Wolfgang Borchert und sein Drama „Draußen vor der Tür“

Creative Innovations & Innovative Creations, 1, 2009
© V.N. Golionzewa,
E.E. Gotowzewa
Pjatigorsk, Russland
Pjatigorsker Staatliche Linguistische Universität
Wolfgang Borchert und sein Drama
„Draußen vor der Tür“
Ich möchte Leuchtturm sein
In Nacht und Wind – Für Dorsch und Stint,
Für jedes Boot – Und bin doch selbst
Ein Schiff in Not!
Sein Vater war ein lebenslustiger verseschmiedener Schornsteinfeger-Meister aus Goldberg, sein Vater
wurde Lehrer. Wolfgang Borchert war das einzige Kind
in er Familie, wo seine Kindheit vornehmlich unter dem
Einfluss der Mutter stand. Literarische Begabung seiner
Mutter erweckte die Aufmerksamkeit von Zeitungen
und niederdeutschen Zeitschriften, dass die im deftigunverfälschten Platt geschriebenen Erzählungen im
ein „Quickborn“ und in der „Mooderspraak“ abgedruckt
wurden, dass ein Prosabändchen erschien und dass den
Publikationen Angebote des Hamburger Rundfunks folgten. Hertha Borchert wurde eine bekannte Heimatschriftstellerin.
Wolfgang besuchte die Hamburger Schule, die er
1938 beendete. Er wollte Schauspieler werden. Das war
nun der am wenigsten sichere Beruf in den Augen seinesVaters, und er drangt auf neue Vorschläge. Nach einem
Hin und Her wurde es beschlossen: Wolfgang wird den
Buchhändlerberuf erlernen. Als der Vater den Sohn bei
der Firma Heinrich Boysen vorstellte und Wolfgang befragt wurde: “Nun, Sie wollen Buchhändler werden, Herr
Borchert?“ lautete die Antwort: “Nein ich muss“. Und da
seine tägliche Aufgabe darin bestand, Pakete zu packen,
Bücher auszuzeichnen und Firmenetikette zu kleben,
nahm er heimlich, ohne Wissen der Eltern, Schauspielunterricht; trieb sich viel mit Freunden herum und gründete literarische Diskussionskreise, in denen verbotene
expressionistische Literatur vorgelesen wurde. Ab 1940
absolvierte er die private szenische Theaterschule und
wurde Schauspie-ler des Lüneburger Theaters.
Anfang vierziger Jahre… Zu dieser Zeit wurde
der größte Teil Europas von den deutschen Faschisten zur
Folterkammer verwandelt, und in Deutschland herrschten überall Beobachtung und Anzeigen. In dieser Zeit
fällt Borcherts erster intimer Kontakt mit der Gestapo. Im
April 1940 hat er sogar eine Nacht auf der Polizeiwache
zugebracht. Warum – wusste er nicht. Auch seine Briefe wurden manchmal geöffnet und mit „Gestapo“ abgestempelt. Manchmal merkte er auch, dass er beobachtet
wurde. Das war furchtbar. Er fühlte sich auf jedem Schritt
und Wort belauscht. Grund für Borcherts Verhaftung war
ein Gedicht gewesen, dass er seiner Buchhänderkollegin
vorgelesen hatte. Dies Opus ist nicht erhalten, man weiß
nur, dass es hier um eine Art Ode ging, die, an klassischen Mustern geschult, von der Knabenliebe handelte.
Im Mai 1941 wurde Borchert einberufen. Es begann Drill. Man bereitete sie zum Abtransport an die Ostfront Der Kasernenhofdrill, die Primitivität der Vorgesetzten und die tausend Erniedrigungen der Ausbildung
versetzten Borchert in ohnmächtige Wut. Er schreibt
Postkarten und melancholische Briefe an die Freunde zu
Hause. Auf offener Karte, die ein Bild der Kaserne zeigt,
schreibt er: “Aus einem der schönsten Zuchthäuser des
Dritten Reiches sende ich Dir die besten Grüsse“. Sein
Brief an Aline Russmann, in dem er schreibt: “Diese Zeit
wird mich nicht niederzwingen. Meine Seele entflieht in
die Reiche meiner Phantasie – und da ist Liebe, Größe,
Kunst und Schönheit. Angst habe ich nur vor der müden
Melancholie und der hamletischen Resignation, die mich
ja doch befallen wird: Die Freiheit ist tot. Alle Freiheit –
wohl haben wir unser inneres Reich – aber woran sollen
wir noch glauben?“, ist erhalten geblieben.
