1/16 1Mos 21,8-21 Müller, Kirstin | Feministisch predigen 29.09.2015 Michaelis und Tag aller Engel | Geburt Isaaks (Reihe I) Lieder: EG 324, 1+2, 10-14 Ich singe Dir mit Herz und Mund (Tageslied Erntedank, Brunn der Gnad) Kyrie 178.8 EG 142 Gott, aller Schöpfung heilger Herr (Tageslied) alternativ: Brunn allen Heils EG 140) EG 161+2+4 Die Nacht ist vorgedrungen (Strophe 2- dem alle Engel dienen!) EG 504 Himmel, Erde, Luft und Meer (Strophe 6: Drücke stets in meinen Sinn, was du bist und was ich bin!) In: „Durch Hohes und Tiefes“: 253 Lobe den Herrn, meine Seele, (korrespondiert mit Psalm 103) 134 Meine Hoffnung und meine Freude oder: Fürchte Dich nicht, EG 595 In: „Singen von Deiner Gerechtigkeit“: 83 Seid einander Segen (nach der Melodie Jesu meine Freude, EG 396) Liturgisch-Kreatives: Votum: • Gott hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen. (Psalm 91,11 LUTHER) • Gottes Engel haben den Auftrag, Dich auf allen Deinen Wegen zu bewahren (Psalm 91,11 BIGS) 2/16 Gloriavers: Wenn ich Dich anrufe, so erhörst Du mich und gibst meiner Seele große Kraft. (Ps 138,3 LUTHER) Psalm 103 (1-8,17-22) (im Wechsel Luther/BigS Spannend!): 1 Lobe den HERRN, meine Seele, und was in mir ist seinen heiligen Namen. 2 Segne die EWIGE, du meine Lebenskraft, und vergiss nicht, was sie dir Gutes getan hat: 3 Der dir alle Deine Sünde vergibt und heilet alle Deine Gebrechen, 4 die dein Leben aus dem Grab befreit, dich mit Güte und Barmherzigkeit krönt, 5 der deinen Mund fröhlich macht und du wieder jung wirst wie ein Adler 6 Gerechtigkeit bewirkt die EWIGE, spricht Recht allen, die unter Gewalt leiden. 7 Er hat seinen Wege Mose wissen lassen, die Kinder Israel sein Tun. 8 Barmherzig und gnädig ist Gott, geduldig und reich an Freundlichkeit. 17 Die Gnade der EWIGEN währt seit jeher und für immer über denen, die sie fürchten und seine Gerechtigkeit gilt Generationen, 18 allen, die seinen Bund bewahren und gedenken an seine Gebote, dass sie danach tun. 19 Die EWIGE hat ihren Thron im Himmel errichtet und ihr Königtum herrscht über das All. 20 Lobet den HERRN, ihr seine Engel, ihr starken Helden, die ihr seinen Befehl ausrichtet. 20 Segnet die EWIGE ihr Engel! Mächtige Kräfte die ihr Wort ausführen, damit der Klang ihres Wortes Gehör findet. 21 Lobe den HERRN, alle seine Heerscharen, seine Diener, die ihr seinen Willen tut. 22 Segnet die EWIGE, alle ihre Geschöpfe, an allen Orten, wo immer sie herrscht. 3/16 Lobe den HERRN, meine Seele. Segne die Ewige, Du meine Lebenskraft. (Ps 103, (1-8,17-22) Fett: LUTHER, nicht fett: BIGS) Evangelium Lukas 10, 17-20 oder Lukas 1, 26-38 – Ankündigung der Geburt Jesu, der Engel sagt zu Maria: Fürchte Dich nicht! Kollektengebet: Du Gott voller Güte und Licht! Wir danken Dir für das Licht dieses neuen Tages und für Deine Nähe, die uns tröstet und stärkt. Wir bitten Dich: Führe uns heraus aus allem, was uns eng und ängstlich macht. Öffne unsere Herzen und Sinne, damit wir Dein Wort verstehen und Zeichen Deiner Freundlichkeit mitten unter uns wahrnehmen. In der Stille überlassen wir uns für ein paar Atemzüge Dir Du Gott voller Güte und Licht, sieh uns. Höre uns. Das bitten wir durch Jesus Christus, unseren Bruder, der mit Dir lebt und lebendig macht heute und morgen und in Ewigkeit. Amen. Fürbittgebet: Wir bringen unseren Dank und unsere Bitten vor Gott: GOTT, wir danken Dir für alles, womit Du uns an Leib und Seele ernährst: für Brot und Rosen, für die Stille und für Dein gutes Wort, für gute Gemeinschaft untereinander und für neue Kraft, um zu leben und zu handeln. 