Gabrielle Rosenstein FOTO: archiv tachles Angriff auf die Gewaltenteilung Was ist der Mensch? Die Summe seiner Erfahrungen, seiner Begegnungen, seiner Gedanken. Wo macht der Mensch seine Erfah rungen, wo trifft er sich zu Begegnungen, wo denkt er nach? Da, wo er lebt: ob Schweizer in der Schweiz geboren oder Ausländer im Aus land; ob Schweizer im Ausland geboren oder Aus länder in der Schweiz geboren. Menschsein fragt nicht zuallererst nach dem Reisepass. Wie steht es so schön in der Schweizer Verfassung? «Im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben.» Nun verlangt eine Initiative: Wer kriminell wird und nicht den Schweizer Pass besitzt, soll unbesehen der Schwere oder Geringfügigkeit einer Straftat aus diesem Geflecht von Beheima tung ausgestossen werden. Verstossen aus dem Paradies sozusagen, auf dessen Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit wir alle so stolz sind. Die Durchsetzungsinitiative, über die wir am 28. Feb ruar abstimmen, setzt sich in der Tat über unsere fundamentalen demokratischen Prinzipien hinweg. Sie postuliert, dass der Wille des Volkes über allem stehe – auch über den grundlegenden Rechtsprinzipien. Sie will, anders gesagt, unseren Rechtsstaat und seine Gewaltenteilung aushebeln. Es gab in der neueren Geschichte bekanntlich Phasen, wo der «Wille des Volkes» über allem stand, als «total» behauptet wurde. Über der Demokratie, über dem Rechtsstaat, über der Menschlichkeit stehend. Was folgte waren Diskri minierung, Ausgrenzung, Deportation. Es endete im millionenfachen Mord. Deshalb zur Erinnerung: Die Gewaltentren nung im Staat dient der Vermeidung von Willkür jeder Art. Der Rechtsstaat funktioniert, wenn die Verwaltung auf Verlangen der Politik Gesetze erarbeitet; wenn das Parlament diese Gesetze berät, sie anpasst und verabschiedet; und wenn diese Gesetze von den Richtenden als dritter Gewalt anschliessend angewandt werden. Die Durchsetzungsinitiative kommt aber bei einer Annahme im Gewand eines Gesetzes in unsere Verfassung und hebt diese Gewaltentren nung praktisch auf, indem sie den Richtenden überhaupt keinen Spielraum mehr gibt, das Gesetz auf jeden Einzelfall anzuwenden. Es gilt das Pauschalprinzip. So beginnt Diskriminie rung: Wenn nicht mehr der Einzelne zählt, son Wir kommen heute zusammen, weil mit der sys tematischen Ermordung Millionen unschuldiger Menschen mitten in Europa eine grosse Wunde ins empfindliche Gewebe der Welt gerissen wurde, die nicht verheilt ist. Es wurden nicht nur Menschen, sondern ganze Gemeinden, Familien, und all das, was sie aufgebaut hatten, ausge löscht: Gemeindeeinrichtungen wie Schulen und Spitäler, Glaubenshäuser und Friedhöfe, vielsei tige nachbarschaftliche Beziehungen über kon fessionelle Grenzen hinweg. Die Welt ist dadurch ärmer geworden, denn die Welt, die wir kennen und schätzen, lebt vom Pluralismus, von der Offenheit und der Neugier, vom lebhaften Aus tausch mit Gleich- und Andersgesinnten, von der Vermischung, vom Zugang zu Wissen und von der Lust am Lernen. Obwohl wir wissen, was wir verloren haben, möchten wir aber auch die erfolgreiche Integration der Überlebenden, die sich nach dem Krieg in der Schweiz niedergelassen haben, würdigen. Sie haben unsere Gesellschaft mit ihrer Arbeit und ihrem staatsbürgerlichen Engagement belebt und bereichert. Wie andere Länder tritt auch die Schweiz gegen Gewalt und Willkür und für Erinnerung und Menschenwürde ein. So wird sie 2017 den Vorsitz der International Holocaust Rememb rance Alliance (IHRA) übernehmen, nachdem