Abteilung: Sendereihe: Sendedatum: Kirche und Religion Gott und die Welt 10.05.2015 Redaktion: Autor/-in: Sendezeit: Anne Winter Petra Aldenrath 9.04-9.30 Uhr/kulturradio _____________________________________________________________________________ Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt; eine Verwertung ohne Genehmigung des Autors ist nicht gestattet. Insbesondere darf das Manuskript weder ganz noch teilweise abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Eine Verbreitung im Rundfunk oder Fernsehen bedarf der Zustimmung des RBB (Rundfunk Berlin-Brandenburg). _____________________________________________________________________________ GOTT UND DIE WELT Die Mamme hat das letzte Wort Jüdische Mütter Sprecherin: OV-Sprecherin: hausintern Regie: Ralph Schäfer 2 1. Musik A jiddische Momme, Violinen-Instrumental, Itzhak Perlman 1. O-Ton Collage - Auf Musikbett a. (Anna Adam) Meine Mutter fand das gar nicht gut, dass ich Punk war und Anarchie toll fand, aber dann hat sie sich damit arrangiert und unseren Nachbarn erzählt: Okay, meine Tochter ist Punk, aber ich sorge dafür, dass ihre Hosen sauber sind. b. (Daniel Alter) Was ist der Unterschied zwischen einer jüdischen Mutter und einem Terroristen? Mit einem Terroristen kann man verhandeln. c. (Hannah) Es ist ein Zerrbild der jüdischen Mamme übriggeblieben. Diejenige, die alle, aber die ganze Familie terrorisiert, mit ihrem Kauf nicht zu kleine Schuh, mach dies nicht, mach jenes nicht. d. (Jalda Rebling) Diesen Kampf ums Überleben – du musst immer beweisen, dass du ein Recht hast zu leben - das sind natürlich Bilder, die sind tief in unsere DNA eingegraben. e. (Haya) I´m a jewish mom (…). 1. OV-Sprecherin: Ich bin eine jüdische Mutter, aber ich verstehe mich als israelische Mutter. Eine israelische Mutter hat ein dickes Fell. Du erklärst deinen Kindern, wie sie sich schützen müssen, was sie machen, wenn die Sirenen Alarm schlagen – dann geht der Alltag weiter. Titelsprecherin: Die Mamme hat das letzte Wort Jüdische Mütter Eine Sendung von Petra Aldenrath Erzählerin Ein Fabrikkomplex aus dem 19. Jahrhundert im Berliner Stadtteil Wedding. Früher war hier ein Elektrizitätswerk untergebracht, heute haben sich in den Backsteinbauten eine Autowerkstatt, ein Möbelmarkt, ein Fahrradladen und eine Berufsschule angesiedelt. Oben, hoch über den Gewerbetreibenden, arbeitet die Künstlerin Anna Adam. Erzählerin 3 Mit einem Lastenaufzug geht es in das Dachgeschoss zu ihrem Atelier. Anna Adam schließt eine schwere Stahltür auf. Erzählerin Hinter der Tür stapeln sich kistenweise Stoffe, Pappen, Dekorationsmaterial. Auf Tischen, Abstellflächen und Fenstersimsen liegen Pinsel, Tuben, Kunstfelle und Kleber. Auf einem Bild an der Wand sind zwei Frauen zu sehen: Die eine jung mit halblangen braunen Haaren, die andere alt - mit einer praktischen Kurzhaarfrisur. Ihre Gesichter sind ganz nah beieinander, die Nasenspitzen berühren sich – zärtlich, wie bei einem Kuss. Die junge Frau ist Anna Adam, die andere ihre Mutter. 