4/16 Für den Weg, der vor uns liegt, bitten wir: Sei mit uns. Lass uns nicht aufhören, nach Dir in der Welt zu fragen. Schenke uns Deinen Geist der Einfachheit und Klarheit. Erfülle uns mit Freude, immer wieder neu. Wir rufen zu Dir: Meine Hoffnung und meine Freude GOTT, wir danken Dir für alles, wodurch Du uns die Angst vor Fremdem nimmst und die Sehnsucht nach guter Gemeinschaft wachsen lässt. Wir bitten Dich: Lass uns aufmerksam miteinander leben, gib uns Phantasie, um frohgemut aus Fehlern zu lernen und vergib, wenn wir einander Schaden zufügen. Schenke uns Deinen Geist der Einfachheit und Klarheit. Erfülle uns mit Freude, immer wieder neu. Wir rufen zu Dir: Meine Hoffnung und meine Freude GOTT, wir danken Dir für alle Liebe, die heute auf dieser Erde von Menschen gelebt wird, für alle mutigen Taten und stillen Zärtlichkeiten. Wir bitten Dich: Stärke alle, die sich um ihre Familien sorgen, gib den Kranken Trost und neue Lebenskraft, geleite die Sterbenden und segne, die heute in diese Welt geboren werden. Wir rufen zu Dir: Meine Hoffnung und meine Freude Dir vertrauen wir uns an, uns und die Menschen, die wir lieben und diese ganze Welt in ihrer Schönheit und ihrem Schmerz: Vater unser im Himmel 5/16 Bibeltext aus der Bibel in gerechter Sprache: (1. Mose 21, 8-21) (= Predigttext/ BigS Ich habe die Namensbedeutungen in Klammern eingefügt, damit sie gelesen werden können, denn sie sind Deutungen.) 8 Das Kind / Isaak (Jauchzen, Lachen) wuchs heran und wurde abgestillt. Abraham (Vater einer lärmenden Menge von Völkern) machte ein großes Fest an dem Tag, an dem Isaak (Jauchzen/Lachen) abgestillt wurde. 9 Da sah Sara (Befehlshaberin), wie der Sohn Hagars(Fremde), der Ägypterin, den diese dem Abraham geboren hatte, herumjauchzte(dieselbe Wurzel wie Isaak!), 10 und sie sagte zu Abraham: »Verstoße diese Sklavin samt ihrem Sohn. Denn der Sohn dieser Sklavin soll nicht mit meinem Sohn, mit Isaak, das Erbe teilen.« 11 Das war ein böses Wort in den Augen Abrahams – seines Sohnes wegen. 12 Doch Gott sagte zu Abraham: »Sieh es nicht als böse an im Blick auf den Knaben und auf deine Sklavin. In allem, was Sara zu dir sagt, hör auf ihre Stimme. Denn nach Isaak soll deine Nachkommenschaft benannt werden. 13 Aber auch den Sohn der Sklavin werde ich zu einem Volk machen. Denn er ist dein Nachkomme.« 14 Da machte sich Abraham am nächsten Morgen früh auf, nahm Brot und einen Ledersack voll Wasser, gab es der Hagar, indem er es ihr auf die Schulter legte, dazu das Kind. Dann schickte er sie fort. Sie ging und irrte in der Wüste von Beërscheba umher. 15 Als das Wasser aus dem Sack zu Ende war, warf sie das Kind unter einen der Sträucher, 16 ging weg und setzte sich gegenüber, ungefähr einen Bogenschuss weit. Denn sie dachte: »Ich kann nicht zusehen, wie das Kind stirbt.