das Krankenhaus 02/2016: EU-Gesundheitspolitik

das
Krankenhaus
International
2.2016
Marc Schreiner
EU-Gesundheitspolitik
im Krisenjahr 2016
D
as Jahr 2016 wird für die
Europäische Union ein
Jahr voller Herausforderungen:
die Zuwanderung vieler Schutzsuchenden wird Politik und Verwaltung in den EU-Mitgliedstaaten weiterhin fordern. Dabei
sind die bisher gepflegten Umgangsformen bereits mit gegenseitigen Vorwürfen mangelnder
Solidarität unter Druck geraten
und grundlegende Errungenschaften der Gemeinschaft wie
das grenzenlose Reisen im sogenannten Schengen-Raum teilweise außer Kraft gesetzt.
Die politischen Kräfte in
zahlreichen EU-Staaten scheinen sich nach rechts zu verschieben. Es droht ein Wiederaufflammen eher auf Nationalstaaterei und Abschottung gerichteter Interessen. Der Zusammenhalt in der Gemeinschaft
wird in 2016 eine Belastungsprobe zu bestehen haben. Sie
könnte gar zu einer Zerreißprobe werden, wenn mit der noch
nicht überwundenen Krise in Griechenland mögliche weitere
Unterstützungsmaßnahmen fällig würden.
Diese Entwicklung wird möglicherweise auch Einfluss auf
das für Großbritannien angekündigte Referendum haben: Die
Briten sollen über einen Verbleib in der Gemeinschaft entscheiden. Die Motivation der dortigen Regierung, die „Brexit“Frage zu stellen, entstand allerdings nicht erst mit den aktuellen Herausforderungen. Sie wurzelt vielmehr in einer jahrelang gewachsenen Unzufriedenheit über die Prioritäten in der
Gemeinschaftspolitik. Unter dem vormaligen Präsidenten der
Europäischen Kommission entwickelte die Brüsseler Behörde
eine wahre Flut an Gesetzesvorschlägen. Statistiken weisen für
die „Barroso-Kommission“ allein 300 neue Gesetzesvorschläge
nur im ersten Amtsjahr aus, in den weiteren Jahren durchschnittlich noch jeweils 130. Dabei zeigten die Beamten im
Hinblick auf die Regelungsmaterie beachtliche Fantasie. Neben einer Absenkung von Roaming-Gebühren, einheitlichen
Handyladegeräten oder europaweiter Wahlfreiheit für geplante
Krankenhausbehandlungen gab es Regulierungsversuche, die
für Spott und Unverständnis bei EU-Bürgern sorgten: etwa die
Festlegung der maximalen Wattleistung bei Staubsaugern, die
Regulierung des Wasserdurchsatzes bei Duschköpfen oder das
Verbot von Glühbirnen oder von offenen Ölkännchen auf
Restauranttischen. Kritiker warfen der Kommission vor, zu viel
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Energie auf die Bestimmung kleinster Details verwendet zu
haben. Der inhaltliche Führungsanspruch für wirklich bewegende Fragen sei dabei auf der Strecke geblieben.
„Big on big things, small on small things“
Das Kredo des aktuellen Kommissionschefs Jean-Claude Juncker ist dagegen: „Big on big things, small on small things.“
Mit der angestoßenen Verschlankung der Gesetzgebungsagenda und einer Konzentration der Ressourcen auf übergreifende
Fragenkomplexe soll Vertrauen in die EU-Arbeit zurückgewonnen werden. Gerade mal rund 20 neue Initiativen kündigte die
Kommission im Programm für das erste Arbeitsjahr an, ein
Vielfaches an bestehenden Gesetzen sollte entsorgt werden.
Damit hat eine politische Priorisierung von Aktionsfeldern
eingesetzt, deren Ausrichtung sich zunächst klar auf Wirtschaftswachstum fokussiert. Gesundheitspolitische Aspekte
gehören – so lehrt die Erfahrung des ersten Jahres der JunckerKommission – nicht dazu.
