Wolfdietrich Schnurre: "Das Begräbnis"

Günter Helmes
Wolfdietrich Schnurre: Das Begräbnis
Reclam
Wolfdietrich Schnurre: Das Begräbnis
Von Günter Helmes
Diese Kurzgeschichte, eine der frühesten Arbeiten Schnurres nach dem Zweiten
Weltkrieg, ist aus mancherlei Gründen »fast schon legendär«1. So eröffnete Schnurre
mit dieser Kurzgeschichte das Lese-Ritual der Treffen der Gruppe 47 auf deren
Gründungstagung im September 1947 am Bannwaldsee und las sie auf Wunsch von
Hans Werner Richter dann auch noch einmal im September 1977 zum Abschluss der
offiziellen Abschiedstagung der Gruppe in Saulgau. Und als Das Begräbnis 1948
erstmals in Ja, der – so der Untertitel – Zeitung der jungen Generation, gedruckt
wurde, sah sich die Redaktion sogar veranlasst, dem Abdruck die folgende salvierende
Bemerkung voranzustellen:
Mit der vorliegenden Arbeit, die auch in der Redaktion heftige Debatten
hervorgerufen hat, unternimmt es Wolfdietrich Schnurre, an einem extremen
Beispiel die Verzweiflung dieser Zeit darzustellen. Seine Geschichte ist keine
Negation, sondern ein literarischer Versuch, die Leser aufzurütteln.2
Dass die Redaktion von Ja an dieser Vorbemerkung gut getan hatte, kann nicht zuletzt
daran abgelesen werden, dass die Kurzgeschichte Schnurre damals sogar den Vorwurf
der Gotteslästerung eintrug.3
Entstanden ist Das Begräbnis in den Jahren 1945 oder 1946,4 doch hat der Autor
die Kurzgeschichte nach eigenen Angaben »an die zwölf, dreizehn Male«5 überarbeitet,
bevor er sie dann im Kollegenkreis vortrug und veröffentlichte. Diese an der Kürze des
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© 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Textes bemessen ungewöhnlich intensiven Überarbeitungen dürften vor allem im
Frühjahr und Sommer 1947 erfolgt sein und stehen gewiss in Zusammenhang mit
Debatten, die Schnurre Ende 1946, Anfang 1947 mit Manfred Hausmann über die
Themen »Schuld« und »Verantwortung«6 und Anfang 1947 mit Walter Kolbenhoff über
die Themen »Autorschaft« und »Aufgabe und Funktion der Literatur« ausgetragen hat –
und die Schnurre schließlich vor allem zu einem radikalen schriftstellerischen
Neuanfang veranlassten.7
Im Einzelnen: Der Endvierziger Hausmann hatte mit Blick auf die
nationalsozialistische Barbarei von der Jugend Schuld gesprochen, »die sich so willenlos
und so gedankenlos den […] Machtbesessenen auslieferte« und immer »weitergeglaubt,
weitergehorcht und weitergetrommelt«8 habe. Dem hielt Schnurre in seiner Antwort
Jugend und Schuld kategorisch entgegen:
Sehen Sie, da, glauben wir, liegt Ihre, der Erwachsenen Schuld. […] Ihr
schwiegt. Ihr wartetet ab. Und als es zu Ende war, kamt Ihr aus Euren idyllischen
Villen und unversehrten Häusern hervor, stelltet Euch dem ›demokratischen
Neuaufbau‹ zur Verfügung, nanntet Euch ›innere Emigration‹ und redetet zu uns
[…] von Schuld.9
Schnurres Differenzen mit älteren Kollegen waren aber nicht nur moralisch-politischer
Natur, sondern sie betrafen auch das Selbstverständnis als Autor. Im Krieg hatte sich
Schnurre in ein elitäres Autor- und Literaturverständnis mit Ewigkeitsansprüchen
geflüchtet, dem es um »Kunst« und um den »Künstler« ging und das in Hesse und
Rilke, keinesfalls aber im ›bloßen‹ »Schriftsteller« à la Heinrich Mann seine Vorbilder
sah. Nun, im zweiten Jahr nach Kriegsende, versuchte Schnurre, »diese einmal
gewonnene geistige Haltung zu bewahren«10. Bereits in Jugend und Schuld votierte er
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für den Rückzug des Einzelnen aus der Gesellschaft, für eine rigide Abgrenzung von der
so genannten Masse und für Selbstbesinnung, und im wenige Wochen später
erschienenen Beitrag Kunst und Künstler heißt es dann programmatisch: »Der Künstler
[…] hat nur einen Feind; und das ist die Masse.«11 Das brachte den zwölf Jahre älteren
Walter Kolbenhoff auf den Plan, der schon vor 1933 ein prononcierter Vertreter einer
littérature engagée gewesen war. Kolbenhoff warf Schnurre »Weltfremdheit und
Verantwortungslosigkeit«12 und eine Flucht vor den Problemen der Zeit vor, einen
Rückzug »in den elfenbeinernen Turm«13 eben.