1 Ton Anna Adam Die Domina. Das ist ein Bild, das habe ich gemalt, nachdem wir uns getroffen haben. Einige Zeit später ist sie gestorben. Und dann habe ich das Bild aus der Erinnerung gemalt. Wir beide sind uns optisch unheimlich ähnlich. Als ich gegangen bin, waren wir uns einig, dass wir uns immer uneinig sein werden und dass wir einander zutiefst respektieren. Erzählerin Anna Adam ist Anfang 50, ihre Mutter ist bereits seit Jahren tot. Die Künstlerin hat sie geliebt und mit ihr gestritten. Denkt sie an sie, kommen die unterschiedlichsten Gefühle hoch. Da ist zum einen der große Respekt vor einer Frau, die das Konzentrationslager überlebt hat und doch nie den Lebensmut und den Glauben an innere Werte verloren hat und zum anderen ist da die Mutter, die so viel Platz im Leben der Tochter eingenommen hat, dass es schwer war sich zu lösen: 2 Ton Anna Adam Also eines der Hauptklischees ist ja, dass die jüdische Mutter unheimlich stark ist und immer präsent. Und ich finde das stimmt. Ich habe mich mein ganzes Leben und sie ist nun schon lange tot – immer mit ihr auseinandergesetzt und über diese Auseinandersetzung auch viel gelernt, viel schätzen gelernt und bin ihr im Nachhinein auch sehr dankbar für die Dinge, die wir miteinander durchrungen haben. Denn ohne sie, also dieser demokratische Gedanke: Sie hat irgendwann mal gesagt: Hätte ich die Kraft, dann würden wir alle in einem Kibbuz leben, dann würden wir alles mit allen teilen. Erzählerin Anna Adams Mutter stammte aus Polen. Sie sprach jiddisch, die Sprache der aus 4 Osteuropa stammenden Juden, aus der auch das Wort Mamme für Mutter stammt. Da Anna Adams Vater nach dem Krieg Arbeit bei einem Stahlwerk im nordrheinwestfälischen Siegen fand, zog die Familie dorthin um. Die Eltern waren politisch interessiert. Keine Meinung zu haben war bei den Adams schlimmer als eine, an der sich alle rieben. Oft gab es anstrengende Diskussionen, erinnert sich Anna Adam, auch Streit. Als junges Mädchen rebellierte sie. Nicht unbedingt gegen ihre Familie, sondern vor allem gegen die kleinbürgerliche Idylle in Siegen. Anna Adam besetzte Häuser, ging zu Demonstrationen und wurde schließlich Punk: 3 Ton Anna Adam Also meine Mutter fand das überhaupt nicht lustig, dass ich Punk war und Anarchie toll fand. Das war ihr immer viel zu laut um mich rum, aber dann hat sie sich damit arrangiert und den Nachbarn erzählt: Okay, meine Tochter ist Punk, aber ich sorge dafür, dass ihre Hosen immer frisch gewaschen sind. Erzählerin Als sie in den 80ern im Freien campierte um gegen den Bau einer Flughafenlandebahn zu demonstrieren, brachte ihre Mutter ihr Essen vorbei und als die Tochter später ein Frauencafé miteröffnete, zögerte sie nicht lange, gab ihre wertvollen Sammeltassen her und backte zur Eröffnung Kuchen. Später, als Anna Adam selber ein Kind aufzog, fielen ihr diese Geschichten wieder ein und sie merkte, dass sie mehr Fürsorglichkeit und mütterliche Tricks geerbt hat, als sie dachte: 4 Ton / Anna Adam Ich habe festgestellt, dass meine Mutterviel überbrückte. Wenn sie nicht wollte, dass ich bei den Nachbarn irgendwas mit Hackfleisch esse, dann hat sie mir Horrorgeschichten erzählt von diesen Schweinen und hat mir beigebracht wie man Hackfleisch aus Rindfleisch macht. Als unser jüngster plötzlich abgefahren ist auf Fischstäbchen, was ich furchtbar fand, weil das Fabrikware ist, habe ich mich echt hingestellt und frischen Fisch viereckig zurechtgeschnitten, paniert, von allen Seiten angebraten und bevor er aus der Schule kam, habe ich Fischstäbchenpackung rausgeholt, ne sehr bekannte und hab da schnell die Fischstäbchen reingeschubst dann habe ich die da reingepackt und dann raste er in die Küche und sagte: Oh lecker, Fischstäbchen und dann habe ich die wieder rausgeholt und wieder in die Pfanne getan. Musik: Jiddische Mamme / Itzhak Perlman Erzählerin 5 Über die jüdische Mutter – die jiddische Mamme -, über ihr gluckenhaftes Wesen, über ihre Dominanz und über ihre alltägliche Präsenz im Leben ihrer Kinder – auch wenn die schon 30, 40 oder 50 Jahre alt sind – existieren unendlich viele Witze. Zum Beispiel: Was unterscheidet einen Pitbull von einer jüdischen Mamme? Der Pitbull lässt irgendwann los. Auch der Berliner Rabbiner Daniel Alter und seine Frau Hannah kennen solche Sprüche. 