Kinder - Thaihom

Knapp 14 Millionen Kinder und Jugendliche unter 14 Jahren leben in Thailand. Sie träumen davon, später als Ärztin, Soldat, Polizist, Lehrerin oder Ingenieur tätig zu sein, wenn
sie erwachsen sind, um mit ihrem Können den Menschen nützlich zu sein und eine Familie
zu ernähren. Thailand begeht jeweils am zweiten Samstag im Januar den Tag der Kinder.
Dabei bemühen sich die Regierungen um massentaugliche Shows: So dürfen ausgewählte
Kinder medienwirksam für einige Sekunden auf dem Bürostuhl der Premierministerin
oder des Premierministers Platz nehmen und sich dabei ablichten lassen. Am Schicksal
der Kinder ändert sich dabei nichts, und ihre Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen
stehen auf keiner politischen Agenda. Fünf Millionen Kinder Thailands stammen aus Familien, die unterhalb der Armutsgrenze durchkommen müssen. Diese Kinder leiden unter
Mangelernährung, erhalten eine schlechte Ausbildung und haben kaum Zugang zu
Dienstleistungen für Kinder. Sieben Millionen Kinder sind im Alltag mit Gewalt konfrontiert. Rund ein Drittel von vielleicht drei Millionen staatenlosen Kindern erhält kaum
schulische Bildung. Auch Kinderarbeit ist noch immer ein Thema in Thailand.
Wissbegierig und fleissig – doch die Chancen sind ungleich verteilt
Gewalt gegen Kinder
Eigentlich müsste ein Aufschrei durch die thailändische Gesellschaft gehen. Eine 2015 veröffentlichte Studie ergab, dass um die Hälfte aller Kinder in Thailand mit Gewalt im Elternhaus,
in der Schule und bei Institutionen für Kinder konfrontiert sind. Körperliche und seelische Verletzungen sind die Folge. Dieses Ergebnis steht in krassem Gegensatz zur Annahme, dass Erwachsene in Thailand den Kindern ganz allgemein mit grossem Verständnis, Mitgefühl und
Toleranz begegnen. Doch das vorurteilsbehaftete Bild scheint zu trügen. Die UNICEF berichtet
von über 19'000 Kindern, die 2013 in Provinzspitälern wegen Missbrauch behandelt wurden,
70 Prozent in der Folge von sexueller Gewalt. 1 Sogar Kinder aus Mittelklasse-Familien landen
auf der Strasse, weil sie zu Hause kaum Liebe und Zuneigung erfahren.
Kinder, die vorzeitig die Schule verlassen, sind einem grossen Risiko für ihr späteres Leben
ausgesetzt. Wovon wohl mögen Strassenkinder, junge Drogenabhängige, staatenlose Kinder
ohne Rechte, Kinder mit Lernschwierigkeiten, ausgebeutete und misshandelte Kinder, behinderte Kinder und Kinder aus sehr armen Verhältnissen träumen? Ihre Chancen, eines Tages
einen der begehrten Traumberufe auszuüben, sind minim. Rund ein Drittel aller Kinder fallen
durch die Maschen des zentralisierten und selektiven Bildungssystems. Alle diese Kinder sind
anfällig für Depressionen, Drogenmissbrauch und Kriminalität. Kinder auf dem Lande haben
viel schlechtere Bildungschancen als Kinder in städtischen Zentren, vor allem natürlich in
Bangkok, da die Bildungseinrichtungen ungleich verteilt sind und sich vor allem auf den Grossraum Bangkok konzentrieren.
