Interpretation. Wolfgang Borchert: "An diesem Dienstag"

Werner Bellmann
Wolfgang Borchert: An diesem Dienstag
Reclam
Wolfgang Borchert: An diesem Dienstag
Von Werner Bellmann
Furchtbar waren die Tage bei Toropez, wo ich als Melder nachts durch die
grauenhaften Wälder laufen mußte, furchtbar waren die Tage im
Seuchenlazarett, wo jede Nacht die Toten rausgetragen wurden – aber dann war
da auch so viel Schönes: – ein wundervoller Arzt, ein kleiner Flirt mit einer
Schwester […].
Diese Schilderung, die Borchert im Februar 1943 in einem Brief an einen Hamburger
Bekannten gegeben hat,1 wird durch andere briefliche Mitteilungen ergänzt. Den Eltern
teilt er um dieselbe Zeit mit, »daß im Seuchen- und Typhuslazarett Smolensk täglich
ein halbes Dutzend Tote rausgetragen wurden und daß auf dem Friedhof vor unserem
Fenster über 700 Kreuze waren – 700 Gräber allein von Fleckfiebertoten«.2
Viele Geschichten Borcherts gehen auf Selbsterlebtes zurück – die Schrecken der
Front, die in Gefängnis und Lazarett ertragenen Demütigungen und Qualen – und
verarbeiten reale biographische Details. Der in den angeführten Briefen geschilderte
Einsatz an der russischen Winterfront und der Aufenthalt im berüchtigten
Seuchenlazarett Smolensk, in das er mit Gelbsucht und Fleckfieberverdacht eingeliefert
worden war, bilden unverkennbar den realen Erlebnishintergrund für die Konzeption der
Kurzgeschichte An diesem Dienstag. Um direkt verwendete Realitätspartikel handelt es
sich nicht nur bei dem Hinweis auf die tägliche Sterberate: »Ein halbes Dutzend« (28);
auch die Namen von »Fräulein Severin« (26) und »Schwester Elisabeth« (28) sind, wie
andere Zeugnisse belegen, der Wirklichkeit entlehnt.3
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© 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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An diesem Dienstag ist Ende November 1947, kurz nach dem Tod des Autors, als
Titelgeschichte seiner zweiten Erzählsammlung erschienen.4 Gerade in Stil und
Erzählweise vieler Texte dieses Sammelbandes ist der Einfluss amerikanischer ShortStory-Autoren spürbar, den Alfred Andersch schon 1948 vermutete, der danach aber
vielfach, da nicht belegbar, bezweifelt worden ist.5 Seit der Veröffentlichung der Briefe
im Jahr 1996 lässt sich definitiv festhalten: Borchert hat schon im September 1940
Kurt Ullrichs Kurzgeschichten-Anthologie Neu Amerika (1937) gelesen, spätestens seit
Sommer 1946 waren ihm Hemingways Short-Story-Zyklus In unserer Zeit (In our time,
1925) sowie Texte von Thomas Wolfe (1900–1938) und William Faulkner (1897–1962)
bekannt und er hat nach eigenem Bekunden »ausländische stories« weiterer Autoren
aus Zeitschriften ausgeschnitten und gesammelt. Dazu passt, dass er auch für seine
eigenen Geschichten seit dieser Zeit häufig die Bezeichnung »stories« wählte.6
Stilistische Indizien veranlassten Heinz Piontek 1959 zu der Vermutung, dass Borchert
insbesondere »bei Hemingway in die Schule ging«.7 Darauf deutet der Stilwechsel –
weg von Lyrismen, Sentimentalität und Pathos der frühen Prosa, hin zu lakonisch
gehaltener Alltagssprache, zum Ausschnitthaften, zur Technik des Understatements
und zum Spiel mit Aussparung und sorgfältig komponierter Andeutung. Hemingway
selbst hat das poetische Verfahren, bei dem der Autor nur einen Bruchteil des Stoffes in
Sprache umsetzt, in seinem Essay Death in the Afternoon (1932) mit der berühmten
Eisberg-Metapher bildkräftig auf den Punkt gebracht: Die ausformulierte Geschichte
zeige nur einen winzigen Teil des Ganzen, so wie der Eisberg nur zu »einem Achtel«
sichtbar sei.8
Ein Musterbeispiel für die angeführten Stil- und Darstellungsmittel ist die
