tilmann Köppe. Berlin u. a.: de Gruyter 2014 (Revisionen. Grundbegriffe der Literaturtheorie, Bd. 4), S. 419–439. 47 beide Epochen doch darin verwandt, dass in der ersteren, der Frühen Neuzeit, die Vorstellung ›ästhetischer Autonomie‹ noch nicht gültig ist, und dass in der späteren, der Moderne, eben diese Idee ›ästhetischer Autonomie‹ nicht mehr recht in Kraft ist, dass sie zunehmend skeptisch betrachtet wird. Im Zentrum des vorliegenden Beitrags steht Grimmelshausens Simplicissimus (1668), der sicher vielschichtigste Roman der deutschen Barockliteratur, dessen narrative Anlage dem Modell des autobiographischen Erzählens folgt. Um aber zu Grimmelshausens – wie hier thesenhaft angenommen wird – autofiktionalem Erzählwerk hinzuleiten, sei zuvor skizziert, wie Schriftsteller der Frühen Neuzeit über das Verhältnis von Autor und Erzähler nachgedacht haben. Die Kategorie einer vom Autor deutlich unterschiedenen Instanz des Erzählers ist eine ›Erfindung‹ der neueren Narratologie. Theoretisch klar gefasst wurde die Differenz zwischen dem Autor (der Instanz, die den Text real hervorbringt) und dem Erzähler (der fiktiven Redeinstanz, die Teil des narrativen Textes ist) erst im 20. Jahrhundert.2) Aber freilich kennen schon ältere Epochen unterschiedliche Erzählerinstanzen, die in verschiedenem Maße in die erzählte Welt integriert sind oder souverän über ihr stehen. Nur hat man die kategoriale Differenz zwischen Autor und Erzähler noch nicht theoretisch berschrieben, sondern allenfalls impliziert kenntlich gemacht. Zweifellos ist die Frage nach dem Verhältnis von Autor und Erzähler dort besonders interessant, wo man es mit einem homodiegetischen Erzähler zu tun hat, in traditioneller Terminologie: mit einem ›Ich-Erzähler‹, der ganz und gar der erzählten Welt angehört, der sogar ihr zentraler Erzählgegenstand ist. Das wichtigste frühneuzeitliche Genre, in dem regelmäßig solche homodiegetischen Erzähler begegnen, ist gewiss der ›Pikaro-‹ oder ›Schelmenroman ‹.3) Er ist die zentrale Gattung der Frühen Neuzeit, in der das autobiographische 2) Vgl. dazu Rosmarie Zeller: Erzähler. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Klaus Weimar. Bd. 1. Berlin, New York: de Gruyter 1997, S. 502–504. 3) Vgl. zum Folgenden die Überblicksarbeiten von Jürgen Jacobs: Der deutsche Schelmenroman. Eine Einführung. München, Zürich: Artemis & Winkler 1983, und Matthias Bauer: Der Schelmenroman. Stuttgart, Weimar: Metzler 1994. 48 독일문학∣제132집
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