Schnurre öffnete sich dem älteren Kollegen, sah ein, dass die Zeit kein
»Narkotikum« brauchte,14 schrieb »Sie haben keine Ahnung was Liebe ist« wieder und
wieder um, bis Das Begräbnis dabei herauskam – und wurde so zu einem Mitbegründer
jenes »Magischen Realismus«, der ihm zufolge in dem »Dreh« besteht, »die
Wirklichkeit um genau jenen einen unwirklichen Zentimeter zu überhöhen«15. Dreißig
Jahre später hat sich Schnurre an diese intensive, wechselvolle und widersprüchliche
Zeit wie folgt erinnert:
Auf der einen Seite versuchte man, den großen abendländischen Rettungsspuk
mitzumachen, und numerierte […] ›das Bleibende‹ und schrieb
mythenstaubaufwirbelnde Erzählungen und Naturbübereien […]. Daneben jedoch
[…], am selben Tag oft, […] schrieb man auf, was man sah, versuchte man die
Natur zu desavouieren, begann man den eigenen unregelmäßigen Herztakt, das
Würgen im Hals, den Blutgeschmack auf der Zunge zu buchstabieren.16
Wie in Borcherts Draußen vor der Tür (1947) oder Hans Werner Richters Sie fielen aus
Gottes Hand (1951) finden sich auch in der »realistisch-grotesken«17 Kurzgeschichte
Das Begräbnis, diesem »Muster eines Kahlschlagtextes«18, ausnahmslos einfache, der
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Alltags- und Umgangssprache nachgebildete parataktische Sätze mit Ellipsen zuhauf.
Auf Ausschmückungen jedweder Art und auf einlässliche Beschreibungen wird
verzichtet. Schon der Satz mit seinen ungezählten Zeilenumbrüchen signalisiert ein
serielles Stakkato an Bestandsaufnahmen19 und lässt u. a. auf eine fragmentarisierte
Wirklichkeit bzw. eine negative, Verwurzelungen im Metaphysischen oder in
innerweltlichen (Denk-)Systemen verneinende Deutung dieser Wirklichkeit schließen.
Das Begräbnis entspricht damit – zumindest sprachlich – exakt den Forderungen an
eine Kurzgeschichte, die Schnurre Ende der 50er-Jahre einmal zusammengetragen
hat.20 Und inhaltlich bzw. dem Gehalt nach?