« Sie setzte sich gegenüber, erhob laut ihre Stimme und weinte. 17 Da hörte Gott die Stimme des Jungen, und Gottes Bote rief Hagar vom Himmel her an und sagte zu ihr: »Was hast du, Hagar? Fürchte dich nicht, denn Gott hat die Stimme des Jungen gehört, da drüben, wo er ist. 18 Steh auf, nimm den Knaben hoch, zeige deine Kraft an ihm. Denn zu einem großen Volk will ich ihn machen.« 19 Da öffnete Gott ihre Augen und sie sah einen Brunnen mit Wasser. Sie ging hin, füllte den Sack mit Wasser und gab dem Jungen zu trinken. 20 Und es war so, dass Gott mit dem Knaben war. Er wuchs heran, wohnte in der Wüste und wurde ein Bogenschütze. 21 Er wohnte in der Wüste Paran, und seine Mutter nahm für ihn eine Frau aus dem Land Ägypten. (Übersetzung: Bibel in gerechter Sprache) 6/16 Eigener Hintergrund und Vorüberlegungen: Als Pfarrerin für Frauenarbeit in der Ev.-luth. Landeskirche Braunschweig habe ich keinen festen Predigtort. So stelle ich mir vor, dass die Predigt von denen gehört wird, die sie hören wollen. Ganz gleich, wo. Oft begegnet mir, dass die Zuhörenden wie selbstverständlich davon ausgehen, dass eine Pfarrerin für Frauenarbeit über Frauengestalten predigt. Ob das die Ohren eher öffnet oder verschließt, vermag ich nicht genau zu sagen. Der Michaelistag fällt zwischen den 17. Sonntag nach Trinitatis und Erntedank. Ich habe auch im Umfeld Liedern und Texten geschaut und z.B. den Gloriavers gefunden: Wenn ich Dich anrufe, so erhörst Du mich und gibst meiner Seele große Kraft. (Ps 138,3 LUTHER) Das Zusammenspiel von Himmelskraft und Erdenkraft, Menschenenergie und Engelsenergie ist der Rahmen, in dem sich dieser Gottesdienst bewegt – bewegen lässt. „Fürchte dich nicht“ ist klassisches Weihnachtsengelwort in christlichen Kirchen. Hier – am Wüstenbrunnen – hat es seine Wurzel. Mir erscheint es sinnvoll, die Kontinuität des „Fürchte Dich nicht“ – Engelwortes zu erwähnen. Deshalb schlage ich bewusst den Bogen zum Weihnachtsevangelium (Lukas 1, 26-38) Und dem Adventslied (EG 16), in dem es heißt: Dem alle Engel dienen, wird nun ein Kind und Knecht. Ist ein bisschen gewagt in dieser Jahreszeit, aber auch schön! Außerdem kommt das Bogenschlagen, Bogenschießen in der Geschichte vor! Ich habe noch nie für einen Gottesdienst so viel nachgeschlagen und gegoogelt, wie für diesen. Wie ist das eigentlich mit dem Namen des Sonntags? Wer ist wie Du, Gott? Was tönt durch den hebräische Namen durch? Was bedeutet es, wenn ein Sonntag mit einer Frage überschrieben ist? Wie steht es mit der Personalität der Engel? Was tönt durch sie durch von Gott zu Mensch aber auch durch Raum und Zeit und Dauer? Wenn das Wort Erz-Engel sich aus dem griechischen arche/Anfang ableitet, was beginnt dann? Michael hat einen weiten Kontext: „Zu dieser Zeit erhebt sich Michael, die große herrschende Gestalt, die für Dein Volk dasteht“ (Dan 12,1 BIGS) – endzeitlicher Retter. Michael ist auch endzeitlicher Kämpfer, Frau-mit-Kind-befreier und Drachenbezwinger (Offb 12+20). Er stürzt Satan auf die Erde. Im Koran (Sure 2,92) wird er als Engel genannt. Der Legende nach soll Michael Eva nach der Vertreibung aus dem Paradies auf Gottes Geheiß getröstet haben. (mehr dazu: Ökumenisches Heiligenlexikon) 7/16 „Michaels Energie fördert klares Erkennen und stärkt innere Kraft und Mut.