Lebenszeichen

Panagia hilf! Ostern auf Folegandros
Von Rainer Schildberger
27.03.2016
Lebenszeichen
O-Ton Dimitri Sideris:
Ich glaube, dass diese Zeit, diese Tage gehen nah die Leute. Mehr nah, als
normal.
O-Ton Uta Sideris:
Die Karwoche, die große Woche, d.h. die Megali Efsomasa, da ist jeden Tag
Kirche. Am Donnerstag wird von den Frauen der Sarg geschmückt, der am
Freitag durch die Chora getragen wird, wo alle Häuser beleuchtet sind, und
die Frauen Kolonia sprühen, die symbolische Salbung.
O-Ton Kosta Makaris:
Tagsüber gehe ich meiner Arbeit nach und abends oder oft auch nachts, die
Gottesdienste dauern ja drei, vier Stunden, bin ich in der Kirche und geb mein
Bestes. Ich ruhe mich auch tagsüber immer mal aus. Nach so vielen Jahren
weiß ich schon, wie ich durchhalten kann.
O-Ton Uta Sideris:
Es wird geräumt, geputzt alles, was vom Winter liegen geblieben ist, es wird
drinnen gestrichen, es wird draußen gestrichen, alles weiß gemacht, und es
wird vorbereitet, Kuchen und das Essen für Ostern./ Ostern ist einfach
Ausnahmezustand hier. Da macht man Sachen, die man sonst nie machen
würde. Raki zum Frühstück.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2015
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Panagia hilf! Ostern auf Folegandros
Lebenszeichen
Von Rainer Schildberger
27.03.206
O-Ton Kosta Makaris:
Diese Osterwoche ist die anstrengendste Zeit des Jahres überhaupt. Da gibt
es wahnsinnig viel zu singen und es muss alles in der richtigen Reihenfolge
ablaufen. Ohne Fehler.
Sprecher:
Zehn Stunden braucht die Fähre von Athen nach Folégandros, einer kleinen,
schroffen Insel in der Südägäis. Zwei Orte, ein paar Gehöfte und der enge Hafen, in
dem bei Sturm die Schiffe nicht anlegen. 600 Einwohner. Vor Jahren war ich das
letzte Mal hier. Bevor dem Land das Geld ausging. Nun bin ich zurück. Ignoriere die
Frage, die zuhause oft zu hören war: Ist man als Deutscher überhaupt noch
willkommen? Wie hat die Krise die Menschen hier verändert. Woher nehmen sie
Hoffnung? Es ist Ostern. Vielleicht genau die richtige Zeit für meine Fragen.
In Chora, dem Hauptort oben auf dem Bergplateau, beginnt die nächtliche
Karfreitagspro-zession. Die symbolische Grablegung Jesu. Die Menschen schauen
ernst. Konzentriert auf den Weg und das Singen. Laufen hinter dem Epitáphios her,
der blumengeschmückten Sänfte, in der das Grabtuch liegt mit der eingestickten
Totenklage. Das Gassenlabyrinth ist hell erleuchtet. Es duftet nach Köllnisch Wasser
und Weihrauch. Ich geh einfach mit, tauche nach und nach ein in das Geschehen.
Manchmal nickt mir jemand zu. Eine Frau lächelt mich an. Kenne ich sie?
O-Ton Uta Sideris:
Natürlich haben wir auch die Krise gespürt und dass es bergab ging und so
eine permanente Unsicherheit und Angst immer da war: Wie wird es dieses
Jahr? Wir konnten nicht mehr davon ausgehen, dass es so weiter geht wie
man das so kennt. Als dann an Ostern niemand mehr kam, wo wir gedacht
haben, hoppla, wenn das jetzt so weitergeht. Gab's dann schon Ängste.
Sprecher:
Dann fällt es mir wieder ein. Das ist Uta, die Frankfurterin, die hier vor 27 Jahren
hängen blieb, Dimitri geheiratet hat, mit dem sie zwei erwachsene Kinder hat und ein
Restaurant betreibt. Zur Kirche geht sie nie. Das Religiöse hat für sie keine
Bedeutung. Aber bei der Prozession läuft sie selbstverständlich mit.