Wie Peter Rühmkorf, der Autor des Buches „Wolfgang Borchert in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten“
berichtet, fielen die heftigsten Anklagen, die schönsten
Zeugnisse jugendlicher Empörung der Gestapo in die
Hände oder wurden in Zeiten späteren Verfolgung von
seinen Eltern verrichtet. Verloren ging dabei die wüchtige Schilderung eines Marsches von KZ-Häftlingen durch
Weimar, die detaillierte Beschreibung des Trauerzuges,
die bissige Charakterisierung der Bewacher.Von den Bewachern schrieb Borchert klar und knapp:”Alle 10 Meter
ein Schwein von SS-Mann”.
Der ehemalige Schauspieler, der zukünftige Schriftsteller, der junge Mann, dessen Leben in der
Kunst ist, entpuppt sich als der Mann des Protestes und
rücksichtsloser Wahrhaftigkeit: “Nach einer kurzen wunderbaren Theaterzeit bin ich nun auch Soldat geworden.
Es ist laut in Europa, aber nicht von Schillers großem
Pathos, sondern vom Lärm der Massen… im Augenblick
töten die brutal aufgezwungene Welt des Zwanges und
der Uniform-Einform alles Schöne, alle Kunst in mir –
und ich muss oft an mich halten, nicht in einer plötzlichen Aufwallung der Reaktion gegen diesen Zwang eine
Dummheit zu begehen…Es ist kaum zu ertragen – aber:
es muss ja ertragen werden“.
Borchert schwankt dabei zwischen zwei Reaktionsmöglichkeiten: dem Rückzug nah innen und der nach
außen gekehrten Provokation, der Agressivität und der
Immigration ins Reich des Traums, der Erinnerung, des
Ästhetizismus: „Ich bin jetzt soweit, dass ich durch all das
Geschehen wie ein Träumer unberührt hindurchwandle – nur manchmal bricht die Wunde noch auch, dann
schreit alles in mir nach Freiheit… Mein Verstand muss
mich immer wieder zum Aushalten mahnen – aber wie
lange noch? Fragt die gefangene Seele zurück. Ich kann
mich mit allem abfinden, nur mit dieser ohnmächtigen
Gefangenschaft nicht. Jetzt weiß ich, dass die Freiheit die
Grundbedingung für mein ganzes Leben sein muss, wenn
dieses sich erfüllen soll. Sicher erwachsen uns gerade aus
dem Widerstand die besten Kräfte – aberder ist ja auch
oft nur innen. Oft bin ich soweit, dass ich das Leben weg70
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werfen möchte – aber ich sage mir dann: Um was? Es
lohnt sich ja nicht! Ja, aber dies ist doch kein Leben!!!“
Und nun ist Wolfgang Borchert, der Soldat der
siegesbewussten Hitlerarmee, im Winter 1941-1942 an
der Kalinin Front. Borchert kommt eines Tages mit einer
Schussverletzung der linken Hand /Mittelfinger/ zurück.
Er berichtet, dass in einem leeren Deckungsgraben plötzlich ein sowjetischer Soldat vor ihm aufgetaucht, dass
aber die Distanz zum Schießen zu gering gewesen sei;
dass der Russe ihn angefallen habe und dass sich dabei
ein Schuss des eigenen Gewehrs gelöst habe. Die Bedarf
erfolgende Meldung des Feldwebels wird von dem seit
langem übelwollenden Vorgesetzten mit der Notiz versehen, der Panzergrenadier Borchert habe sich die Verwundung höchstvermutlich selbst zugefügt. Zwar wird
Borchert vorerst in ein Lazarett befördert und, da sich
eine heftige Diphtherie eingestellt hat, weiter in ein Heimatlazarett nach Schwabach überwiesen und im Mai
1942 verhaftet. Unter dem dringenden Verdacht „sich
willentlich dienstuntauglich gemacht zu haben“, wird er
ins Untersuchungsgefängnis Nürnberg gebracht. Über
drei Monate sitzt er in der Einzelzelle und erwartet sein
Verfahren – einen Prozess, in dem es nur um Todesstrafe
oder Freispruch gehen kann.
Obwohl als zusätzliches Belastungsmaterial briefliche und mündliche Äußerungen gegen das Naziregime
zitiert wurden, „glaubte das Gericht dem Angeklagten
und seinem Verteidiger, dass sie die Wahrheit gesagt
hätten“ und entschied sich für den Freispruch. Borchert
bleibt allerdings trotz des Freispruchs in Untersuchungshaft. Noch ist über seine „staatsgefährdenden“ Briefe,
noch über eine Anzahl lästerlicher Äußerungen nicht entschieden. Einige Wochen später wird ihm noch einmal der
Prozess gemacht. Es geht unter anderem um die folgenden Bemerkungen: “Meine Kameraden, die vor 14 Tagen
herausgekommen sind, sind alle gefallen. Für nichts und
weiter nichts. Ich empfinde die Kasernen als Zwingburgen
des Dritten Reiches. Ich fühle mich selbst als wesenlosen
Kuli der braunen Soldateska“. Dies ist Grund genug, um
ihn nach dem „Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf
Staat und Partei vom 20. Dezember 1934“ zu vier Monaten Gefängnis zu verurteilen. Dies Urteil wurde dann auf
Antrag der Verteidigung in 6 Wochen verschärfter Haft
mit anschließender Frontbewährung umgewandelt.