“(www.lichtkreis.at) Auch Hagars Kontext ist bemerkenswert. Sie spielt Ihre Hauptrolle im Islam/Koran als Stammmutter. In jüdisch-christlicher Tradition ist sie nur eine Hintergrundfigur. Im Islam bringt der Engel Hagar und Ismael nach Mekka. „Hagars Suche nach Wasser in der Wüste wird von den Muslimen bei der Haddsch, der Wallfahrt nach Mekka, symbolisch nachvollzogen. Die heilige Quelle Zamzam ist nach islamischer Auffassung die an Hagar in ihrer äußersten Not durch Gott (Allah) geschenkte Quelle. Ismail wird in der Folge zum Stammvater der Araber, er und sein Vater gelten als Propheten des Islams. Die Gräber Hagars und Ismails sollen sich innerhalb der Ḥaṭīm genannten halbkreisförmigen weißen Marmormauer an der Nordwestwand der Kaaba befinden.“ (Quelle: Wikipedia, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Hagar ) Und natürlich gibt es auch noch ganz viel zu Ismael, Abraham, Sarah und Isaak zu sagen. Puh! Die Urgeschichte hat es wirklich dauerhaft in sich! Und stellt viele Fragen! Predigt: (Die Fragen können von einer anderen Stimme gelesen werden, sie sind im Text kursiv.) Der Engel fragt: Was hast Du, Hagar? Das fragst Du mich im Ernst? Dort drüben liegt mein Sohn in der glühenden Sonne. Hörst Du sein Schreien? Immer leiser wird es: Wasser! Durst! Er wird sterben! Ich halte das nicht aus. Und der Engel sagt: Fürchte Dich nicht. Gott hat sein Schreien gehört. Sei Du jetzt stark und steh auf. Und Hagar sieht einen Brunnen, wo eben nur Sand und Ödnis waren. Und Hagar steht auf. Sie schöpft Wasser aus dem Brunnen. Sie gibt ihrem Sohn zu trinken. Er überlebt. Sie überlebt. Sein Name Ismael – Gott hört – hat seine volle, lebensrettende Kraft entfaltet. 8/16 Unverhofft und wunderbar kann Rettung sein, wenn Gott hört und mensch sieht. Es braucht allerdings Boten, Übermittlerinnen, Engel, damit das möglich ist und wirklich wird. Diese „Übermittlungsinstanzen“ geraten heute, am MichaelisEngelTag ins Blickfeld. Engel sind beliebte Flügelwesen. Sie helfen und beschützen. Viele Menschen glauben an einen persönlichen Schutzengel, der auf sie aufpasst. Er gibt ihnen das Gefühl, dass Gott sie sieht und hört. In der biblischen Erzählung von Hagar, Ismael, Sarah, Isaak und Abraham spielt das Fragen beim Beschützen und Retten eine Rolle. Der Engel begegnet Hagar mit der Frage: Was hast Du? Mit dieser Frage beginnt der Umschwung vom Lebensfeindlichen ins Lebensfreundliche. Der Engelname Michael, der diesen Sonntag überschreibt, ist selbst eine Frage ist: Wer ist wie Gott? Fragen sind offenbar wichtig. Möglicherweise sind sie sogar wichtiger als Antworten. Denn Fragen machen offen und bereit zu hören und zu sehen. Gottes Dasein in der Welt wahrzunehmen. Dafür steht der Engel. Deshalb nähere ich mich noch einmal fragend der Erzählung. Warum wird Hagar, die Fremde, die ägyptische Sklavin in die Wüste geschickt? Was ist da eigentlich los? Schon einmal – so wird