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Panagia hilf! Ostern auf Folegandros
Lebenszeichen
Von Rainer Schildberger
27.03.206
O-Ton Uta Sideris:
Ich sehe das so als Ritual, was ne Gemeinschaft herstellt. Je länger ich hier
bin, umso zugehöriger fühle ich mich, und viele sagen, du bist doch Griechin
geworden.
Sprecher:
Angekommen vor der Kirchenpforte, wird der Epitháphios hochgehalten. Alle bücken
sich darunter hindurch. Wer möchte, pflückt sich eine Blüte ab. Der
Beerdigungsgottesdienst beginnt. Die meisten gehen nach Hause. Es sind
überwiegend Frauen, die bleiben und ein paar ältere Männer, die abwechselnd aus
den dicken Büchern vorlesen oder singen. Sie kennen alle Lieder. Einer ist Kosta
Makáris.
O-Ton Kosta Makaris:
Die Leute, vor allem Besucher, die mich singen hören, glauben nicht, dass ich
mir alle Lieder selbst beigebracht habe. Ich hab das vom bloßen Zuhören
gelernt. Wie der Priester vorgesungen hat. Nie einen Unterricht besucht./ An
irgendeinem Karfreitag habe ich angefangen. Niemand hat mich aufgefordert.
Ich hab es einfach gemacht. Und danach hat der Priester gesagt: Du kommst
jetzt immer, wenn wir Messe halten. Seit 1983 mache ich das jetzt. Da war ich
25.
Sprecher:
Kosta ist ein wettergegerbter. Der 57-jährige ist Landwirt und Maurer und schlägt
sich irgendwie durch. Die Insel hat er nie für längere Zeit verlassen.
O-Ton Kosta Makaris:
Das Singen macht mich glücklich. /Aber ob ich auf dem Feld arbeite oder in
der Kirche singe. Das ist alles gleich gut.
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Panagia hilf! Ostern auf Folegandros
Lebenszeichen
Von Rainer Schildberger
27.03.206
Sprecher:
Ostersamstag. Hier scheint alles wie immer zu sein. Jesus bei den Toten im Hades.
Die Lebenden beschäftigt mit letzten Festvorbereitungen zuhause. Die kleinen Läden
haben geöffnet, die Kinder spielen fangen vor der Kirche. Ich sitze in einem Kafeníon
in der Sonne. Der Wirt behauptet, sich an mich zu erinnern. Als ich das bezweifle,
erwähnt er eine Situation von damals. „Welcome back“, sagt er. Und begrüßt auch
gleich zwei andere Deutsche, die eine Zeit in Griechenland gelebt haben und jedes
Jahr hier sind. Thomas und Angelika Molitor.
O-Ton Thomas Molitor:
Mein Eindruck ist, dass man hier in Griechenland versucht, sich an der
Tradition zu orien-tieren, jetzt wo der Weg in eine neue Gesellschaft geht…So
war es früher, so war es gut. Und daran hangeln wir uns in die Zukunft…,
obwohl es uns nichts mehr bedeutet. Das ist ein Konflikt, den ich immer
wieder wahrgenommen habe, dass z.B. ein Hochzeitspaar im privaten Umfeld
traditionelle Musik eigentlich nicht hört, aber auf der Hochzeit muss sie
gespielt werden. Und man nimmt in Kauf, dass keiner tanzt.
O-Ton Angelika Molitor:
Wenn ich hier in der Kirche sitze und die singen jedes Jahr dieselben Texte,
das hab ich mal übersetzt, das sind mittelalterliche Texte, der Pope liest ein
Programm runter, das rasselt an den Leuten vorbei und sie verstehen es auch
teilweise nicht.
O-Ton Thomas Molitor:
Das hat ja nichts mit dem Leben heute zu tun. Das ist für mich auch die
Erklärung, warum Leute daneben stehen und sich unterhalten.
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Panagia hilf! Ostern auf Folegandros
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Von Rainer Schildberger
27.03.206
O-Ton Kosta Makaris:
Es ist egal, ob wir zu zweit in der Kirche sind oder 50 Leute. Wir müssen von
Anfang bis Ende durchhalten. Das verlangt unser Glauben. Ich mag das.
Fühle mich gut dabei. Das musst du auch. Sonst schaffst du es nicht.