Borcherts bekannte Gefängnisgeschichte ist die
„Hundeblume“, die auch seinem ersten Erzählungsband
den Titel gab. Borchert schreibt: Sie dürfen mich vergessen, dass es diesen Hundeblumen-Mann gibt, dass er
21 Jahre alt war und 100 Tage in einer Einzelzelle saß
mit dem Antrag der Anklagevertretung auf Tod durch
Erschießen! 100 Tage. 21 Jahre. Er hat wirklich eine
Hundeblume gekaut und durfte zur Strafe eine Woche
nicht mit im Kreise gehen! Er wusste ganz genau, wie
es bei so einer Erschießung hergeht, er hatte 100 Tage
Zeit, über dies und das noch zu denken. Er hat nachgedacht. Und dann liefen ihm diese 100 Tage vier Jahre
lang durch alle Nächte hindurch noch, bis es ihm plötzlich gelang, sie förmlich auszukotzen. So, da waren sie!
Man war sie los“.
Es ist Borcherts erste Prosaarbeit, ein sentimentales Reflexiensstück, in dem nun zwar nicht einem Gefangenen, wohl aber einem am Kriegsgrauen verzweifelten jungen Mann eine Blume als Symbol des Lebens
erscheint.
Als Borchert im Oktober 1942 seine Haftzeit verbüßt hat, kommt er nach Saalfeld zum Ersatzbataillon
seines Regiments, später für einige Wochen nach Jena.
Ende Dezember wird Borchert mit erfrorenen
Füßen ins Smolensker Lazarett eingeliefert. Dennoch ist
das Lazarett ein makabres Dorado der Umhergetriebenen
und Davongekommenen. Die Kranken und Verwundeten
versuchen, das auf Abruf gestundete Leben unter allen
Umständen zu genießen. Es herrscht eine Atmosphäre
aus Angst und forcierter Lustigkeit, aus dem Gefühl der
Todesnähe und gesteigerter Lebenssucht. „Ich glaube, –
schreibt Borchert an die Mutter, – ich muss später einmal
ein Leben zwischen Mönch und Abenteurer führen, um
mein Inneres zu befriedigen – ein Jahr in der Zelle und
ein Jahr auf dem Jahrmarkt!“ In dieser Zeit entsteht sein
zweites Prosastück, das als Requiem an einen Freund,
dem Tode seines Jenenser Freundes und Oberleutnants
gewidmet ist.
Von Smolensk aus wird Borchert nach Deutschland zurücktransportiert. Im März 1943 befindet sich
Borchert im Reservelazarett Elend /Harz/ und entfaltet eine ausgedehnte Korrespondenz. Er schreibt: “Die
Schöpfung gab dem Menschen die Vernunft, und nun
kommt es wie ein Strafgericht über sie, die die Vernunft
zur Unvernunft gemacht haben und sinnloser leben als
die Tiere“.
Borcherts Pläne und Träume richten sich wieder
aufs Theater. Als es ihm gesundheitlich einigermaßen
wieder gut geht, wird Borchert im Sommer 1945 nach
Jena in seine Garnison entlassen. Als er im Oktober wieder in Jena ist und die Leberbeschwerden erneut auftraten, beschließt man , ihn dienstuntauglich zu schreiben
und an ein Fronttheater abzustellen. In der HindenburgKaserne veranstaltet er eine Abschiedsvorstellung für
seine Kameraden. Und es findet sich auch dieses Mal
unter seinen Kameraden ein Anschwärzer, ein Grenadier
von Grünewald, der ein Vorfall denunziert: Borchert hat
„den Reichsminister Dr. Goebbels parodiert“. Borchert
wurde verhaftet und nach Jena und danach nach Berlin geliefert. Und wieder das Gericht und wieder an die
Front geschickt. Borchert hat in seiner Berliner Zeit viel
geschrieben. Von den Arbeiten, Gedichten und Komödien ist kaum etwas erhalten geblieben.
Anfang des Jahres 1945 ist er in der französischen
Gefangenschaft, danach geriet er zu den Amerikanern.