5 Ton Rabbiner Alter Was ist der Unterschied zwischen einer jüdischen Mamme und einem Terroristen? Mit einem Terroristen kann man verhandeln! 5 Hannah Es ist ein Zerrbild der jüdischen Mamme übriggeblieben. Diejenige, die alle, aber die ganze Familie traumatisiert, mit ihrem Kauf nicht zu kleine Schuh, mach dies nicht, zieh dich warm an, komm nicht mit der nach Hause. Das spannende ist: Wie kam es zu dieser Verbiegung dieser starken Figur? Erzählerin Dem Rabbiner und seiner Frau fallen bei jüdischen Müttern vor allem die starken biblischen Frauen ein wie Rebekka, Rachel, Lea und Sarah. Frauen, die zwar teils zum Spielball der Männer wurden, aber auch selber in die Geschichte eingriffen und sie prägten. So wurde Sarah, die Frau des Patriarchen Abraham, laut dem Buch Genesis im hohen Alter von 90 Jahren Mutter. Ihren ersten Sohn, den eine Magd für sie gebar, schickte sie in die Wüste. Ihr leiblicher Sohn Isaac gilt heute als einer der Erzväter Israels, Sarah als Erzmutter. Auch bei der Zugehörigkeit zur jüdischen Religionsgemeinschaft kommt der Mutter eine bedeutende Rolle zu. In biblischer Zeit war Jude, wer einen jüdischen Vater hatte. Das änderte sich im Laufe der Geschichte. Heute ist es entscheidend, dass die Mutter Jüdin ist. 6 Ton Rabbiner Alter Da gibt es ganz verschiedene Erklärungen. Ich halte die Erklärung für richtig, dass es nach der römischen Besatzung per rabbinischem Dekret geändert wurde, weil wir wissen garantiert wie die römischen Legionen sich aufgeführt haben – da kam es ganz oft zu Vergewaltigungen. Das hat letzten Endes bedeutet, dass es in vielen Familien Kinder, gab von denen niemand wusste: Wer war der Vater? Oder man wusste: Der Vater war ein Römer. Das Kind kann ja nichts dafür, also hat man nach rabbinischem Dekret gesagt: Es geht nach der Mutter. 6 Erzählerin Anfang des 20. Jahrhunderts, im Jahr 1925, komponierte Lew Pollack das Lied A jiddische Momme, die ein Haus erst schön und mächtig macht und in Sorge um ihre Kinder durch Feuer und Wasser geht. Das Lied war eine schnulzige Verbeugung vor den Müttern. Es wurde ein Evergreen, der um die Welt ging. Musik: A Jiddische Momme /Massel Klezmorim, rein bei 1´06… a jiddische Momme Erzählerin Dass die jiddische Mamme in der breiten Öffentlichkeit zu einer Art Witzfigur, einer Karikatur wurde, ist seit Mitte der 1960er Jahre zu beobachten. War nach dem Holocaust Spott über Juden inakzeptabel und tabu, änderte sich das nun und machte auch vor den Müttern nicht Halt. 1964 erschien das Buch How to be a jewish mom – Wie man eine jüdische Mutter wird. Der amerikanische Autor Dan Greenberg gibt darin mit bissigem Humor scharfzüngige Tipps, wie jüdische Mütter sich am geschicktesten ihre Kinder zurechtbiegen. Er schrieb einen Bestseller und öffnete Schleusen. Die kreative jüdische Szene – Filmemacher und Autoren wie Woody Allen, Ephraim Kishon oder Philipp Roth – machten sich weiter über die Absurditäten des jüdischen Lebens lustig, stellten nun aber gerne auch Mütter in den Vordergrund. Dass dabei vor allem das Klischee der omnipräsenten, alles kontrollierenden Mamme übrig blieb, hat für Rabbiner Alter und Hannah tragische Gründe. Hier sei das Trauma der Geschichte in Witze gepackt: 7 Ton/ Hannah Durch die jüngere Geschichte, durch die Geschichte der Verfolgung, der Paranoia, der Schädigungen. 