O-Ton Angelika Molitor:
Die Liturgie, die Gesänge, die rühren einen schon an. Glaube ist nicht nur im
Kopf, sondern eben auch emotional. Aber wenn man bedenkt, am
Ostersamstag beginnt die Liturgie um 7 Uhr, geht mehrere Stunden, aber die
Gemeinde kommt ne Viertelstunde vor der Auferstehung.
Sprecher:
Mitternacht. Der Platz vor der Kirche ist voller Menschen. Sie haben sich fein
gemacht. Viele halten eine Kerze in der Hand. Warten, dass der Priester mit dem
Osterlicht aus der Kirchentür tritt und das Lied von der Auferstehung anstimmt:
Christós Anésti. Christus ist auferstanden.
Junge Griechen haben Böller gezündet. Alle schrecken zusammen, die Kinder halten
sich die Ohren zu. Mit eingezogenen Köpfen werden die Kerzen entzündet. „Alithós
anesti.“ Er ist wirklich auferstanden, sagen die Leute. Und beglückwünschen sich:
„Chrónia Pollá!“ Lang sollst du leben! Aber die Knallerei zerstört die Stimmung.
Irgendwo singen noch einige dagegen an. Ich stehe in Deckung hinter einem Baum
und beobachte den ungleichen Kampf zwischen Tradition und Moderne. Bald leert
sich der Platz. Da sieht mich Uta. „Kannst mit zu uns, wenn Du willst“, sagt sie.
Erstmal weg hier.
O-Ton Uta Sideris:
Dies Geballer wird übertrieben, das wird jedes Jahr mehr. Man sieht kaum
noch was vor Rauch. Und danach gehen die Leute essen. Die Leute, die
gefastet haben, begnügen sich mit der Magiaritsasuppe, die aus Innereien
besteht, Dill, Zitrone. Und essen erst am nächsten Tag Lamm. Aber viele
fasten nicht mehr, da wird Magiaritsa als Vorspeise gegessen. Und
anschließend Lamm.
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Von Rainer Schildberger
27.03.206
Sprecher:
Uta und Dimitri bewohnen ein Haus im sogenannten Kastro, dem ältesten Teil des
Dorfes. Dicke Mauern, steile Treppen. Im großen Raum ein Kamin und Bücherregale.
Am langen Holztisch sitzen die Familie und ein paar auswärtige Freunde. Griechen,
Holländer, Deutsche. Die Suppe tut gut und auch, dass ich hier wie
selbstverständlich dabei bin. Irgendwann frage ich, was sich auf der Insel mit der
Krise verändert hat.
O-Ton Uta Sideris:
Meine Nachbarin, Rentnerin, die kriegt 200 Euro Rente und die ist ihr gekürzt
worden. Die Leute leben so, haben ein paar Schafe und nen Garten und jetzt
müssen sie Steuern zah-len für ein Feld, womit sie gar kein Geld verdienen./
Ich glaube, die letzten Jahre ist die Konkurrenz größer geworden zwischen
den Leuten. Dass jeder versucht, sein eigenes Ding zu machen und möglichst
viel für sich herauszuholen. Das ist stärker geworden.
Sprecher:
Aber auf Fragen hat hier keiner so richtig Lust. Vielleicht wollen sie sich auch das
Fest nicht verderben. Die alten Lieder werden aufgelegt, zu denen keiner tanzen
kann, außer Thomas und Angelika. Die sind sogar froh darüber, dass nicht über
Politik gesprochen wird.
O-Ton Thomas Molitor:
Hier in Griechenland merke ich in Diskussionen immer einen kulturellen Bruch.
Es wird ganz oft die große Weltverschwörung hinter allem vermutet…Es
passiert was und man guckt automatisch: Wer hat da was gedreht?/ Es gibt
auch einen Ausdruck dafür: To xeno dachtylo. Der fremde Finger./ Was mich
oft in Diskussionen, die ich mit Griechen habe, geärgert hat, ist, dass es häufig
eine Haltung gibt: Was weißt du schon? Ich erkläre dir mal wie es geht…Dass
was du gehört oder gelesen hast, das ist Propaganda. Da wird dann doziert.
Das macht dann keinen Spass. Ich bin willkommen. Aber in dem Augen-blick,
wo wir uns über andere Themen wie das Wetter oder das Essen unterhalten,
muss ich von ihnen unterrichtet werden.