1
http://www.unicef.org/thailand/protection_22199.html
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2
Weit hinten im Rennen um die vorderen Plätze in Staat und Gesellschaft befinden sich auch die
Kinder mit Migrationshintergrund. Schätzungen sprechen von 250'000 bis drei Millionen Kindern. 2 Sie haben praktisch keinen Zugang zum Bildungssystem, weil sich ihre Eltern oft illegal
in Thailand aufhalten und die Ausweisung befürchten müssen, sollte ihr Aufenthaltsstatus bekannt werden. Solche Kinder können in die Heimatländer ihrer Eltern abgeschoben werden,
auch wenn sie in Thailand geboren wurden und für ihren „illegalen“ Status keine Verantwortung tragen. Alle diese Kinder sind im Grunde staatenlos, besitzen keine Aufenthaltspapiere
und haben deshalb die viel schlechteren Chancen in Bildung, Gesundheit und Beruf als ThaiKinder. Das staatliche Bildungssystem erfasst zwar auch staatenlose Kinder; diese bleiben häufig nicht bis zu einem Abschluss in der Schule und steigen vorzeitig aus, um schlecht bezahlte
Arbeiten zu verrichten und damit die Eltern materiell zu unterstützen.
"Übelste Formen der Kinderarbeit"
Kinderarbeit ist in Thailand noch immer ein grosses Thema, dem aber offiziell wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Es bestehen nicht einmal verbindliche statistische Angaben, obwohl
nach Ansicht der US-Behörden „Kinder in Thailand den übelsten Formen der Kinderarbeit ausgesetzt sind“. Die herumgebotenen Zahlen schwanken zwischen 15'000 und 186'000. Die Regierung brüstete sich damit, dass sie im April 2014 eine Übereinkunft der International Labour
Organisation (ILO) ratifiziert habe. Das Papier verbietet den Verkauf von Kindern in die Sklaverei und den Missbrauch von Kindern in der Prostitution.
Einer anderen Art von Risiko sind vor allem Kinder im Grossraum Bangkok ausgesetzt: Sie
sollen häufiger unter Übergewicht als Kinder vom Land leiden und Gefahr laufen, dass sie zu
hohe Cholesterinwerte entwickeln und später unter Folgekrankheiten wie Herzinfarkt und Diabetes leiden werden. Die Resultate von mehreren Studien sind alarmierend: Mindestens zwei
Drittel der Schulkinder in Bangkok weisen einen zu hohen Cholesterinwert auf, und ein Fünftel
ist übergewichtig.3 Die Gründe dafür dürften auf der Hand liegen: Ernährungsfehler und Bewegungsmangel.
Eine mögliche Erklärung liefert eine Studie aus dem Jahre 2013, wonach 15 Prozent der Kinder
in Thailand (2,7 Millionen) spiel- und chatsüchtig (online games, Facebook) sind.4 Kinder und
Jugendlich leben nicht in einer abgeschotteten Welt. Sie sind den materiellen Verlockungen
ebenso ausgesetzt wie die jungen Menschen irgendwo auf der Welt. Sie geraten in eine kompetitive Gesellschaft und verinnerlichen die Werte der Erwachsenen. Sie wollen berühmt werden, die Welt verändern oder mindestens an einem Beauty Contest teilnehmen. Allzu schnell
lernen sie, dass es zum Vorwärtskommen nicht nur Intelligenz und Schönheit, sondern auch
Ellbogen braucht – und die meisten von ihnen bleiben irgendwo auf der Strecke, ohne das Ziel
erreicht zu haben. Spielen und Chatten bieten Ausflüchte in eine illusionäre Traumwelt, die von
den realen Verhältnissen abgehoben ist. Allerdings bieten Spiel und Spass auch die Möglichkeit, für einen Moment den mühsamen Alltag zu vergessen, die Träume der Kindheit auszuleben und neue Kräfte zu tanken.
2
2015 publizierte Zahlen sprechen von drei Millionen staatenloser Kindern in Thailand, wobei eine Million von
ihnen keine schulische Bildung erhalten soll (The Nation, 20.7.2015). Sicher ist, dass die Zahl der Ausländerkinder in den letzten Jahren stark zugenommen hat.
3
Chutima Sirikulchayanonta, Wasoontara Ratanopas, Paradee Temcharoen, Suwat Srisorrachatr: Self discipline
and obesity in Bangkok school children. BMC Public Health 2011, 11:158. Bruce Bickerstaff: Obesity in Thailand: Behold the perfect storm. http://www.burning-bison.com/obesity.htm. Pavintra Harinsoot Somnuke: Childhood Obesity: A Weighty Problem, The Nation, 29.1.2013.