Dann kehrt Wolfgang Borchert nach Hamburg zurück.
„Hamburg! Das ist mehr als ein Haufen Steine, Dächer,
Fenster, Tapeten, Betten, Straßen, Brücken und Laternen.
Das ist mehr als Fabrikschornsteine und Autogehupe –
mehr als Möwengelächter, Straßenbahnschrei und das
Donnern der Eisenbahnen – das ist mehr als Schiffssirenen, kreischende Kräne, Flüche und Tanzmusik – oh, das
ist unendlich viel mehr. Das ist unser Wille, zu sein“.
Heimweh, diese edelste Form, dieses intensivste
Gefühl der Heimat liebe beflügelte die Dichtung vom
Zuhause. In Hamburg versucht Borchert sein Leben
wieder beim Theater anzuknüpfen. Zusammen mit den
Schauspielerinnen Lotte Manzart und Viola Wahlen, der
Funklektorin Ruth Malchow, dem Schauspielerfreund
Hannes Thienelt gründet Borchert „Die Komödie“, ein
Hinterhoftheater in der Altonaer Allee. Im November
zieht Regiessiuer Glemin ihn als Regieassistenten für
eine Aufführung von Lessings „Nathan derWeise“ heran – eine Aufgabe, die ihn noch einmal entflammt, die
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ihn begeistert, der er nicht mehr gewachsen ist.
Vom Winter 1945/1946 zwingt ihn die Krankheit
entgültig zum Liegen. Seine Leber ist geschwollen, sein
Rücken schmerzt, immer häufiger treten die Fieberanfälle auf, die kein Arzt recht zu deuten vermag. Dennoch
versucht er sich in die Rolle des Gesunden hineinzuspielen, spöttelt über die Krankheit, die er nicht wahr haben
will, und weist Trost, Mitleid und Anteilnahme unwirsch
zurück.
Borchert schrieb viel. Noch während des Krieges
schickte er an seine Freunde Gedichte, manchmal auch
Prosawerke. „Er schrieb im Wettlauf mit dem Tod“,sagte von ihm später der bekannte deutsche Schriftsteller H.Böll. Nach dem Krieg schenkte ihm das Schicksal
zwei Jahre Leben. Borchert starb mit 26 Jahren.
Ob er zu den Opfern des Faschismus gehörte?
Ja, obwohl er nicht in Buchenwald oder Sachsenhausen
zugrunde ging. Der Faschismus raubte ihm die Freiheit,
er fühlte sich als ein Gefangener noch damals, wenn er
auch nicht noch hinter dem Gitter saß. Er versuchte für
sich selbst die Freiheit zurückzuerobern: er sprach davon, woran er dachte, ohne sich vor den Konsequenzen
zu fürchten.
Ob er ein Kämpfer gegen den Faschismus war?
Nein, zu den Kämpfern gehörten die anderen, die den illegalen antifaschistischen Organisationen angehörten, die
in Hitlerdeutschland ab 1933 und bis 1945 existieren und
wirkten. Und Borchert aber ließ sich nicht einschüchtern,
sondern leistete inneren Widerstand, wie er nur konnte,
obwohl sein Widerstand etwas knabenhaftes anhatte. Die
Gedanken –und Wortreife kam zu ihm in den letzten Lebensjahren, als er schon in seine Heimatstadt Hamburg
zurückkehrte. Aber dieser Reifeprozess hatte noch früher
bei Kalinin, in Nürnberg und in Berlin begonnen.
Alles Erlebte ist so oder anders in seine Poesie,
Prosawerke, Dramaturgie eingegangen. Und in seinem
Schaffen wurde er Kämpfer gegen die Entmenschlichung
des Menschen, die für den Faschismus gleichzeitig als
Ziel und Mittel anzusehen war.
Das Schicksal hat Borchert wenig Lebenszeit abgemessen. Aber es beschenkte ihn großzügig mit Talent.
Es mag wohl sein, dass die tragischen Umstände seiner
Jugend zur Entwicklung seiner angeborenen Gabe beitrugen. Eben sie bestimmten den einmaligen Klang der von
ihm geschaffenen Werke. Wolfgang Borchert wurde zu
einem Bahnbrecher. Er schöpfte seine Themen und seine
Gestalten aus dem Leben. Selbst das Leben, das seiner
Generation eine Lehre erteilte, war unvergesslich.
Gewiss existierte schon zu jener Zeit die deutsche
Literatur der antifa-schistischen Emigration, die Literatur von Brüdern Mann und von Leon Feuchtwanger, von
Johannes Robert Becher und Bertoldt Brecht, von Arnold Zweig, Anna Seghers, Erich Weinert, Willi Bredel,
Friedrich Wolf, Bodo Uhse u.a. Diese Literatur, die im
Schnellschrift zum Angriff auf den Faschismus überging,
berührte das Thema des sinnlosen und ruhmlosen Lebens
eines Hitlersoldaten, das mit dem sinnlosen und ruhmlosen Tod auf dem fremden Boden abbricht.