es wenige Kapitel (Genesis 16) zuvor erzählt – flüchtet die schwangere Hagar in die Wüste. Schon einmal begegnet ihr ein Gottesbote. Schon einmal wird sie gefragt: Hagar, Du Sklavin Sarais, woher kommst du, wohin willst Du? Als Antwort wird sie zurückgeschickt: Demütige Dich unter die Hand Deiner Herrin Sarai! Akzeptiere die Regeln der Gemeinschaft. Das ist hart. Aber eine Möglichkeit zu überleben. Für sie und das Kind in ihrem Bauch. Als Fremde im Land, als entlaufene Sklavin wären ihre Überlebenschancen sonst gering gewesen. Hagar gehorcht. So lebt sie weiter im Stamm der Urfamilie. Kann Mutter sein. Irgendwie. Neben Sarai. Ihr Sohn ist immerhin der einzige Sohn und Stammhalter vom „Chef“ des Clans, von Abram. Gott selbst hat seinen Namen bestimmt: Ismael – Gott hört. 9/16 13 Jahre lang geht das gut. Sie leben alle zusammen im Südland, in Gerar. Sie leben alle als Fremde. Das stärkt den Zusammenhalt. Sicher nicht ohne Konflikte, aber die Gemeinschaft funktioniert. Es klingt nach friedlichen Zeiten, in denen das Überleben gesichert ist und es auch Zeiten der Freude gibt. (In diesen 13 Jahren gibt es zwei große Ereignisse, die die Gemeinschaft prägen und verändern: Alle männlichen Stammesmitglieder werden beschnitten, darunter auch der heranwachsende Ismael, als Zeichen des Bundes mit Gott. Ismael ist ganz dicht bei seinem Vater, der jetzt Abraham (Vater einer lärmenden Menge von Völkern) heißt. Und: Sarai heißt jetzt Sarah (Befehlshaberin). Allerdings wird sie beinahe aus der Gemeinschaft ausgestoßen, denn Abraham gibt sie Abimelech, dem König von Gerar gegenüber als seine Schwester aus. Abimelech, der Herr im Land, will sie daraufhin zur Frau nehmen. Gott verhindert das, Abimelech beschenkt den Stamm reich mit Vieh und Land und Sarah kehrt zu Abraham zurück. Dann wird sie, die hochbetagte, kinderlose Stammhalterin schwanger. Sicher wird es in den Zelten Getuschel gegeben haben: Na, wer da wohl der Vater ist? Ungeachtet dessen gebiert Sarah dem Abraham ihren Sohn. Sie nennt ihn Isaak: Lachen. Oder Jauchzen.) In dieser Geschichte ist viel los. Sie macht sichtbar, wie verwickelt Beziehungen zwischen Menschen sein können. Wie konfliktreich Familienkonstellationen sind. Wie zerbrechlich Zusammenleben überhaupt ist. Sie stellt Fragen, die bis heute bestehen: Wie kann Zusammenleben funktionieren? Was bringt es an seine Grenzen? 13 Jahre lang war Ismael Hagars Sohn und Saras Sohn und Abrahams Sohn. Schon damals, als Familien noch in Stämmen zusammenlebten, begann, was viele Familien bis heute leben: Ein Kind kann mehr als eine Mutter (oder einen Vater) haben. Jede sogenannte Patchworkfamilie übt sich darin ein. Es ist nicht leicht, ein gutes Auskommen für alle zu finden. 10/16 In der biblischen Erzählung gerät das gute Zusammenleben an seine Grenzen. Die Stimmung ändert sich als Isaak abgestillt wird, also ungefähr 2 Jahre alt ist. Aus diesem Anlass wird ein großes Fest gefeiert. Isaak nimmt jetzt einen anderen, eigenen Platz in der Gemeinschaft ein. Was hast Du, Sarah? Ich habe Angst. Jetzt kann ich nicht mehr so gut auf Isaak aufpassen. Er wird jetzt seinen Platz unter den anderen Kindern finden und behaupten müssen. Sein Bruder Ismael ist schon 15. Er ist groß und stark. Ich sehe die Kinder herumtoben. Ein Spiel, sicher. „Pass doch auf, Ismael. Du wirst ihm noch wehtun!