4
The Nation 15.10.2013 und Bangkok Post 15.10.2013
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3
Viele Kinder in ländlichen Gegenden (vor allem aus dem Nordosten) wachsen bei den Grosseltern oder anderen Verwandten auf, weil ihre Eltern als Wanderarbeiter in den grossen Zentren
beschäftigt sind und ihre eigenen Kinder oft schon wenige Tage oder Wochen nach der Geburt
bei Verwandten zurücklassen. Solchen Kindern fehlt es oft an emotionaler Zuwendung, Betreuung und Förderung, weil ihre Bezugspersonen alt, krank und arm sind. 2014 kam eine UNICEFStudie zum Schluss, dass in Thailand etwas mehr als ein Fünftel aller Kinder und Jugendlichen
unter 18 Jahren nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen. Im Vergleich mit anderen Ländern
ist dieser Prozentsatz alarmierend hoch. Solche Kinder lernen und entwickeln sich langsamer
als andere Kinder, vor allem in sprachlicher Hinsicht. 5 Die Grosseltern sind häufig arm und
kaum in der Lage, ihre Grosskinder ausreichend zu ernähren, geschweige denn ihnen Bücher
oder Lernspielzeuge zu kaufen. Die Geldüberweisungen der Eltern kommen unregelmässig;
gegen die Hälfte der Väter sendet während Monaten überhaupt kein Geld.
Traumatische Erfahrungen im Süden
Besonders traumatisch ist die Situation für zehntausende von Kindern in den drei südlichsten
Provinzen Pattani, Yala und Narathiwat, wo Aufständische seit Jahren Väter und Mütter kaltblütig ermorden, Lehrer gezielt umbringen und Schulen abfackeln, im angeblichen Kampf gegen den verhassten Zentralstaat. Kinder sind die Leidtragenden einer irrsinnigen Politik. Sie
werden ihrer Eltern und Lehrpersonen beraubt. Sie gehen vorzeitig von der Schule ab, weil sie
zum Lebensunterhalt ihrer Familien beitragen müssen oder weil ihre Eltern um die Sicherheit
ihres Nachwuchses fürchten. Vor allem männliche Jugendliche geraten in die Fänge von Fundamentalisten und füllen deren Ränge auf. Aufständische und kriminelle Elemente verbauen
die Zukunft der Kinder in Thailands Süden.
Kinder sind auch Opfer der häufigen politischen Auseinandersetzungen, die auf der Strasse
ausgetragen werden. Im Januar 2014 waren gegen tausend Bildungseinrichtungen wegen der
politischen Proteste geschlossen. Über 300‘000 Kinder und um die 18‘000 Lehrer waren gezwungen, zeitweise von den Schulen fern zu bleiben, in einigen Fällen über mehrere Wochen.
An einem einzigen Wochenende im Februar 2014 kamen vier Kinder ums Leben; sie wurden
Opfer von Anschlägen auf Anti-Shinawatra-Demonstranten. Von der Politik können die Kinder
Thailands nicht viel mehr als schöne Worte oder Aufforderungen zu patriotischem Verhalten
erwarten. Obwohl das Bildungsbudget des Landes vergleichsweise hoch ist, versickert ein
Grossteil des Geldes in einem Bürokratiedschungel. Eine echte Bildungsreform, die nicht bloss
die freie Abgabe von Tablettcomputern an Primarschüler und deren Haarlänge6 umfasst, ist seit
mehr als zehn Jahren überfällig. Eine solche Reform würde mehrere Schritte umfassen: den
staatlichen Bildungsdschungel auslichten und dezentralisieren, einen fairen Zugang zur Bildung für alle Menschen schaffen, die Ausbildung der Lehrkräfte verbessern und die Lernkonzepte den Erfordernissen der Zeit anpassen, die Berufsausbildung auf eine völlig neue Basis
stellen, den Schülern Plattformen zu freier Meinungsäusserung zur Verfügung stellen. Noch
immer werden Schüler durch einen autoritären Führungsstil eingeschüchtert, manchmal sogar
mit Gewalt, wenn sie unangenehme Fragen oder sogar Forderungen stellen. Solche oder ähnliche Ziele stellte auch das Büro des staatlichen Bildungsrates auf. Doch bleiben sie oft abstrakt
und abgehoben vor der konkreten politischen und administrativen Wirklichkeit des Bildungssystems.