Dieser neuen Herangehensweise muss sich auch EU-Gesundheitskommissar Vytenis Andriukaitis unterordnen. Aus
der ihm unterstellten Generaldirektion SANTE gab es dementsprechend in der neuen Legislaturperiode noch keinen Gesetzesvorschlag. Größere Projekte wie die Überarbeitung der Lebensmittelkennzeichnung oder der EU-Alkoholstrategie kommen nicht vom Fleck. Der litauische Arzt und ehemalige Gesundheitsminister hat denn auch bereits eine ernüchterte
Bilanz seines ersten Amtsjahres gezogen: Er hätte erwartet,
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deutlich effektiver eine EU-Gesundheitspolitik gestalten zu
können, so der Kommissar gegenüber Brüsseler Medien. Die
aus seiner Sicht notwendige Übertragung von mehr Kompetenzen der Gesundheitspolitik von den Mitgliedstaaten auf die
EU-Ebene mittels einer Reform des Lissabon-Vertrags kassiert
Andriukaitis aber mit Blick auf die Grundsatzdiskussion in
Großbritannien gleich selbst wieder ein.
Von einem Stillstand der Rechtspflege kann dennoch keine
Rede sein. So gilt es zumindest, das Erbe der vorangegangenen
Legislaturperiode zu pflegen. Aus dieser Zeit stammen noch
die Gesetze zu In-vitro-Diagnostika sowie zu Medizinprodukten. Beide Vorhaben könnten bald abgeschlossen werden. Im
sogenannten „Trilog“ verhandeln Vertreter des Europäischen
Parlaments, des Rats sowie der Europäischen Kommission
über eine Kompromissfassung des Gesetzestexts, der die drei
Standpunkte der Institutionen zusammenführt. Einmal in dieser kleinen Runde konsentiert, müssen dann noch das Europäische Parlament und die Mitgliedstaaten im Rat zustimmen.
Da beide Verfahren bereits seit Jahren intensiv verhandelt wurden, wittert die niederländische Regierung nun Gelegenheit,
die umstrittenen Gesetze zu verabschieden und in die Erfolgsbilanz ihrer Präsidentschaft im Rat aufnehmen zu können.
Dementsprechend hat sie den Abschluss der Beratung zu einer
der gesundheitspolitischen Prioritäten gemacht. Zuletzt jedoch stockten die Beratungen in der kleinen Runde. Ob es
neue Regelungen, beispielsweise zur Zulässigkeit der Aufbereitung von Medizinprodukten geben wird, bleibt abzuwarten.
Den Niederländern ist es aber auch wichtig, während der sechs
Monate ihrer Präsidentschaft den Zugang zu innovativen und
bezahlbaren Arzneimitteln zu sichern. Dazu wollen sie die
freiwillige Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten verstärken,
um neue Formen des Marktzugangs und die Verhandlungsposition bezüglich der Arzneimittelpreise zu verbessern. Zu112
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gleich sollen antimikrobielle
Resistenzen
zurückgedrängt
werden. Dies soll durch eine
verbesserte Koordinierung der
Gesundheits- und Agrarpolitiken erreicht werden.
Zum Erbe aus der vorangegangenen Legislaturperiode gehören auch Aufgaben aus der
sogenannten
EU-Patientenrechte-Richtlinie. Danach sind
die Mitgliedstaaten unter anderem verpflichtet, bei der Erforschung und Behandlung von
seltenen Erkrankungen eng zusammenzuarbeiten. Dazu sollen sie die Gründung von grenzüberschreitenden
Krankenhausverbünden in „ERN – Europäischen Referenznetzwerken“
unterstützen. Nach mehrjähriger Vorbereitung stehen nun
die Rechtsakte, mit denen die
Teilnahmekriterien für Krankenhäuser und die Zulassungsprozesse festgelegt wurden. Die Europäische Kommission hat
zudem Handbücher erarbeitet, anhand derer die Teilnahmefähigkeit der Kliniken überprüft werden kann. Auch die Mitgliedstaaten haben das zentrale Zulassungsgremium mittlerweile gegründet und eigene Verfahrensvorschriften für die
Entscheidungsfindung in dem „Board of Member States“ erlassen. Der offizielle Startschuss für dieses große EU-Projekt soll
im Frühjahr dieses Jahres mit einer Ausschreibung erfolgen.