Und Borchert wollte in seinen Werken über das
Schicksal seiner Generation erzählen, wie kein anderer
von ihm es getan hat. Als er zu sprechen begann, hörte
die Generation seine Stimme. Borchert bezog seine Position, von der aus er zum Angriff überging: die Position
der Jugend, die das Recht auf das Leben hatte und die
von diesem Recht keinen Gebrauch machen konnte. Borchert ist an diese Probleme nicht sozial-historisch, sondern moralisch herangegangen. Er ging davon aus, dass
der Mensch Obdach und Brot sowie Freude und Hoffnung haben muss. Und der Krieg entzog ihm das alles.
Er sehnte sich nach Liebe und Kameradschaft, aber die
Atmosphäre der Entfremdung, des Hasses, des Misstrauens umgab ihn.
Das Menschliche im Menschen behauptend, lehnte er somit den Faschismus mit seinem Kultus der Unmenschlichkeit sowie diejenige Pseudoliteratur ab, die
ihm und seinesgleichen in der Schule und in der Kaserne
unterrichtet wurde.
Im Januar 1947 schuf Borchert sein Stück „Draußen vor der Tür“, in dem das Wirkliche mit dem Phantastischen eng verbunden ist.
Der Mensch – „ist einer derjenigen, der nichts
mehr kann, einer der vielen“. Er wirft sich absichtlich
in die Elbe. Aber der Fluss spuckt ihn wieder auf den
Sand ins Leben aus. Die Elbe kommt vor ihm weder romantisch noch süßduftend. Sie ist eine durch Erfahrung
gewitzigte Alte vom Fischmarkt und fordert, damit er am
Leben bleibt. Der Mann heißt Beckmann. Er ist 25 Jahre
alt, sechs davon verbrachte er an der Front. Sein einjähriger Sohn kam während des Bombenangriffes ums Leben.
Seine Frau fand sich einen anderen Mann. Beim Wiedersehen sagte sie zu ihm einfach Beckmann, wie man zu
einem Tisch Tisch sagt. Sie stellte ihn aus ihrem Leben
weg, wie ein unnütziges Möbelstück.
Beckmann trug eine sogenannte Gasmaskenrille,
die bei der Wehrmacht 1934 als Brille unter der Gasmaske für augenbehinderte Soldaten eingeführt wurde. Er
aber will sie nicht absetzen, weil die Vergangenheit für
ihn nicht vorbei ist. Und er sieht das, was die anderen
nicht bemerken wollen: die durch den Krieg zugefügten
Wunden sind noch nicht ausgeheilt, sie werden nie ausheilen.
Borchert fordert im Namen von Beckmann die
Abrechnung für alles: für die unwiederbringlich verlorene Jugend, für die unverbesserlich verkrüppelten Seelen,
für das sinnlos verdorbene Leben. „Verantwortung ist
doch nicht nur ein Wort, eine chemische Formel, nach
der helles Menschenfleisch in dunkle Erde verwandelt
wird. Man kann doch Menschen nicht für ein leeres Wort
sterben lassen. Irgendwo müssen wir doch hin mit unsererVerantwortung. Die Toten – antworten nicht. Gott –
antwortet nicht. Aber die Lebenden, die fragen“, – sagt
Beckmann.
Nach Borchert wird der Aufruf zur Verantwortung
zu einer nie veraltenden Tradition der besten Werke in
der deutschen Literatur, beginnend mit H.Bölls Roman
„Wo warst du, Adam?“ (1951) bis hin den Lenzschen Roman „Deutschstunde“ (1968). Diese Tradition entwickelte sich mit der Zeit. Und damals wurde das, wovon Borchert mit Beckmanns Worten gesprochen hat, als Offenbarung wahrgenommen. Beckmann ist daran schuld, weil
er sich den Befehlen seiner Kommandeure unterworfen
hat. Er verzeiht es sich nicht. Unterdessen wird in den
Gerichtsverfahren der Kriegsverbrecher, in den Memoiren der ehemaligen Hitlergeneräle und in vielen in der
BRD veröffentlichten Romanen der blinde Gehorsam der
brutalen Befehle immer wieder als bürgerlicher Heldenmut oder als ein Alibi betrachtet. Beckmann aber denkt
anders. Das Schuldbewusstsein lässt ihm kein Recht auf
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Literary and Textual Criticism
das Leben, obwohl er kein Hauptschuldiger ist. Elf Frauen sind Witwen an jenem Tag geworden, als Unteroffizier
Beckmann den Befehl des Obersten zur Ausführung bekam. Er dringt ins Haus ein, wo glücklich dieser Oberst
wohnt, um ihn zur Verantwortung zu ziehen. „Es sind nur
elf Frauen, – sagt Beckmann, – bei mir sind es nur elf.