Man wird – zum Ersten – wohl nicht sagen können, dass die Kurzgeschichte
»Schnurres Zweifel an der Existenz eines Gottes [spiegele; G. H.], der ein Ereignis wie
den Krieg zulassen konnte«21. Dagegen spricht neben einer als solchen
selbstverständlich mit Skepsis zu begegnenden Selbstauslegung des Autors22 die
Beobachtung, dass im Text die Existenz Gottes letztlich von niemandem grundsätzlich
bezweifelt wird. Das zeigen e negativo die Reaktionen auf die Nachricht von Gottes
Ableben. Diese Reaktionen reichen vom »Siehste […], hats ihn auch geschnappt, den
Alten; nu ja« (10) des Ich-Erzählers über das gleichgültig-mürrische »Na und –? […]
vielleicht noch n Kranz kaufen, hm?« (10) seiner Frau, das unaufgeregtüberraschte
»Nanu; heut erst?« (10) eines Passanten, das auf seine Art mitfühlende, doch Gottes
Machtlosigkeit bzw. Entmachtung unterstreichende »Armer Deubel. Kein Wunder« (11)
des Zeitungsmanns, das hämische »Hat er davon« (11) des Schutzmanns, das
abgründig-ahnungslose »n gewissen Klott oder Gott oder so ähnlich« (11) des Pfarrers,
das durchaus auch auf Gott zu beziehende »Idiot« (13) des Kittelmanns, das
ungehalten-desinteressierte »Los, Leute […], haut hin« (14) und »Soll ich n das
wissen« (15) der Inspektorin bis hin zum vergnügungsapathischen »Geben se n heut
im ODEON?« (16) eines der Totengräber. Unter diesen Reaktionen fällt aber, gemessen
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an einem christlich-abendländischen Selbstverständnis, allein diejenige des IchErzählers nicht gänzlich aus dem Rahmen. Er immerhin ist noch respektvoll-mitfühlend,
empfindet sogleich die Verpflichtung, zur Beerdigung zu gehen, und unterbricht seine
Arbeit, erwartet auf der Beerdigung hoch gestellte Personen und will sich entsprechend
kleiden (»Franzens Zylinder«, 10), ist sehr irritiert, dass »draußen« alles »wie immer«
ist und weder die einschlägige Presse (10)23 noch das Radio (11)24 berichten etc. Für
den dergestalt traditionsverhafteten Ich-Erzähler ist Gott also, und sei es auch nur aus
Gewohnheit, immer noch eine feste Größe, eine über allem und allen thronende
Vaterfigur.25 Als diese wird er aber gerade von denjenigen nicht mehr er- bzw.
anerkannt, die übergreifende gesellschaftliche Ordnungs- und Sinnstiftungsfunktionen
haben und die doch, alternativlos, wie der Schutzmann »im Nebel« (11) stehen und
also weder einen Ein- nocheinen Überblick haben, wie der Pfarrer vor Gleichgültigkeit26,
Identitätsverlust27 und Antriebsarmut28 starren oder wie die Inspektorin nur
technokratisch agieren. Kann es da verwundern, dass die der Orientierung bedürfende
Allgemeinheit29 kurzatmig nur noch ans Geld (die Ehefrau), an Sensationen (der
Passant) oder ans Vergnügen (die Totengräber) denken kann?
Auffällig ist – zum Zweiten – die »Stimmung der Trostlosigkeit und […]
Unbarmherzigkeit, der Ausweglosigkeit und […] Lieblosigkeit«30, die über allem liegt.
Von einer gewissen Unbarmherzigkeit und Lieblosigkeit ist sogar der ansonsten von
allen anderen Figuren unterschiedene Ich-Erzähler nicht frei, wie sein Umgang mit
seiner Frau belegt.31 Gemessen an der eigensüchtigen Ignoranz freilich, die
beispielsweise der Pfarrer an den Tag legt,32 ist der Ich-Erzähler immer noch ein Muster
an Aufmerksamkeit.
Zum Dritten ist auf die extensive Durchsetzung mit Militärischem hinzuweisen,
durch die die erzählte Wirklichkeit trotz Kriegsende33 immer noch und scheinbar
naturwüchsig bestimmt ist: Plätze und Straßen heißen »Paradeplatz« (11),
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