“ Das Lachen, in Isaaks Namen eingeschrieben, die Freude über das spätgeborene Kind verliert an diesem Tag seine Leichtigkeit. Das brüderliche Herumtoben, Jauchzen und Lachen verliert seine Unbeschwertheit. Martin Luther übersetzt: Ismael trieb seinen Mutwillen mit Isaak. Wo ist die Grenze zwischen Spiel und Ernst? Für Sarah ist sie hier erreicht. Sie sorgt dafür, dass Ismael zusammen mit seiner Mutter Hagar aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wird. „Abraham, bitte, verstoße sie, Isaak gebührt Dein Erbe allein!“ Wenn es ums Erben geht, brechen in vielen Familien Konflikte auf. Darin bildet sich immer auch die Gesellschaft ab. Damals, wie heute. Wenn wir an dieser Stelle den Blick weit machen, können wir sehen, dass Ismael und Isaak bis heute um das Erbe streiten. In Israel. Wo die arabischen Nachkommen Ismaels mit den jüdischen Nachkommen Isaaks bis heute keinen Frieden finden. Wem gehört das Land? Die Frage ist nicht beantwortet. Das ist die schmerzhafte Realität der kämpferischen Auseinandersetzungen. Lachen und Weinen liegen eng beieinander. Und Abraham? Er tut, was Sarah sagt, obwohl es ein „böses Wort in seinen Augen“ ist. Er schweigt, obwohl er der Chef des Stammes ist. 11/16 Und für ihn einiges davon abhängt. Gilt die Verheißung noch, dass seine Nachkommen zahlreich sein sollen? Warum schickt er seinen Erstgeborenen samt seiner Mutter in die Wüste? Riskiert sein Leben? Opfert ihn? Was hast Du, Abraham? „____“. Immerhin legt er einen Wasserschlauch auf Hagars Schultern und gibt ihnen Brot mit auf dem Weg. Er schickt sie nicht unversorgt los in den neuen Tag. Reicht das? Gesellschaftlich üben wir bis heute, wie Versorgung von Kindern geht. Rein wirtschaftlich. Aber auch auf der Gefühlsebene. Wollen Väter (und Mütter) die Beziehung zu ihren Töchtern und Söhnen ihrem Beruf „opfern“? Wie verteilen sich die Aufgaben in der Familie? Darin liegt reichlich Konfliktpotential. Wie kommen alle zu ihrem Recht? Wie sieht es mit der Anerkennung aus? Für Hagar und Ismael ändert sich das Leben dramatisch. Ihr Leben in der Gemeinschaft bricht an jenem frühen Morgen völlig ab. Es gibt keinen Weg zurück. Sie brechen auf in eine ungewisse Zukunft. Und die Vorräte reichen nicht lange. Gibt es eine andere Aussicht als den Tod? So ausgestoßen erscheint Ismael plötzlich wie ein Kleinkind und nicht wie ein 15jähriger. Und Hagar braucht die Länge eines Bogenschusses Abstand von ihm. Plötzlich gibt es kein Miteinander, keine Nähe, keine Zukunft mehr. Ausgestoßen zu werden ist lebensgefährlich, ja tödlich. 