Erste Netzwerke sollen zum Ende des Jahres zugelassen werden und ihre Arbeit aufnehmen. Diesem Projekt drohen jedoch erhebliche Anlaufprobleme. Der EU-Gesetzgeber hatte
damals die Aufgaben verteilt, ohne die Finanzierung der Aufgabenwahrnehmung zu regeln. Kliniken sollen sich für mindestens fünf Jahre für die Mitarbeit in einem ERN verpflichten
und an gemeinsamer europäischer Spitzenforschung und Behandlung mitwirken, ohne dass die Netzwerke Mittel in nennenswertem Umfang von der EU dafür bereitgestellt bekommen. Ob sich Krankenhäuser bei diesen Rahmenbedingungen
für eine Teilnahme bewerben werden, wird das Jahr 2016 zeigen.
Supranationale Kompetenzen und Normen
Die EU-Patientenrechte-Richtlinie wurde in der vergangenen
Zeit von der Europäischen Kommission allerdings auch herangezogen, um Initiativen außerhalb der Kompetenzverteilung
des Lissaboner EU-Grundlagenvertrags zu begründen. Für die
Zusammenarbeit innerhalb der ERN-Netzwerke wird zum Beispiel zurzeit ein eigenes Vergütungssystem entwickelt, nach
welchem die Netzwerkteilnehmer untereinander mögliche telemedizinische Leistungen, beispielsweise bei gemeinsamen
grenzüberschreitenden Fallbesprechungen, abrechnen kön-
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nen oder Empfehlungen für die Verlegung von Patienten über
die Grenzen hinweg. Dabei gehören die Bereiche Finanzierung
und Organisation der Gesundheitssysteme gerade nicht zu
dem Kompetenzbereich, den die Mitgliedstaaten der Europäischen Union und deren Institutionen zugewiesen haben. Mit
ihrem Vorstoß, wie viele andere auch nur als „unverbindliche
Empfehlung“ gedacht, scheint die Europäische Kommission
einen weiteren Beitrag in der fortwährenden Diskussion über
die Zuständigkeiten zwischen EU-Ebene und Mitgliedstaaten
leisten zu wollen.
Auch mit der Initiative, ärztliche Leistungen zu standardisieren, wurde versucht, supranationaler Kompetenzen auszuweiten. Dabei hatte die Europäische Kommission die Entwicklung von Standards durch private Normungsorganisationen
wie das CEN („Centre Européenne de Normalisation“) nachgefragt. Ebenso mit einem Verweis auf die EU-PatientenrechteRichtlinie und auf die damit angestrebte engere Verzahnung
grenzüberschreitender Gesundheitsversorgung, sollten einheitliche Standards auch für ärztliche Leistungen für einen
besseren Schutz der Patienten entwickelt werden, beispielsweise in der ästhetischen Chirurgie. Während CEN und DIN-Normen für medizinisches Gerät oder für Managementprozesse
etabliert sind, wurde mit der Entwicklung von Standards für
die individuelle Behandlungssituation zwischen Patient und
Arzt Neuland betreten. Intransparent in der Entstehung, ohne
fachliche Expertise und ohne Beteiligung von dafür berufenen
Organisationen wie der gemeinsamen Selbstverwaltung in
Deutschland, weisen diese Normen erhebliche Abweichungen
von offiziell konsentierten Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualitätsindikatoren auf. Bereits in der Vergangenheit etablierte sich deshalb eine umfassende Allianz von Leistungserbringern, Kostenträgern, Politik und Verwaltung in Deutsch-
Bücher
land, in vielen EU-Mitgliedstaaten und auf EU-Ebene, um die
Entwicklung weiterer Normen in dem von CEN als neuer
Markt erkannten Bereich der ärztlichen Leistungen zu verhindern. Und diese Allianz wird auch 2016 alle Hände voll zu tun
haben, um beispielsweise die fortlaufenden Unterstützungsmaßnahmen der Europäischen Kommission bei der Entwicklung von Standards für Brustkrebsversorgung zu unterbinden
und um den Bereich der ärztlichen Leistungen bei der gerade
neu zu entwickelnden „Normungsstrategie“ der Europäischen
Kommission in Gänze auszunehmen.
