DE DE ARBEITSDOKUMENT

Europäisches Parlament
2014-2019
Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres
9.2.2016
ARBEITSDOKUMENT
zur Einrichtung eines EU-Mechanismus für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit
und Grundrechte – Anzeiger für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und
Grundrechte
Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres
Berichterstatterin: Monika Flašíková Beňová
DT\1086158DE.doc
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PE575.273v02-00
In Vielfalt geeint
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Anzeiger für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte
Es gibt verschiedene Instrumente, auf die wir zurückgreifen können, wenn ein EUMitgliedstaat nicht die EU-Gesetze befolgt, aber was geschieht, wenn ein Mitgliedstaat bei
Handlungen außerhalb des Anwendungsbereichs des EU-Rechts die Grundrechte nicht
achtet? Artikel 7 EUV ist das einzige in den Verträgen vorgesehene Instrument, das von den
EU-Organen benutzt werden könnte, um Sanktionen gegen Mitgliedstaaten im Falle einer
„schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung“ der Werte der Union zu verhängen,
unabhängig davon, ob sie das Recht der Union durchführen oder nicht.
Artikel 7 als das einzige umfassende Hilfsmittel (einschließlich Präventions- und
Strafmechanismen) gilt allgemein als „radikale Option“, die wegen ihrer politischen
Brisanz, die von den den politischen Institutionen eingeräumten Befugnissen herrührt, nur
schwer ausgeübt werden kann. Der Rat hat sie noch nie ausgeübt, weil sich die Länder wohl
zu sehr davor fürchten, dass dieses Verfahren auch gegen sie angewandt werden könnte.
Dieses Hilfsmittel wurde noch nie benutzt, weil die verfahrensrechtlichen Schwellen sehr
hoch sind: Dazu gehört die Anforderung einer Vier-Fünftel-Mehrheit im Rat für die
Feststellung, dass die „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ besteht, und die
Anforderung, dass der Europäische Rat einstimmig entscheidet, ob eine „schwerwiegende
und anhaltende Verletzung“ der Werte der Union vorliegt. In beiden Fällen ist die
Zustimmung des Parlaments mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit der abgegebenen Stimmen
und der absoluten Mehrheit aller Mitglieder (Artikel 354 Absatz 4 AEUV) notwendig. Um
diese hohen Schwellen herabzusetzen, ist eine Vertragsänderung notwendig.
Als Artikel 7 verfasst wurde, gab es einen breiten Konsens über die Verteidigung der
Menschenrechte, was nun nicht mehr der Fall ist, und das Ziel bestand darin, sich nur mit
systemischen und schwer wiegenden Verletzungen dieser Rechte – nicht mit jeder Verletzung
– zu befassen. Das Hauptproblem besteht darin, dass die Entscheidung, ob eine Verletzung
schwer wiegend und anhaltend oder nicht ist, bei den derzeitigen Gegebenheiten eine
politische Entscheidung ist. Außerdem ist bedenklich, dass durch Artikel 7 dem Gerichtshof
der EU nur eine beschränkte Rolle eingeräumt wird, da er nach Artikel 269 AEUV lediglich
die Einhaltung der Verfahrensvorschriften, aber nicht die Begründetheit der Entscheidungen
nach Artikel 7 überprüfen darf.
Mit dem Vorschlag für einen Anzeiger für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte
(im Folgenden der „Demokratieanzeiger“ genannt) beabsichtigt die Verfasserin, diese Lücke
bei „konkreten Maßnahmen“ zur Achtung der Grundrechte und Werte in der EU zu schließen.
Das heißt nicht, dass ein neuer Mechanismus geschaffen werden soll, sondern er soll ergänzt
werden, und ein umfassender Schutzrahmen soll eingerichtet werden.