der Bundesrat diese Kandidatur unterstützt und die 31 Mitgliedstaaten der IHRA im November 2015 den Vorschlag der Schweiz angenommen haben. «Die Annahme der Durchsetzungsinitiative würde das Ende der bislang herrschenden Rechtsprinzipien in der Schweiz bedeuten.» dern die fremde Herkunft ein anders geartetes Recht nach sich zieht als für Einheimische. Vom Grundsätzlichen zum Konkreten. Um was ging es der SVP? Sie wollte bei schweren Verbrechen ausländische Verbrecher des Landes verwiesen haben. Deshalb lancierte sie die Aus schaffungsinitiative, die in einer Volksabstim mung angenommen wurde. Während das Parlament an der Umsetzung dieser Initiative arbeitete, lancierte die SVP bereits die Durchset zungsinitiative. Sie war also nicht bereit, das Resultat des politischen Prozesses abzuwarten. Inzwischen hat der Rechtsstaat, die Demokra tie, ihre Arbeit getan. Die Gesetze wurden ange passt. Die Richter können diese Paragraphen nun anwenden. So sollte ein Staatswesen stets funk tionieren. Nun steht im Gesetz: Wer das Gastrecht grob missbraucht, riskiert, aus dieser Gesellschaft ver bannt zu werden. Richten sollen Richter, nicht Politiker. Und jeder Fall soll einzeln geprüft, es sollen nicht alle in denselben Topf geworfen wer den. Das ist das Prinzip des fairen Prozesses. Und zwar für alle, ob hier geboren oder eingewandert, ob mit oder ohne Schweizer Pass. Die Initianten suggerieren aber, dass dieser – unser! – Staat nicht funktionieren, unsere Richter die Gesetze nicht anwenden würden … Das ist eine unhaltbare Unterstellung! Und die Initiative postuliert eine Zwei-KlassenGesellschaft: Wer nicht den roten Pass hat, riskiert eine massiv strengere Behandlung – auch wenn er hier geboren und aufgewachsen ist. Selbst für Bagatelldelikte kann man automatisch – ohne die Verhältnismässigkeit zu berücksichtigen – aus geschafft werden. Kein Richter hätte noch einen Ermessungsspielraum, kein Richter dürfte auf den einzelnen Fall eingehen! Die Annahme der Durchsetzungsinitiative würde das Ende der bislang herrschenden Rechtsprinzipien in der Schweiz bedeuten. Eine Annahme der Initiative verletzt zudem das inter nationale Rechtssystem, in dem wir eingebunden sind, zum Beispiel die Europäische Menschen rechtskonvention. Ein solcher Schritt ist nicht banal! Er wider spricht all dem, für das sich Organisationen wie der Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen einsetzen. Und er entfremdet uns letztlich den Werten, die in Europa seit der Aufklärung im Zentrum des Menschseins stehen. Und er entfremdet uns der Erkenntnis, dass jeder einzelne von uns einzigar tig ist mit seinen Erfahrungen, Begegnungen und Gedanken (vgl. S. 12). Gabrielle Rosenstein ist Präsidentin des Verbands Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen, der zu den fünf offiziellen Schweizer Hilfswerken zählt. Schliesslich findet heute Abend anlässlich des Internationalen Gedenktags an die Opfer des Holocaust im Yehudi-Menuhin-Forum in Bern ein Gedenkabend statt, an welchem auch Vertreter des Parlaments und des Bundes das Wort ergrei fen werden. Was geschehen ist, kann nicht rückgängig gemacht werden. Aber wir können ein Zeichen setzen für eine Welt, in der die Würde der Men schen nicht eine Floskel, sondern gelebte Realität ist, jeden Tag und überall. Johann N. Schneider-Ammann ist Bundespräsident der Schweizerischen Eidgenossenschaft, dieser Text ist die Grussbotschaft zum internationalen HolocaustGedenktag. tachles | 29. Januar 2016 5
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