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Von Rainer Schildberger
27.03.206
Das ist auch, wie ich heute Griechenland erlebe, dass dieses Reflektieren
über sich selbst und das Leben und meinen Platz in der Welt, das passiert
nicht so sehr.
O-Ton Kosta Makaris:
Am Sonntag stehe ich um 6 Uhr auf, füttere die Tiere, erledige meine Arbeit.
Bis 11 Uhr muss alles geschafft sein, damit ich rechtzeitig oben bei der Kirche
zur Stelle bin.
O-Ton Uta Sideris:
Und dann…wird mittags die Ikone von der Kirche auf dem Berg geholt und
wird..in jedes Haus getragen. Alle Häuser sind offen für alle. Jeder kann in
jedes Haus reingehen und kann sich vom gedeckten Tisch was nehmen. Meist
süße Sachen und Raki. Und das dauert stundenlang, bis die durch sind.
O-Ton Kosta Makaris:
Niemand weiß, wann dieser Brauch angefangen hat, die Ikone in alle Häuser
zu bringen. Das ist ewig her. Wir glauben, dass, uns die Panagía segnet und
das ganze Jahr über beschützt, wenn wir sie in unser Haus lassen.
Sprecher:
Die Ikone kommt. Ein uraltes ramponiertes Ding. Groß wie eine Tischplatte. Das
Gesicht der Madonna verwittert. Zwei hellere Punkte lassen Augen erahnen. Sonst
nur nachgezeichneter Umriss auf silberner Schutzschicht. Zwei Männer tragen sie.
Davor läuft ein Junge mit der Glocke. Dahinter der Priester und Kosta, der Sänger.
Nach und nach kommen Leute dazu. Steuern das erste Haus an. Ich zögere, einfach
so ein fremdes Wohnzimmer zu betreten. Aber Dimitri, Utas Mann, zieht mich mit
sich.
O-Ton Dimitri Sideris:
Bitte, Raki ist hier. Das ist Honig mit Käse…
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Panagia hilf! Ostern auf Folegandros
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Von Rainer Schildberger
27.03.206
Sprecher:
Ein älteres Ehepaar begrüßt uns. Küsst die Ikone. Schnell füllt sich der kleine Raum,
der vollgestellt ist mit Möbeln und Erinnerungen. Neben den Schalen mit Kuchen und
Käse, die Bilder der erwachsenen Kinder und Enkel. An der Wand das Foto des
Hausherrn in Uniform.
Alles ist geputzt und glänzt für diesen kurzen Moment der Visite. Ein Raki und ein
Keks und schon läutet es draußen wieder zum Aufbruch. Die Männer schieben die
Madonna zur Tür hinaus. Es warten bereits die Nachbarn gegenüber.
O-Ton Dimitris Sideris:
Wir müssen reingehen ins Haus. Die haben so viel gemacht.
O-Ton Kosta Makaris:
Vor Jahren war es einfacher. Da dauerte es drei, vier Stunden, die Ikone
überall hinzu-bringen. Jetzt gibt es viele neue Häuser, Hotels, Geschäfte und
wir brauchen sechs Stunden. Das ist kaum noch zu schaffen. Aber es ist auch
schön, wenn die Ikone mehr Leute erreicht.
O-Ton Uta Sideris:
Es sind nicht immer alle Häuser auf. Wenn jemand gestorben ist, dann ist das
nicht für Leute, sondern höchstens die Ikone wird reingelassen. Und dann wird
zugemacht…Es geht ja nicht jeder in jedes Haus. Man kann sich jedes Haus
angucken. Kann gucken, wie die Leute wohnen.
O-Ton Dimitri Sideris:
Chronia polla. Wir gehen ein bisschen gucken, komm! Hier ist die Küche. Das
Haus bleibt wie war.
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Von Rainer Schildberger
27.03.206
Sprecher:
Die einen bewohnen nur ein einziges Zimmer mit Bett und Küche, andere geleiten
uns durch Räume mit hohen Decken und uralten Möbeln, wieder andere empfangen
uns in fast leeren Wohnungen, die sie von den Eltern geerbt haben und nur zu
Ostern oder in den Ferien nutzen, weil sie in Athen leben. Auch in sämtlichen
Geschäften kehrt die Ikone ein. Beim Bäcker, in den Restaurants, sogar im
Supermarkt. Und auch beim einzigen Friseur der Insel. Dem Salon von Margarita
Véniou
O-Ton Margarita Veniou:
Ich kenne die Menschen hier gut, weiß was sie denken. Das ist manchmal
ermüdend. Früher war das eine Weile ganz schön, aber jetzt gehen sie mir oft
auf die Nerven mit ihrem Gerede über die anderen. Den Eifersüchteleien.