Hauptziele sind:
a) Bewältigung der verbleibenden Herausforderungen im Zusammenhang mit den
Grundrechten in Europa und insbesondere mit Artikel 7 EUV;
b) Lösung des Problems der „doppelten Standards“ (EU-Mitgliedstaaten erwarten von
anderen Staaten, dass sie die EU-Werte einhalten, aber sie wollen nicht selbst
bezüglich ihrer nationalen Angelegenheiten gerügt werden);
c) Vorschlag eines Hilfsmittels mit Überwachungsfunktionen (zur Überprüfung der
Einhaltung gemeinsamer Werte der Union und der Achtung der Grundrechte durch
Mitgliedstaaten, nicht nur wenn sie EU-Recht durchführen, sondern auch wenn sie
autonom handeln) aber auch mit präventiven und korrektiven Funktionen;
d) Sensibilisierung für die Charta und ihre Förderung dadurch, dass die EU-Bürger in die
Lage versetzt werden, sie zu benutzen und ihre Rechte zu verteidigen, indem eine
Verbindung zwischen ihnen und der Verteidigung der Demokratie und der
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Rechtsstaatlichkeit hergestellt wird (z. B. im Falle der Medienfreiheit).
Was ist der Demokratieanzeiger?
Der Demokratieanzeiger sollte ein Hilfsmittel für die Information aber auch für Bewertung,
Überwachung und Warnung sein, das einen Überblick über die Einhaltung von Artikel 2
EUV über die Werte der Union1 und die EU Charta bietet.
Wie das Justizbarometer sollte dieses Hilfsmittel dazu beitragen, potentielle Missstände,
Verbesserungen und bewährte Verfahren hinsichtlich Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und
Grundrechte durch jährliche Länderbewertungen zu ermitteln. Er sollte von dem
Ständigen Ausschuss unabhängiger Experten (siehe nachstehend) in Zusammenarbeit mit der
Kommission, dem Rat und dem Parlament (und der Grundrechteagentur) erstellt werden.
Zusätzlich zur Länderbewertung, die der Öffentlichkeit im Internet auf einer speziellen
Website zusammen mit Hintergrunddokumenten zugänglich gemacht werden sollte, sollte ein
Frühwarnsystem mit dem Ziel eingerichtet werden, die EU-Organe zu warnen, wenn die
Gefahr einer Verletzung der gemeinsamen Werte der EU in einem Mitgliedstaat festgestellt
wird.
Von größter Bedeutung ist, dass durch den Demokratieanzeiger auch überwacht wird,
inwieweit die EU die Rechtsstaatlichkeit und die Grundrechte achtet.
Der Demokratieanzeiger wird das Justizbarometer ergänzen, und Daten, die von beiden
stammen, sollten zum Prozess des Europäischen Semesters beitragen.
Inhalt
Der Demokratieanzeiger sollte
1)
spezifische EU-Indikatoren für Grundrechte entwickeln, die in einen auf Rechten
basierenden Indikatorenrahmen aufzunehmen sind. In den Prozess der Entwicklung solcher
Indikatoren sollten Akteure wie etwa die Grundrechteagentur (die bereits Indikatoren unter
anderem auf der Grundlage des Rahmenkonzepts entwickelt, das vom Amt des Hohen
Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte vorgeschlagen wurde), der
Europäische Menschenrechtsgerichtshofs, der Kommissar des Europarats für Menschenrechte
und spezielle Aufsichtsorgane und -mechanismen, wie etwa die Gruppe der Staaten gegen
Korruption (GRECO), das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten
(FCNM), die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (ECRML) und
die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI), einbezogen werden.
Diese Indikatoren, in die vergleichende, quantitative und qualitative Daten eingespeist
werden, werden dazu beitragen, die Gesetzgebung und die Politik und ihre konkreten
Auswirkungen auf das Leben normaler Menschen zu bewerten aber auch bedenkliche
Entwicklungen hervorzuheben, die weiter untersucht werden müssen.
Der Europarat überwacht bereits, inwieweit die Mitgliedstaaten ihre internationalen
Verpflichtungen in Bereichen wie etwa dem Schutz der Grundrechte (Meinungs-,
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit), Nichtdiskriminierung oder Rechtsstaatlichkeit
(demokratische Institutionen, Verfassungsjustiz und ordentliche Justiz, Wahlen usw.)
1
„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie,
Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen,
die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich
durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen
und Männern auszeichnet.“
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einhalten. Eine Überwachung erfolgt auch durch die Kommission über Instrumente wie dem
Justizbarometer und dem Kooperations- und Überprüfungsmechanismus für Rumänien und
Bulgarien. Der Demokratieanzeiger sollte sich nicht mit bestehenden Instrumenten
überschneiden, sondern Elemente von ihnen (Daten, Indikatoren) übernehmen, soweit dies
sachgerecht ist.