Wieviel sind bei Ihnen, Herr Oberst? Dann macht es Ihnen wohl nichts aus, wenn ich Ihnen zu den zweitausend
noch die Verantwortung für meine elf dazugebe. Können
Sie schlafen, Herr Oberst?...Können Sie überhaupt leben,
ohne zu schreien?“ Beckmann schreit, aber niemand hört
ihn. Alle seine Monologe und Dialoge ist das Jammergeschrei der Verzweiflung, auf das niemand reagiert.
Können ihn denn der Oberst oder die zu allem,
was sie persönlich nicht betrifft, taube spießbürgerische
Frau Kramer, die jetzt in derselben Wohnung wohnt, wo
früher die Selbstmord begangenen Beckmanns Eltern gewohnt haben, hören?
Beckmanns Vater, ist auch ein Spießbürger, der
am Zügel der Faschisten ging, ist selbst an seinem Tod
schuld, – aber er ist kein Hauptschuldiger. Borchert hat
es als einer der ersten gezeigt, wozu dieser Jahrzehnte
gedauerte Prozess geführt hatte. Solche Menschen, wie
Beckmanns Vater, tun dem Schriftsteller leid, er versteht,
dass sie den Weg in die Zukunft haben müssen, wenn sie
ihn selbst nicht versperren werden.
Für Borchert existiert keine deutsche Wahrheit,
auf die sich der Oberst im Gespräch mit Beckmann stützt,
er erkennt nur die eine, die allgemeine Wahrheit an die
Wahrheit an die Menschen und im Namen dieser Wahrheit sucht er die Haupturheber des Krieges und er ruft
sie zur Verantwortung nicht nur für die Vergangenheit,
sondern auch für die Gegenwart auf. Der Titel Borcherts
Stück „Draußen vor der Tür“ gewinnt den symbolischen
Sinn.
Nach Hause zurückgekehrt, sahen Beckmanns,
dass ihre Heimat ihnen nicht gehört, sie gehört denen,
für die der Krieg ein vorteilhaftes Unternehmen gewesen
war.
Alle diese florierenden Geschäftsleute, wer es
auch sei, selbst wenn der Direktor eines Kabaretts, der
von der Kunst der Vergessenheit der tragischen Schicksale der Kriegsjahre fordert, sorgen dafür, damit Beckmanns ihren Platz richtig finden – draußen vor der Tür.
„Wer will denn heute etwas von der Wahrheit wissen?“ –
wiederholt mit Bitterkeit Beckmann die Worte des Kunsthändlers.
Die Wahrheit, die Borchert braucht, wurde von
dem Schriftsteller nicht nur in Beckmann verkörpert.
Beckmann fühlt Aussichtslosigkeit, auf seine Fragen findet er keine Antworten.
Borchert führt in sein Stück einen Anderen, eine
allegorisch handelnde Person ein, die sich im Grunde genommen das zweite „Ich“ von Beckmann darstellt, das
lebensbejahende, zusprechende: er sucht das Licht „in
der Finsternis“. Beckmann und der Andere streiten immer – und es ist der Streit, der in der Seele des Autors
selbst geschieht.
Borchert liebt Licht und das Leben, aber er
schreibt sein Stück noch in der Zeit, als seine Seele von
Finsternis und Tod voll war. Man braucht nicht sich zu
wundern, dass die groteske Gestalt des Todes sich durch
das ganze Stück hindurchzieht. Eigentlich ist es nicht
eine Gestalt, der Tod wechselt immer sein Gesicht. In
der Nacht kommt er zu Beckmann in der Erscheinung
eines fremdartigen Musikers, der das riesige Xylophon
aus Menschenknochen spielt. Das Blut läuft in zwei breiten roten Streifen an seiner Hose hinunter, dass er von
weitem wie ein General aussieht. Ein fetter, blutiger General.