12/16 In diese Situation hinein tritt der Engel. In diese Situation hinein trifft seine Frage: Was hast Du? Diese Frage knüpft noch einmal an das Geschehene an. Sie lässt Platz für den Zorn über die Ungerechtigkeit und die Mitleidlosigkeit, die Ismael und Hagar getroffen haben. Sie lässt Platz für ein Kopfschütteln darüber, was Menschen einander zufügen können. Sie lässt Platz für Konflikte, die das Zusammenleben von Menschen fast unmöglich machen. Und sie regt zu einer weiteren Frage an. Hätte es nicht auch anders kommen können? Hätte Sarah so geredet, wenn sie gewusst hätte, was ihre Worte mit sich bringen? Hätte Abraham geschwiegen, wenn er gewusst hätte, was passiert? Hätte Ismael so wild mit dem kleinen Bruder herumgetollt, wenn er gewusst hätte, was das für Folgen hat? Sicher hätte alles auch anders kommen können, aber das, was geschehen ist, lässt sich nicht ungeschehen machen. Die Entscheidungen, die Menschen treffen, haben Folgen. Das Leben in Gemeinschaften bringt Konflikte mit sich und nicht immer gibt es gute Lösungen für alle. Die Frage: „Hätte es nicht anders kommen können?“ ist dennoch nicht vergeblich gestellt. Sie hält die Sehnsucht in uns wach, dass Dinge sich ändern lassen. Dass unsere Entscheidungen, unsere Wege, die wir gehen, immer zu neuen Entscheidungen führen und neue Wege eröffnen. Sie hält die Sehnsucht nach Gott in unserem Leben wach. Die Sehnsucht danach, Gott möge die Irrtümer und falschen Entscheidungen der Menschen zum Besseren wenden. Die Sehnsucht danach, Gott möge unsere Geschicke lenken. Uns beistehen und helfen. Die Sehnsucht nach all dem, wofür Schutzengel landläufig stehen.) 13/16 Überraschend ist, dass Gottes Verbindung mit den Menschen, hier mit Hagar, offensichtlich über eine Frage zustande kommt. Was hast Du, Hagar? Diese Frage ist eigentlich längst beantwortet, weil Gott ihr Herumirren in der Wüste gesehen hat und das Jammern des verdurstenden Ismaels und Hagars lautes Weinen gehört hat. Was hast Du, Hagar? Mit dieser Frage beginnt das Ende der Todesangst: Fürchte Dich nicht! Mit dieser Frage wird Gottes Wirklichkeit im Ödland sichtbar: Ein Brunnen zum Wasserschöpfen. Neue Kraft für Hagar. Und Ismael. Die Möglichkeit aufzustehen und weiterzugehen. Was hast Du? – eröffnet weiten Lebensraum. Für Hagar und für Ismael. Sie lebt in der Folge als freie (!) Frau und sucht – als die Zeit gekommen ist - ihrem Sohn eine Ehefrau aus ihrem Heimatland Ägypten. Er wird Bogenschütze, hat zahlreiche Nachkommen und die Zusage, dass Gott mit ihm ist (Immanuel!). Und auch wenn beide nun von der biblischen Bildfläche verschwinden, finden sie im Islam/Koran bis heute ihre Heimat. (Hagars Suche nach Wasser in der Wüste wird bei der Haddsch, der Wallfahrt nach Mekka, symbolisch nachvollzogen. Die Gräber Hagars und Ismaels sollen sich innerhalb der Ḥaṭīm genannten halbkreisförmigen weißen Marmormauer an der Nordwestwand der Kaaba befinden.) Es ist eine große, folgenreiche Geschichte, die die Bibel uns hier im ersten Buch vom Werden überliefert. Sie erzählt von Menschen und vom Leben in der Welt wie sie ist – verwickelt und kompliziert, konfliktreich und zerbrechlich. In der Engelfrage: Was hast Du? macht sie uns hellhörig. Für Gott. Wenn der Engel – viele Jahre später - zu Maria sagt: Fürchte Dich nicht, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, klingt da nicht etwas von der alten, lebensverändernden und rettenden Gotteskraft der Anfänge an? Auch Jesus trägt den Beinamen Immanuel - Gott mit uns. 14/16 Wenn wir uns so in der