2)
ein Frühwarnsystem mit verschiedenen Warnstufen umfassen.
Derzeit
sind
klare
Beschränkungen
der
Wirksamkeit
der
bestehenden
Berichterstattungsmechanismen zu Grundrechten ersichtlich, weil die Berichte in den meisten
Fällen erst freigegeben werden, wenn die Verletzung von EU-Werten bereits stattgefunden
hat.
Deshalb brauchen wir ein Warnsystem, das auch auf die Gefahr einer Verletzung reagiert,
damit verhindert wird, dass sie sich zu einer schwerwiegenden Verletzung von EU-Werten
entwickelt, und eine solche Warnung sollte automatisch ausgelöst werden. Wird eine
Warnung ausgelöst, müssen die Mitgliedstaaten die Annahme von Gesetzen oder andere
Maßnahmen aussetzen1, durch die Grundrechte missachtet oder verletzt werden könnten.
3)
den EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips ergänzen.
Der Demokratieanzeiger würde eine bedeutende Lücke schließen, weil der bestehende
Rahmen der Kommission zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips nicht durch einzelne
Verletzungen von Grundrechten ausgelöst werden kann und er nur für die Rechtsstaatlichkeit
gilt. Wir meinen, dass ein Dialog mit den Mitgliedstaaten, sobald die Gefahr der Verletzung
von Grundrechten festgestellt wird, von grundlegender Bedeutung ist. Die Verfasserin stimmt
zu, dass die Kommission als Hüterin der Verträge weiterhin ein unparteiischer, objektiver und
unabhängiger Schlichter sein muss. Deshalb bedarf es eines externen und unabhängigen
Gremiums
Methodik
Bei dem Demokratieanzeiger wird es sich nicht um einen neuen Mechanismus handeln,
sondern um ein Werkzeug, das von einem unabhängigen Überwachungsgremium (siehe
nachstehend) zusammen mit bestehenden Instrumenten (von der Grundwerteagentur, über den
Europarat und seine Venedig-Kommission, die Kommission, das Europäische Parlament bis
hin zu einschlägigen nichtstaatlicher Organisationen) benutzt wird, wobei Synergien zu
fördern und Überschneidungen zu vermeiden sind.
Der Anzeiger wird sich auf die Zusammenarbeit zwischen den Organen und sonstigen Stellen
der EU, den Mitgliedstaaten und relevanten Institutionen auf nationaler Ebene, einschließlich
Justizbehörden, Menschenrechtseinrichtungen, Gleichstellungsstellen, Bürgerbeauftragten
und Zivilgesellschaft, sowie entsprechenden internationalen Institutionen stützen.
Beiträge des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs und des Gerichtshofs der
Europäischen Union wären ebenfalls wertvoll, insbesondere zu objektiven Kriterien, nach
denen definiert wird, was ein eindeutiges Risiko einer Verletzung und eine schwerwiegende
und anhaltende Verletzung von Werten der Union sind. Dies erfordert eine bessere
Abstimmung, eine verstärkte Zusammenarbeit und den vollständigen Einsatz von bestehenden
legislativen und nicht legislativen Hilfsmitteln in den jeweiligen Bereichen.
Wer sollte für dieses Hilfsmittel zuständig sein?
1
Wie lange die Annahme von Gesetzen ausgesetzt werden soll und welche Auswirkungen sie hat, wird in einer
späteren Phase erörtert.
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Wir schlagen die Einsetzung eines unabhängigen Überwachungsgremiums vor, das sich
aus Vertretern der Kommission, des Parlaments, des Rates, der Grundrechteagentur und des
Europarats sowie u. U. von nichtstaatlichen Organisationen zusammensetzt und als einzige
Anlaufstelle („one-stop-shop“) fungiert. Dieses Gremium, das ohne Vertragsänderung
eingesetzt werden soll, wird alle bestehenden Informationen und Hilfsmittel in einem
einheitlichen EU-Bericht zusammentragen.
Die Grundrechteagentur sollte die Stelle sein, die diesen Prozess unter der Aufsicht der
Kommission als Hüterin der Verträge leitet. Deshalb sollte das Mandat der
Grundrechteagentur so ausgeweitet werden, dass ihre Aufsichtsbefugnisse gegenüber den
Mitgliedstaaten erweitert werden, und sie sollte mit den notwendigen personellen und
finanziellen Ressourcen ausgestattet werden.