Am Tage erscheint derTod mit dem Besen in der
Hand. Er kehrt die Strassen, auf denen die Menschen vor
Hunger sterben. In allen diesen Fällen steht der Tod in
Dienst bei der deutschen Firma „Für Abfall und Verwesung“. Als der Oberst, der sein ganzes Leben lang dieser
Firma gedient hat, rät Beckmann ein Mensch zu werden,
geriet der in Wut: Beckmann ist zum Unterschied von
denen, die ihn hinauswerfen, – ein Mensch. Eben deshalb
will er wissen, was er tun soll, um seiner selbst würdig
zu sein. Das Stück endet mit seinen Fragen, Beckmanns
Fragen ist die Aufforderung zur Antwort: „Warum redet
er denn nicht!! Gebt doch Antwort! Warum schweigt ihr
denn? Warum? Gibt denn keiner eine Antwort? Gibt keiner Antwort??? Gibt denn keiner, keiner Antwort???“ Diese Worte klingeln wie eine Glocke, die Alarm schlägt.
„Draußen vor der Tür“ ist ein sogenanntes Zeitund Gegenwartsstück, und es handelt von den Problemen
und Einordnungsschwierigkeiten eines Heimkehrers aus
dem Jahre 1947 – aber seine Tendenz ist gerade – heraus aus der Zeit, heraus aus der Gegenwart. Und fort von
den unauflöstbaren Paradoxen / Beckmann, der gemordete Mörder / und der unerträglichen Spannung von „Ich
habe es nicht aus!“ Dabei hat der Eingang den Schluss
so vorausgenommen wie der Augang wieder in den Anfang zurückführt:zurück in den Traum, in den Schlaf, in
die Namenlosigkeit, zurück in den Tod: „Hab ich kein
Recht auf meinen Selbstmord? Soll ich mich weiter morden lassen und weitermorden? Wohin soll ich denn? Wovon soll ich leben? Mit wem? Für was? Wohin sollen wir
denn auf dieser Welt!“ – schreit Beckmann im Namen
der großen grauen Zahl von Heimkehrern. Alle anderen
untergebracht. Alle mit dem festen Willen, sich durchzusetzen, einzufügen, anzupassen, abzusichern – auf der
Strecke geblieben: nur Beckmann ist geblieben, der auf
seine Fragen keine Antwort bekommt.
Der Krieg ruiniert den Menschen, zerstört ihn.
Mit Paul Bäumer z. B. hat Remarque diesen „zerstörten“
Menschen im „Im Westen nichts Neues“ präsentiert. Dieser Roman ist damit das erste bedeutende Zeugnis der
sogenannten „lost generation“, der verlorenen Generation, auf deutschem Boden. Nach der Zerschlagung des
faschistischen Deutschlands erscheint in der Literatur der
BRD wieder der Held, der sich verloren fühlt. Wolfgang
Borchert stand an der Wiege dieses Helden. Den Namen
des Heimkehrer – Helden hatte Borchert seinem Freunde, dem Bildhauer Curt Beckmann entliehen. Borchert
gab seinem Theaterstück den doppelten Titel: “Draußen
vor der Tür. Ein Stück, das kein Theater spielen und kein
Publikum sehen will“. Aber es wurde im Februar 1947,
dank den Bemühungen einiger Hamburger Schriftsteller,
im Rundfunk gesendet. Die erschütterten Hörer überhauften Borchert mit Briefen. „Wenn kein Theater Deine Stücke spielen will, und wenn Du nie Beifall hören
wirst, – schrieb einer von ihnen, – gehe einerlei Deines
Weges, schreibe für uns, für Deine Kameraden, schreibe
für Tausende Beckmanns, die einsam und vernachlässigt
sind, für diejenigen, die nach Hause zurückkamen und
kein Zuhause fanden“.
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Der ehemalige Hitlersoldat Borchert wurde
Schriftsteller und erinnerte sich mit scharfem Schmerz
an das Leiden, das den Völkern der deutsche Faschismus
mitbrachte.
Die Vergangenheit brachte Borchert zur Verzweiflung, die Zukunft flößte ihm die Rettung ein. Im Grunde
genommen ist Borcherts ganzes Schaffen ein Notsignal.
Den Menschen können nur die Menschen helfen. Und
Borchert weiß das.
Borchert schuf seine eigene Poetik. Er hat seine
eigene Vorstellung von den Farben, Gerüchen, Lauten,
von der Erde und vom Himmel.
Im Stück streiten Beckmann und der Oberst miteinander darüber, wie der Mond ist, und dieser Streit
beweist, dass man die Welt verschiedenartig betrachten
kann. Für den Obersten ist der Mond „wie ’n Honigbrot!
Wie ’n Eierkuchen. War immer gelb der Mond“.
Für Beckmann ist er weiß und krank wie die limonadenfleckigen Toten, denen der Krieg tötete. „Nein,
Herr Oberst, der Mond ist weiß in diesen Nächten, wo die
Toten kommen, und ihr blutiges Gestöhn stinkt scharf wie
Katzendreck bis in den weißen kranken runden Mond.