Kurzgeschichte An diesem Dienstag, deren ausschnitthafte Einzelszenen, indem sie das
jeweilige Umfeld evozieren, das Kriegsgeschehen als Ganzes – oder doch in wichtigen
Facetten9 – vergegenwärtigen. Der Text weist jene Charakteristika auf, die Borchert
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wenige Wochen vor seinem Tod als kennzeichnend für den Stil seiner späteren Prosa
genannt hat: »das Knappe, Angedeutete, Telegramm-Filmische«.10
Walter Höllerer hat An diesem Dienstag einer Variante des Formtypus
»Überblendungsgeschichte« zugerechnet:
Das Geschehen, das an verschiedenen Orten spielt, wird ineinandergeblendet:
sei es in einem Augenblick oder in einem kurzen Zeitabschnitt (Borchert »An
diesem Dienstag« […]); oder das Geschehen wird von den verschiedenen Orten
her durch die Erinnerung in die kurze Zeit der Kurzgeschichtenausdehnung
hineingeblendet (Hemingway »Schnee auf dem Kilimandscharo«).11
Gegen Höllerers Terminus ist eingewendet worden, dass man bei den Szenenwechseln
in Borcherts Geschichte nicht eigentlich von »Überblendung« (im Sinne der filmischen
Technik) sprechen kann; vielmehr seien die Szenen hart gegeneinander geschnitten.
Da alle geschilderten Vorgänge an ein und demselben Tag stattfinden, was die
anaphorisch mit der Zeitangabe »An diesem Dienstag« einsetzenden Abschnittsanfänge
eindringlich signalisieren, und da durch die Montagetechnik der Effekt der
Gleichzeitigkeit hervorgerufen werde, bevorzugen einige Interpreten die Bezeichnung
»Simultaneitätsgeschichte«. Andere wiederum sprechen, ausgehend von der
Beobachtung einer relativ großen Selbständigkeit oder auch (scheinbaren)
Unverbundenheit und Disparität der einzelnen Episoden (»puzzle von
Momentaufnahmen«), vom Kompositionsprinzip des Mosaiks, dessen Teile sich zu
einem Gesamtbild – hier der Kriegswirklichkeit – zusammenschließen.
Den neun Augenblicksbildern vorangestellt sind drei knappe Einleitungssätze, die
den exemplarischen Charakter des Dargestellten betonen und mit dem Titel
korrespondieren, diesen erläutern. Was ›an diesem Dienstag‹ geschieht, wird pars pro
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toto erzählt. Heute ist Freitag hat Hemingway eine seiner bekanntesten Short Storys
überschrieben, und er zielte mit der Nennung des Wochentages auf dessen ohne
weiteres einleuchtende religiöse Symbolik. Obwohl Borcherts Titel auf den ersten Blick
alles andere als symbolträchtig erscheint, könnten ihm ähnlicheÜberlegungen zugrunde
liegen: Der Dienstag – sprachlich eine Lehnübersetzung des spätlateinischen »Martis
dies« – ist der Tag des Kriegsgottes.12
Der denkbar knappen Exposition folgen, streng alternierend, fünf in der Heimat,
in Deutschland, und vier an der russischen Front spielende Miniaturszenen, die durch
korrespondierende oder kontrastierende Motive (z. B. Bücher von Hölderlin, Wilhelm
Busch / das Buch der Lehrerin / das dicke Krankenbuch) und durch symbolische
Elemente (z. B. die Farbe Rot) miteinander verzahnt sind. Bestimmend für die
Anordnung der Szenen ist zunächst die Chronologie eines Tages. Das in den letzten drei
Abschnitten Dargestellte verläuft jedoch offensichtlich simultan: der Theaterbesuch der
stolzen Frau Hauptmann Hesse, die Agonie ihres Mannes im Seuchenlazarett und die
stupide häusliche Rechtschreibübung der kleinen Ulla fallen in die Abendstunden. Der
Konfrontierungseffekt, d. h. die für den ganzen Text konstitutive Gegenüberstellung
von banalem Alltag und brutaler Kriegswirklichkeit, gewinnt gerade in der
Schlusssequenz an Intensität und steigert den Eindruck der Absurdität. Das gilt
insbesondere, wenn man von der durch die Gesamtkonzeption nahe gelegten Annahme
ausgeht, dass es sich bei Ulla um die Tochter der Hesses handelt.