So ergibt sich für die EU-Gesundheitspolitik im Krisenjahr
2016 ein gemischtes Bild: Teils noch mit der Abarbeitung von
schwierigen Aufgaben aus der vorangegangenen Legislaturperiode beschäftigt, versucht die Europäische Kommission unter
Jean-Claude Juncker einen – auch für Briten akzeptablen –
Geist zu etablieren und die Ressourcen auf die Beantwortung
großer und drängender Fragen zu konzentrieren. Dabei
scheint die Führungsmannschaft den Gestaltungsanspruch für
die Details zumindest auf der wahrnehmbaren Gesetzesebene
aufgegeben zu haben. Eifrige Beamte halten indes unterhalb
dieser Wahrnehmungsschwelle im sogenannten Soft-Law-Bereich die herkömmliche Diskussion um Zuständigkeiten zwischen EU-Ebene und Mitgliedstaaten mit teils strittigen Initiativen am Leben. Bleibt abzuwarten, ob Juncker mit „big on big
things“ der große Wurf gelingen kann.
Anschrift des Verfassers
RA Marc Schreiner, LL.M., Leiter EU-Politik/Internationale
Beziehungen, Deutsche Krankenhausgesellschaft e.V., Wegelystr. 3,
10623 Berlin
Niklas Füchtenkord, Fusion von Krankenhausträgern aus Sicht der europäischen und deutschen Zusammenschlusskontrolle. Schriften zum Wirtschaftsrecht (WR), Band 271, Duncker &
Humblot 2015, 203 Seiten, Softcover,
ISBN 978-3-428-14608-6, 79,90 €, auch
als E-Book erhältlich
In seiner Promotion untersucht Niklas Füchtenkord, in welchem Maße die
europäische und deutsche Zusammenschlusskontrolle auf Krankenhausfusionen anwendbar ist. Der Autor diskutiert dabei zunächst die Unternehmenseigenschaft von Krankenhäusern und
stellt die Frage, ob aufgrund der im
Krankenhausbereich hohen Regulierungsdichte überhaupt Wettbewerbsspielräume bestehen, die mit dem Werkzeug des Wettbewerbsrechts zu schützen sind. Weder die Normen des europa-
„
rechtlichen Primärrechts noch des
deutschen Gesundheitsrechts stehen der
Anwendbarkeit des Wettbewerbsrechts
entgegen. Darauf aufbauend arbeitet er
die Besonderheiten heraus, die sich aus
dem Wechselspiel der Zusammenschlusskontrolle und dem Krankenhausbereich ergeben. Die Antwort des Autors
auf die eingangs gestellte Frage ist positiv: Die Fusionskontrollverordnung
(FKVO) sowie das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) bieten
mit dem „SIEC-Test“ ausreichend Möglichkeiten, durch Klinikfusionen flexibel
auf den Krankenhausmarkt zu reagieren.
Autor: Dr. Niklas Füchtenkord hat an
der Philipps-Universität in Marburg
Rechtswissenschaften studiert und darin
promoviert, zurzeit ist er Rechtsreferendar in Hamburg.
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