Warum hat der so viel Geld und ich nicht? Das schadet den Beziehungen
untereinander. Ich lebe hier schon viele Jahre. Für mich läuft es nicht so gut.
Die Leute sparen. Im Sommer sind alle zu beschäftigt, um zum Friseur zu
gehen. Und im Winter ist ihnen das Wetter zu schlecht. Aber wenn sie
behaupten, sie hätten kein Geld für den Friseur, dann stimmt das nicht.
Sprecher:
Seit ihr Mann sie verlassen hat, wohnt Margarita im Sommer wieder bei ihren Eltern.
Im Winter zieht sie zu ihrer Tochter nach Athen. Sie schlägt sich durch. Lebt von
Hausbe-suchen. Denn meistens ist ihr Salon geschlossen. Nur vor den Feiertagen ist
bei ihr immer was los. Da wollen alle gut aussehen. Sie selbst hat sich drei Tattoos
stechen lassen. Den Namen ihrer Tochter auf den einen Arm. Carpe diem auf den
anderen. Und dann noch ein Kreuz im Nacken.
O-Ton Margarita Veniou:
Wenn du dich einsam fühlst, und mein Leben war und ist ja nicht so leicht,
dann brauchst du Hilfe. Der Psychologe nimmt Geld dafür. Mit der Mutter
Gottes kannst du einfach so sprechen, deinen Gefühlen freien Lauf lassen. Ich
weiß auch nicht wie, aber das wirkt Wunder, für mein Leben, meine
Beziehungen. Mit der Zeit komme ich der Panagia immer näher. Haus, Job,
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Von Rainer Schildberger
27.03.206
Geld. Das ist doch nicht alles. Herzensruhe, das ist wichtig. Das geht nur mich
etwas an. Und die Leute hier in Folégandros behalten so etwas auch für sich.
O-Ton Kosta Makaris:
Die einen glauben mehr, die anderen weniger. Aber alle tragen ihre
Hoffnungen und Wünsche mit sich. / Das war schon immer so. Vielleicht
werden die Gebete erhört.
O-Ton Uta Sideris:
Dann geht man nicht so immer mit der Ikone, geht zu den Leuten, die man
kennt. Und trinkt Wein. Und dann geht man mal wieder mit der Ikone mit. Aber
das zieht sich ja.
Sprecher:
Es geht kreuz und quer durch den Ort, auch hoch auf die Anhöhe wo die
neugebauten Apartmentkomplexe stehen. Hier haben die jungen Besitzer und deren
Freunde schon reichlich vom eigenen Raki gekostet. Und auch ich schwanke schon
etwas nach fast zwei Stunden und etlichen Hausbesuchen. Besser, ich nehme nur
noch Wasser.
Einmal geraten Uta, ihre deutschen Gäste und ich auf eine Party von jungen
Griechen, die Athen verlassen und auf der Insel ein Restaurant aufgemacht haben.
Es ist schummrig, voll und verraucht. Ein bißchen wie in einer Diskothek. Buntes
Licht flackert. Wir steigen ein, tanzen eine Weile mit, vergessen die Prozession.
Wieder im Freien. Wir halten wir Ausschau nach der Prozession. Die ist irgendwo
abgebogen. Aber Dimitri kennt die Route. Wir nehmen eine Abkürzung durchs
Labyrinth des Dorfes. Da blitzt plötzlich im Sonnenlicht die Ikone. Kommt uns der
Junge mit der Glocke entgegen und Kosta, der Sänger.
O-Ton Kosta Makaris:
Am Ostersonntag komme ich gar nicht nach Hause. Da bin ich den ganzen
Tag mit der Ikone und dem Priester unterwegs. Die anderen können ja immer
wieder mal aussteigen. Ich nicht./ Und ich bin der Einzige im ganzen Ort, der
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27.03.206
nicht trinkt. Früher, als die Tour kleiner war, hab ich ab und zu auch mal einen
genommen. Aber jetzt geht das nicht mehr. Die Strecke ist einfach zu weit.