Die Zusammengehörigkeit der Szenen, die Konsistenz des Textes insgesamt ist
demnach nicht nur durch die Einheit der Zeit und einzelne motivische Verknüpfungen,
sondern auch durch andere Gestaltungselemente gewährleistet. Im Mittelpunkt der auf
den ersten Blick kaleidoskopisch anmutenden Szenenfolge, die auf die autobiographisch
fundierten Lazarettepisoden hin entworfen ist, stehen eindeutig Hauptmann Hesse und
seine infolge des Kriegs von ihm getrennten Angehörigen. Die anderen Figuren sind den
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Familienmitgliedern auf unterschiedliche Weise zugeordnet: Ullas Lehrerin, Frau Hesses
Nachbarin, Hesses Kollegen, sein ehemaliger Vorgesetzter undsein Nachfolger Ehlers,
die behandelnden Ärzte und Schwestern. Das Schicksal Hesses, das sich an diesem
Dienstag vollzieht, wird (unter Verzicht auf jede auktoriale Einmischung) durch
ergänzende Momentaufnahmen in sein Umfeld eingebettet, aus anderen Blickwinkeln
beleuchtet und ›kommentiert‹ und zugleich seiner Singularität enthoben.
Eine Schlüsselfunktion kommt unter diesem Aspekt den beiden rahmenden
Abschnitten zu. Die Schulszene enthält in nuce jene Kritik, die Borchert in einer der
Lesebuchgeschichten13 und die später Böll in seiner Kurzgeschichte Wanderer, kommst
du nach Spa… (1950) an der Institution Schule als Ideologielieferant geübt haben. Die
Studienräte, die »schon die Väter so brav für den Krieg präparierten«,14 indoktrinieren
ihre Schüler(innen) auch 1943 noch mit verniedlichenden Phrasen über heroische
Persönlichkeiten und siegreiche Schlachten der preußischdeutschen Militärgeschichte.
Die hintersinnige Entlarvung dieses verlogenen Patriotismus hat Borchert jedoch durch
andere Gestaltungselemente gleich mitgeliefert. Die Lehrerin »mit ihrer Brille« (25)
erweist sich nicht nur als ›blind‹ für die Wirklichkeit, sie ist auch pedantisch undtaktlos.
Das zeigen ihr Übungssatz »Im Krieg(e) sind alle Väter Soldat« (25 und 29) und die
Ulla gegebene Buchstabierhilfe: Krieg mit »G wie Grube« (25). Die sich beim Leser
zwangsläufig einstellende Assoziation – Grab, Tod – deutet auf das weitere Geschehen
voraus und antizipiert den Erzählschluss; sie macht den Leser zugleich sensibel für die
dann im Ablauf der Szenen drastisch demonstrierte Diskrepanz zwischen Ideologie und
Wirklichkeit. Nach Darstellung des elenden Todes von Hauptmann Hesse im
Seuchenlazarett zeigt das letzte Bild seine Tochter Ulla beider Niederschrift des
Übungssatzes, wobei im Rückgriff auf den Eingangsabschnitt »Krieg mit G. Wie Grube«
(29) ausdrücklich wiederholt wird. Die Kurzgeschichte schließt pointiert mit dieser
Buchstabierhilfe; sie ist Kommentar, Resümee und Quintessenz.
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