5
Die Langzeitstudie wird in Zusammenarbeit mit dem Institute for Population and Social Research an der Mahidol-Universität durchgeführt und soll 2016 abgeschlossen werden.
6
Erziehungsminister Phongthep Thepkanchana hob 2013 eine Vorschrift aus dem Jahre 1972 auf, die den Kurzhaarschnitt von Schülerinnen und Schülern vorschrieb, mit Verweis auf eine andere Vorschrift aus dem Jahre
1975, wonach die Haare nur noch „ordentlich“ sein mussten.
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4
Privates Engagement als Zeichen der Hoffnung
Der Staat insgesamt investiert bloss in das
formale Bildungssystem und lässt Kinder in
speziellen Situationen links liegen. Programme für unterprivilegierte, behinderte
und gefährdete Kinder sind privaten und
konfessionellen Hilfsorganisationen sowie
engagierten Lehrern, Politikern und Beamten auf lokaler Ebene zu verdanken. Die folgenden Beispiele sind Zeichen der Hoffnung. Sie sind nur ein Ausschnitt aus dem
bunten Mosaik an privatem Engagement für
die Kinder in Thailand.
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In Nakhon Ratchasima schufen Private eine Einrichtung, um die aus dem Schulsystem
gefallenen Kinder von der Strasse zu holen und sie sinnvoll zu beschäftigen.
Die Children's Cornerstone Foundation betreibt Programme in Schulen von Chiang Mai
und Phuket, laut denen Gesundheit, Sport und Erziehung von benachteiligten Kindern
gefördert werden sollen.
Special Olympics Thailand, eine Organisation, die sich um die 600'000 Kinder mit mentalen Schwächen kümmert, startete 2013 ein Drei-Jahres-Programm; dabei sollen behinderte Kinder ohne Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem, immerhin über 90
Prozent von ihnen, auf gesundheitliche Probleme hin untersucht und einer entsprechenden Behandlung zugeführt werden. Sie leiden beispielsweise unter Sehschwächen,
Zahnproblemen, Übergewicht oder unerkannten Entzündungen. Solche Kinder sind oft
nicht in der Lage, ihre gesundheitlichen Probleme in ihrer Umgebung zu artikulieren
und geeignete Hilfe zu holen.
Männliche Jugendliche erhalten in zahlreichen buddhistischen Klöstern eine Chance.
Sie verrichten dort einfache Dienste für die Mönchsgemeinschaft und erhalten im Gegenzug Essen, Obdach und schulische Förderung. Einige Tempel führen auch eigene
Schulen.
Der 2003 verstorbene amerikanische Redemptoristen-Pater Ray Brennan gründete in
Pattaya eine Organisation, die heute 850 behinderte und verlassene Kinder betreut und
ihnen faire Startchancen für ihr Leben verschafft.
Schon seit Jahrzehnten ist die Duang Prateep Foundation in den Slums von Bangkok
tätig. In Klong Toey (Bangkok), Kanchanaburi und Chumphom gibt es Zentren, wo
hauptsächlich Jugendliche und junge Erwachsene betreut und gefördert werden. Gründerin des Hilfswerkes ist Prateep Ungsongtham Hata, eine Frau, die in Klong Toey als
Kind chinesischstämmiger Eltern aufgewachsen ist und die mit den Nöten der Hilfsarbeiterfamilien im Hafen von Bangkok und auf den Baustellen von Kindsbeinen an vertraut ist.
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