Blut. Blut“. Und die Erde? Wonach riecht sie? Für Borchert ist die Erde immer Erde, die Menschen sind überall
Menschen: sowohl in Deutschland als auch in Russland,
auf dem ganzen Erdball.
Die Laute und Farben bekommen in Borcherts
Schaffen nicht selten den symbolischen Sinn. Darunter
aber versteht er das Leben, das den Menschen gehören
muss und das ihnen der Krieg geraubt hat.
Für Borcherts Generation ist der Kuckucksschrei
die Kennzeichnung des Schicksals. Die Kuckucke verlassen ihre Jungen ohne dafür zu sorgen, ob sie am Leben
bleiben. Das faschistische Deutschland warf seine Söhne
in den schrecklichen Strudel des Krieges. Und diejenigen, die am Leben blieben, können nicht das verderbliche Leere loswerden.
Eben deshalb ist es schwierig für sie die Liebe zu
gewinnen, nach der sie sich sehnen, Obdach, Zuhause,
Heimat zu finden. Diese Menschen wissen nicht, wie und
wozu sie leben, aber sie streben danach das zu erfahren.
Diese heimatlosen und verlorenen Menschen sind viel
besser als diejenigen, die glücklich sind.
In ihrem Suchen sieht Borchert die Gewähr der
Zukunft. Es kommt der Tag, an dem die Züge nicht mehr
ziellos fahren werden. Sie kommen in eine neue Stadt, in
die Stadt der Zukunft. Diese Stadt wird keine Türen haben, die für solche wie Beckmann, geschlossen werden.
Alle Türen werden für diejenigen, die mit guten Absich-
ten kommen, offen stehen. „Und die neue Stadt, das ist
die Stadt, in der die weisen Männer, die Lehrer und die
Minister nicht lügen, in der die Dichter sich von nichts
anderem verführen lassen, als von der Vernunft ihres
Herzens, das ist die Stadt, in der die Mütter nicht sterben
und die Mädchen keine Syphilis haben, die Stadt, in der
es keine Werkstätten für Prothesen und keine Rollstühle
gibt, das ist die Stadt, in der der Regen Regen genannt
wird und die Sonne Sonne, die Stadt, in der es keine Keller gibt, in denen blassgesichtige Kinder nachts von Ratten angefressen werden, und in der es keine Dachböden
gibt, in denen sich die Väter erhängen, weil die Frauen
kein Brot auf den Tisch stellen können, das ist die Stadt,
in der die Jünglinge nicht blind und nicht einarmig sind
und in der es keine Generäle gibt, das ist die neue, die
großartige Stadt, in der sich alle hören und sehen und
in der alle verstehen, mon coeur, the night, your heart,
the day, der Tag, die Nacht, das Herz“. Von der Zukunft
träumend, dachte er an sein Volk, an das Volk der ganzen
Welt.
Sein Schaffen ist ein Bestandteil des Realismus
des XX. Jahrhunderts. Was das Wesen der inneren Wahrheit angeht, die Borchert verteidigt hat, bleibt bis jetzt das
Wesen solcher humanistischen und realistischen Werke
wie z.B. „Haus ohne Hüter“ von H.Böll, oder „Der Tod
in Rom“ von W. Köppen. Wolfgang Borchert hat den
Weg den anderen gebahnt.
In seiner letzten Arbeit „Sag nein“ wendet sich
Borchert mit einem Aufruf an die Arbeiter und Bauern
und Angestellten, an die Gelehrte, Dichter, Ärzte und
Geistlichen dem Krieg Nein zu sagen, unter allen Umständen Nein, wenn jemals wieder zum Kriege gerüstet
wird. Nein zu sagen, „wenn sie dir morgen befehlen…,
dann gibt es nur eins: Sag Nein!“ Es ist das abschließende Vermächtnis des jungen Dichters.
Für die Abwendung der Gefahr eines vernichtenden
Infernos, für die friedliche Zukunft der Menschheit ist von
größter Bedeutung die gemeinsame Arbeit für die Bewahrung des Weltfriedens unter der heutigen Bedingungen zu
führen, denn Frieden ist unser höchstens Gut.
Literatur
1. Haase, H. Geschichte der deutschen Literatur. Volk und
Wissen. Volkseigene Verlag, Berlin, 1990. 206 S.
2. Göschel, H. Meyers Universallexikon. Bibliographisches
Institut, Leipzig, 1997. 178 S.
3. Borchert, W. Ausgewählte Werke. Insel – Verlag, Leipzig,
1990. 123 S.
4. Neugebauer, Heinz. Schriftsteller der Gegenwart. Volk und
Wissen. Volkseigene Verlag, Berlin, 1986. 265 S.
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