Wegen der Tatsache, dass die Grundrechteagentur derzeit nur diejenigen Bereiche überwacht,
die in die Zuständigkeit der EU fallen, und Trends und Bedürfnisse der gesamten EU
analysiert, ohne auf einzelne Mitgliedstaaten einzugehen, sollte ein Ständiger Ausschuss
unabhängiger Experten1, der parteipolitisch unabhängig ist und sich auf Fakten stützt, durch
eine interinstitutionelle Vereinbarung eingesetzt werden. Er könnte seine Arbeit unverzüglich
aufnehmen, und alle Empfehlungen dieses Gremiums sollten für die Kommission verbindlich
sein. Der Ausschuss von Experten sollte als Präventivinstrument arbeiten und tätig werden,
bevor ein Land einen Wert verletzt, und als Überwachungsinstrument, um die Schwere der
Verletzung zu bewerten, und er sollte sich um den Dialog mit dem betreffenden Mitgliedstaat
gemäß dem Verfahren des EU-Rahmen für das Rechtsstaatsprinzip bemühen.
den Anzeiger im Zusammenhang mit dem Prozess des Europäischen Semesters
umfassen.
Vergangenes Jahr gelangte der italienische Vorsitz des Rates der EU zu der Schlussfolgerung,
dass „der Schutz der Rechtsstaatlichkeit im Rahmen der EU-Verträge“ einmal pro Jahr
auf die Tagesordnung des Rates gesetzt werden sollte.
Wie im Falle des Justizbarometers sollten Daten, die durch den Demokratieanzeiger zur
Verfügung gestellt werden, zum Prozess des Europäischen Semesters beitragen, um den
Informationsaustausch auf einer interinstitutionellen Ebene zu gewährleisten. Diese
Informationen könnten die Grundlage für die Annahme länderspezifischer Empfehlungen im
Einklang mit Artikel 2 EUV durch die Kommission bilden, die diese Empfehlungen dann an
den Ministerrat weiterleitet, damit der Europäische Rat sie unter Umständen billigt. Die
Mitgliedstaaten sollten dann diese politischen Leitlinien in ihre jährlichen Haushalte und
anderen Rechtsvorschriften integrieren.
Wir meinen auch, dass das Europäische Parlament in dem gesamten Prozess eine wichtigere
Rolle spielen sollte.
Verschiedene Ebenen von Sanktionen
Je nachdem, wie schwer die Verletzung ist und inwieweit der/die betreffende(n)
Mitgliedstaat(en)
kooperiert/kooperieren,
kämen
verschiedene
Ebenen
von
Präventivmaßnahmen/Sanktionen infrage. Unter anderem könnte man in Erwägung ziehen
vorzuschlagen, EU-Mittel einzufrieren oder den betreffenden Mitgliedstaat darum zu
ersuchen, die nationalen Rechtsvorschriften/Rechtsakte/Beschlüsse auszusetzen, die die
Gefahr einer Verletzung von EU-Werten darstellen könnten. Auch könnte untersucht werden,
ob die Möglichkeit besteht, dass der EuGH ein Bußgeld oder einen Pauschalbetrag gegen den
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Die Struktur und die Besonderheiten dieses Ausschusses sowie die Ernennung seiner Mitglieder werden in
einer späteren Phase erörtert.
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betreffenden Mitgliedstaat verhängt.
Fazit
Abschließend kann festgestellt werden, dass wir einen umfassenden Rahmen durch
Zusammenführung aller verfügbaren Verfahren benötigen. Unter Umständen könnte die
Möglichkeit untersucht werden, dass Mitgliedstaaten Klage gegen andere Mitgliedstaaten
nach Artikel 259 AEUV vor dem Europäischen Gerichtshof einlegen, was eine Möglichkeit
sein könnte, die Durchsetzung von EU-Werten zu gewährleisten. Vorrangig sollte aber die
Kommission als Hüterin der EU-Verträge eine wichtige Rolle spielen, denn sie kann
Vertragsverletzungsverfahren nach Artikel 258 AEUV einleiten. Die endgültige Entscheidung
sollte weiterhin beim Gerichtshof der EU liegen.
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