lebensrettenden Kraft Gottes verbunden wissen, kann es dann nicht doch Lösungen für die uralten Konflikte zwischen Menschen jüdischen, christlichen und muslimischen Glaubens geben? Wenn wir uns trauen, anderen Menschen, ob sie uns nahestehen oder ganz fremd und fern sind, fragend zu begegnen: Was hast Du? Was hast Du zu erzählen? Wie ist Deine Geschichte? Was hast Du vor? – dann ist es möglich, dass wir einander sehen und hören lernen, offen und bewusst verbunden mit dem Engelwort: Fürchte Dich nicht. Und dann müssen wir uns vielleicht gar nicht voneinander abgrenzen oder gegenseitig ausstoßen. Der Name dieses Sonntags, Michaelis, stellt die Frage: Wer ist wie Gott? Sie ist schnell zu beantworten. Keine. Keiner. Gott ist Gott, anders als die Menschen. Es gibt einen Abstand zwischen Gott und Menschen. Aber es gibt Botinnen und Boten, die diesen Anstand überwinden. Sie verhelfen dazu sehen zu können, dass es wunderbarerweise Brunnen gibt, Quellen, die Überleben im Ödland möglich machen. Sie halten die Erfahrung lebendig, dass Gott hört. Sie machen Mut, nach Wegen für gute Gemeinschaft zu suchen: Fürchte Dich nicht. Sie halten die Sehnsucht nach Gott in der Welt wach und lassen uns immer neu nach Gottes lebensspendender Kraft fragen. Und der Friede Gottes, der größer ist als alles, was wir mit unserem Verstand begreifen können, bewahren unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen Kirstin Müller, Goslar; [email protected] Quellen: • BIGS: Übersetzung: Bibel in gerechter Sprache, Dr. Ulrike Bail / Frank Crüsemann / Marlene Crüsemann (Hrsg.), Bibel in gerechter Sprache © 2006, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH 15/16 16/16 Diese Predigthilfe wurde zur Verfügung gestellt von: Feministisch predigen Feministisch Predigen ist ein selbstverwaltetes und -organisiertes Projekt von Pastorinnen, Pfarrerinnen und Diakoninnen, die ihre feministische Arbeit mit anderen bundesweit vernetzt haben. Dabei steht die gegenseitige Hilfe und Anregung im Mittelpunkt. Seit mehr als 25 Jahren steht dabei das Prinzip der Solidarität im Mittelpunkt: Für einen erarbeiteten Gottesdienstentwurf inkl. Liedvorschlägen, liturgischen Texten und Predigten bekommen die Autorinnen im Gegenzug eine CD-Rom mit Gottesdienstentwürfen für das gesamte Kirchenjahr. Alle Predigten werden von sieben im gesamten Bundesgebiet arbeitenden Lektorinnengruppen gelesen, kommentiert und nach der erneuten Überarbeitung durch die Autorin für die Veröffentlichung freigegeben. Bei der Predigtvorbereitung gilt der geschlechterbewusste Blick - wie tauchen Frauen- und Männerperspektiven in den biblischen Texten und den Predigtgedanken auf? Feministisch-wissenschaftliche Erkenntnisse haben oft einen Perspektivwechsel auf die Texte erarbeitet. Sie sollen in der Predigtarbeit ihren Ausdruck finden. Gleichzeitig bewegt Autorinnen und Lektorinnen das Bewusstsein für die jüdischen Wurzeln unserer Theologie und der bewusste Umgang mit dem Kontext der biblischen Überlieferung. Weitere Informationen und aktuelle Hinweise finden sich auf: www.feministisch-predigen.de
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