Sprecher:
Schließlich kommt die Ikone auch zu Uta und Dimitri ins Haus. Sie gehen unter ihr
hindurch, wie es hier Brauch ist.
Dann beginnt das Fest mit den Liedern, die alle kennen, in denen das kollektive
Gedächtnis Griechenlands mitschwingt. Und immer auch die Gegenwart.
O-Ton Thomas Molitor:
Weil die Inseln schon seit der Antike Orte waren, wo es nicht für alle Arbeit
zum Leben gibt, deswegen war man schon immer gezwungen, die Inseln zu
verlassen. Deswegen drehen sich viele Lieder der Inseln um Abschied,
Wiederkehr, Menschen auf dem Meer zu verlieren.
Sprecher:
Ostermontag. In Chora, dem Hauptort, geht es gemächlich zu. Uta hängt Wäsche
auf. Einige flanieren mit ihrer Verwandtschaft umher. Andere sitzen im Kafenion. Nur
die Ikone ist unterwegs. Die Leute aus dem Nachbarort Áno Mería haben sie
morgens abgeholt und tragen sie jetzt über ihren Teil der Insel. Abends bringen sie
sie wieder zurück.
O-Ton Uta Sideris:
Die Ikone soll halt in jedes Haus, das schafft man nicht an einem Tag. Es sind
ja drei Orte. Von daher muss da noch der Dienstag rangehängt werden.
Und jetzt zieht man die Wanderschuhe an und geht wandern. Viele alte Leute
können da nicht mitgehen, weil der Weg auch irgendwann sehr holprig wird.
Sprecher:
Osterdienstag. In einer langen Schlange zieht die Prozession über die Hügel. Es ist
ein bisschen wie in einem Roman von Nikos Kazantzakis. Die zeitlose, steinige
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27.03.206
Landschaft, das karge Leben. Die Menschen unterwegs zwischen Himmel und Erde.
Die Madonna schaukelt im Frühlingswind wie ein silberner Schutzschild. Der steile
Weg führt vorbei an Bauernhöfen. Hier gibt es Käse und Lammküchlein zum Raki.
Und junge Männer stehen mit Schrotflinten auf den Dächern und ballern in die Luft.
Ich spüre, wie mit jedem Schritt meine mitgebrachte Winterschale aufbricht.
O-Ton Kosta Makaris:
Viel Zeit für meine Familie habe ich Ostern nicht. Ich muss sehen, dass alles
läuft. Aber meine Frau sagt nichts. Die kennt das ja seit Jahren und ist sogar
glücklich, dass ich mit der Mutter Gottes zusammen bin, die das sicher
würdigt. Einmal war ich krank und konnte nicht gehen. Da waren alle besorgt
und unser alter Priester musste das ganze Programm alleine bewältigen. Aber
zum Glück kommt das nicht so oft vor.
Sprecher:
Wir laufen am Garten und den Feldern von Uta und Dimitri vorbei. Der frühere
Ingenieur ist mit den Jahren zum Landwirt geworden und die Familie dadurch
unabhängig von dem zuletzt schwankenden Geschäft mit den Touristen. Schafe,
Weizen, Öl. Wenn es nach ihm ginge, sollten es alle hier so machen. Unabhängiger
werden von außen.
O-Ton Uta Sideris:
Unabhängig zu sein von Krise und allem./ Das ist so sein Ding, Landwirtschaft
und immer draußen.
O-Ton Dimitri Sideris:
Ist meine Medizin. Freiheit ist besser als Geld, ich glaube.
Sprecher:
Nach Stunden erreichen wir den Hafen. Da läuft tatsächlich –wie inszeniert- gerade
die Fähre ein. Zur Feier des Tages dreht sie eine Runde um sich selbst bevor sie
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anlegt. Der Priester und ein paar Helfer laufen mit der Ikone in den Laderaum. Hier
wartet schon die Besatzung, um unter ihr hindurchzulaufen. Sogar der Kapitän
verlässt dafür die Brücke.
Schließlich wird die Panagia auf einen Fischkutter geladen und die Küste entlang
gefahren. Begleitet von Motorbooten.
Erst am Abend ist sie wieder zurück. Oben in der Kirche am Berg. Bis zum nächsten
Jahr.
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