1. Die Wahrheit und das, was wirklich passierte - David Blum

1. Die Wahrheit und das, was wirklich
passierte
Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer.
(Aischylos)
„Als der Krieg aus war, kam der Soldat nach Hause. Aber er hatte kein Brot. Da sah er
einen, der hatte Brot. Den schlug er tot. // Du darfst doch keinen totschlagen, sagte der
Richter. // Warum nicht, fragte der Soldat.“ (Borchert 2008: 82) – in dieser Lesebuchgeschichte zeichnete Wolfgang Borchert kurz vor seinem Tod im Jahr 1947 den Krieg als
totale Entgrenzung, der auch dann noch in und zwischen den Menschen wütet, wenn die
Instanz, die sie in den Kampf entsendet hat – der Staat, die Partei, der Führer – schon
längst gefallen ist. Borchert verortete deshalb den Widerstand, die Absage an jeden Waffengang und damit die Verantwortung für den Frieden in seinem Manifest Dann gibt es
nur eins! unmissverständlich auf der Seite des Individuums: „Sag NEIN!“ (ebd.: 110).
62 Jahre später unterhält die Bundeswehr zehn Auslandseinsätze in Europa, Afrika und Asien. Unter der Flagge der NATO, der UNO und der EU bekämpfen deutsche
Streitkräfte u. a. am Horn von Afrika Piraten (EU NAVFOR Somalia – Operation Atalanta), entwaffnen die Kombattanten in Sudan (UNMIS) und sorgen für den Erhalt der
öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Kosovo (KFOR). Der überwiegende Teil der
insgesamt 7.110 sich im Ausland befindlichen Soldaten ist jedoch im Verbund mit der
International Security Assistance Force (ISAF) am Hindukusch stationiert.
Bei Borchert ist der Krieg erfahrbar, er hat ihn selbst erfahren. Der totschlagende Soldat
kehrt in die Heimat zurück. Die Front weicht hinter die Landesgrenzen zurück. Die Bomben regnen auf die Dächer über den Köpfen der deutschen Bevölkerung. Berlin. Hamburg.
Dresden.
Die Auseinandersetzungen in Afghanistan, wo sich in dieser Zeit dem ehemaligen Verteidigungsminister Dr. Peter Struck zufolge Deutschlands vorderste Verteidigungslinie
befindet, werden diese Städte nie erreichen. Selbst der eigentliche Auslöser des Einsatzes,
die terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 in den USA, ist hierzulande nur ein
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Fernsehbild, eine Schlagzeile, eine Rundfunkansprache. Der unterstützende Soldat kehrt
mit PTBS zurück. Die Stabilität im Süden des Landes kann nicht mehr aufrecht erhalten
werden. Die Allianz antwortet mit gezielten Luftschlägen. Kabul. Kundus. Kandahar.
Jeder Bundesbürger legitimiert diesen Einsatz mit seiner Wählerstimme. Um sich
eine Meinung bilden zu können, ist er darauf angewiesen, die Wahrheit über die Hintergründe, Zustände und Folgen der Missionen zu erfahren. Aber was ist die Wahrheit?
Der Wahrheitsbegriff wird seit mehreren tausend Jahren kontrovers diskutiert.
Einigkeit besteht wohl höchstens darüber, dass die Wahrheit nicht identisch ist mit dem,
was wirklich passiert ist. Die Vermittlung von Realität ist immer mit einer Interpretationsleistung verbunden. Sie unterliegt der subjektiven Sichtweise, ist an ein Medium
angepasst und für einen Empfänger konzipiert. Deswegen muss Wahrheit immer als konstruiert angesehen werden, sie hat viele Gesichter.1
Der Bundeswehreinsatz in Afghanistan ist für die allermeisten deutschen Staatsbürger
außerhalb jeder empirischen Erfahrbarkeit. Der Diskurs stützt sich v. a. auf das, was medial über die zentralasiatische Region verbreitet wird. Eine wichtige Position in diesem
Prozess kommt den Bundesministern der Verteidigung zu. Ihre Aufgabe besteht u. a.
maßgeblich darin, sicherheitspolitische Entscheidungen der Regierung in der Öffentlichkeit zu vertreten. Darüber hinaus stellen sie allerdings auch eine der wenigen Quellen
dar, die Informationen über Kampfhandlungen und zivile Projekte liefern können.
Diese Arbeit verfolgt die Frage, wie die Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt
(IBuK) auf sprachlicher Ebene agieren, wenn politische Ziele und Faktenlage in Widerspruch geraten. Wird dann relativiert oder beschönigt? Wie verhalten sie sich, wenn
Unsicherheit über die verfügbaren Informationen besteht? Wird dies eingeräumt oder
vielmehr instrumentalisiert? Und mit welchem Geltungsanspruch werden die Äußerungen versehen? Gerieren sich die Minister als Verkünder einer unumstößlichen Wahrheit?
Oder reflektieren sie, dass es sich bei den eigenen Einschätzung nur um eine Annäherung
an die empirischen Begebenheiten handeln kann?
Zur Beantwortung dieser Fragen wurden die Aussagen der drei ehemaligen Minister im
BMVg, Peter Struck, Dr. Franz Josef Jung und Karl-Theodor zu Guttenberg2 , in einer
speziellen Vermittlungsform, dem klassischen Zeitungsinterview, zwischen 2001 und 2011
untersucht.
1
2
Siehe dazu auch den Vortrag Die Wahrheit und was wirklich passierte von Frank Rieger und Ron auf
dem 24. Chaos Communication Congress (24C3) vom 29.12.2007, im Internet unter http://events.
ccc.de/congress/2007/Fahrplan/events/2334.en.html (Stand: 16.04.2011) zu finden.
Eigentlich Karl Theodor Xerox Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Freiherr
von und zu Guttenberg, hier und in der Folge aber kurz: Karl-Theodor zu Guttenberg.
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Der Schweizer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (2001) hat festgestellt, dass
Zeichen arbiträr sind, sie also keine Bedeutung besitzen, die ihnen ursprünglich zukommt.
Die Verbindung zwischen dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten wird erst durch die
Sprachverwendung (parole) etabliert. Die Bedeutung ist jedoch nicht als Entität zu fassen,
sie ergibt sich vielmehr nur über die Differenz zu anderen bedeutungstragenden Einheiten
eines Sprachsystems (langue). Eine derartige Beschreibung bezieht sich allerdings nur auf
ein bestimmtes Sprachstadium zu einem bestimmten Zeitpunkt (synchrone Ebene).
Der relationale Charakter von Signifikant und Signifikat tritt auch im Laufe der
Zeit im Sprachwandel (diachrone Ebene) deutlich zu Tage. Sprache ist damit sowohl
der Kontinuität als auch der Transformation unterworfen. Die Bedeutung eines Zeichens
kann sich unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen essentiell verändern.
Politiker, denen es darum geht, Mehrheiten von ihren Ideen zu überzeugen, können sich
die prinzipielle Ungebundenheit des Zeichens zunutze machen, indem sie Zustände oder
Verhalten mit positiver besetzteren Worten versehen. Diese Aufwertung durch gezielte Sprachverwendung wird als Beschönigung bezeichnet. Das entsprechende sprachliche
Phänomen, der Euphemismus, wird in Kapitel 2 vorgestellt. Dabei wird zunächst darauf
eingegangen, welcher Motivation Euphemismen im alltäglichen Sprachgebrauch entspringen (Abschnitt 2.1) und auf welche Art und Weise sie gebildet werden (2.3). Abschnitt
2.4 zeigt die spezielle Funktion von Beschönigungen innerhalb der Sprache der Politik,
bevor zum Schluss des Kapitels auf die Vermittlung militärischer Konflikte eingegangen
wird (2.5).
Wie sich zeigen wird, kann das euphemistische Potential sprachlicher Einheiten nur über
ihren Kontext erschlossen werden. Aus diesem Grund ist es erforderlich, in Kapitel 3 ausführlich auf den Verlauf des Afghanistan-Konflikts einzugehen, dessen Ursprünge bis zur
Besatzung des Landes durch sowjetische Truppen in den 1980er Jahren zurückreichen.
Weiterhin wird auf aktuelle Entwicklungen nach dem 11. September 2001 eingegangen
(3.3) und die Rolle der Bundeswehr innerhalb der Missionen zur Stabilisierung des Landes (ISAF) und zur Bekämpfung des Terrorismus im Rahmen der Operation Enduring
Freedom (OEF) beleuchtet (3.5).
Die anschließende Untersuchung der in den Interviews verwendeten Euphemismen setzt
mit der Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes und der Darlegung der Vorgehensweise ein (4.1). Darauf wird in Abschnitt 4.2 zunächst auf grundlegende Strategien der
Benennung von Kriegsgerät und Truppenteilen eingegangen.
Im Folgenden werden unterschiedliche Aspekte des Sprechens über den Einsatz im Mittelpunkt stehen: Abschnitt 4.3 diskutiert Euphemismen, die im Zuge der Darstellung der
Gründe, welche für die Entsendung der deutschen Streitkräfte als ausschlaggebend erach-
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tet wurden, von den Ministern gebraucht werden. Im Anschluss fokussiert die Analyse
die Benennung und Charakterisierung der am Konflikt beteiligten Parteien bzw. ihrer
militärischen Vorgehensweise.
Bevor auf metasprachliche Aspekte der aufgezeigten Wortwahl eingegangen wird (4.6),
steht Abschnitt 4.5 ganz im Zeichen der Debatte um den grundsätzlichen Charakter der
Bundeswehreinsätze. An deren vorläufigem Ende, so wird sich zeigen, steht die Frage,
ob deutsche Truppen in Afghanistan nun wieder in einem Krieg kämpfen? Hier soll
abschließend in Kapitel 5 unter sprachwissenschaftlichen Gesichtspunkten eine Antwort
versucht werden.
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