7 Ton / Daniel fällt ins Wort Gerade die Shoa. Gerade die Geschichte ab dem 30ern des 20 Jahrhunderts hat letzendes bei den Überlebenden dazu geführt – wenn man sich anschaut was die Menschen erlebt haben, dass da Generationen ihrer Kinder, ihrer Mütter umgebracht wurden – dass da dann der Wunsch ganz stark wird, manchmal auf massive Art und Weise, auch auf dominante Art, dass die Kinder, die überlebt haben, die zu beschützen, dieser Wunsch bekommt dann manchmal einen zwanghaften Charakter. 3 Atmo: Straße am Gethsemaneplatz 7 Erzählerin Eine ruhige Seitenstraße im Prenzlauer Berg an einem sonnigen Nachmittag. In den Straßencafes rund um die Gethsemanekirche findet sich kein freier Platz mehr, auf dem Spielplatz toben Kinder. Ein paar Häuser weiter wohnt die Schauspielerin, Sängerin und Kantorin Jalda Rebling. Während sie Wasser für einen Tee aufsetzt und frische Kekse in eine Dose füllt, singt sie vor sich hin. 4 Atmo Jalda singt im Hintergrund Erzählerin Jalda Rebling stammt aus einer musikalischen Familie. Ihr Vater war Musikkritiker und Pianist, ihre Mutter war Sängerin und Tänzerin. Die Eltern haben sich in den Niederlanden kennengelernt. Sie schlossen sich dem Widerstand an und versteckten verfolgte Juden. Als sie verraten wurden, konnte Eberhard Rebling fliehen, seine Frau wurde verhaftet und nach Bergen Belsen und Auschwitz gebracht, die Konzentrationslager in denen auch Anne Frank war. Jaldas Eltern überlebten den Holocaust. Nach Kriegsende gingen sie zunächst zurück nach Amsterdam, wo ihre jüngere Tochter Jalda geboren wurde. Als der Vater seinen Job verlor und das Angebot bekam, Chefredakteur einer Musikzeitschrift im Osten Deutschlands zu werden, zogen sie 1952 ins brandenburgische Eichwalde südöstlich von Berlin. Jalda war da gerade mal ein Jahr alt: 8 Ton Jalda Wir reden über die 50er Jahre. Für meine Mutter war das hart und sie ist in Depressionen gerutscht. Es gibt Geschichten, dass sie nach Buch gebracht wurde, um dort im Krankenhaus untersucht zu werden und dann kamen die deutschen Ärzte und da ist sie natürlich abgehauen, rausgerannt und mit der S-Bahn nach Hause gefahren. Erzählerin Schwer traumatisiert von den Erfahrungen im Konzentrationslager richtete sich Jaldas Mutter in Eichwalde ein neues Leben ein. In der DDR wurde sie wieder zu einer angesehenen Persönlichkeit. So wie vor dem Krieg eroberte sie unter ihrem Künstlernamen Lin Jaldati die Bühnen, tanzte, sang, ging auf Tournee und füllte weltweit große Konzertsäle. 8 Musik: Lin Yaldati / Dem Millers Trern 9 Ton Jalda Rebling Offiziell hat sie wundervoll funktioniert, aber das eine ist das offizielle und das andere ist was passiert wenn die Haustür zuschlug und die Dibukim, wie wir sie nennen, also diese ganzen Seelen, die ihr Leben nicht vollenden konnten und irgendwie durch das Haus geisterten. Heute weiß ich, wie man mit Depressiven umgeht, woher sollte ich das als Kind wissen? Es gab so Tage, wenn sie depressiv war, da musste ich nicht zur Schule und dann habe ich die Mutter festgehalten. Also diese umgedrehte Welt, weil sie sich nicht rausgetraut hat und dann immer diese kleine Kinderhand fast zerquetscht hat, weil sie Angst hat. Erzählerin Natürlich gab es auch die guten Zeiten, in denen ihre Mutter Ausflüge mit den Kindern unternahm, mit ihnen herumalberte und fröhlich war. Aber die schlechten Zeiten nahmen viel Platz ein, sagt Jalda Rebling. Sie und ihre Schwester lernten früh Verantwortung zu übernehmen und mit dem Trauma ihrer Mutter zu leben. Fragen über die Zeit im Konzentrationslager stellten sie nicht: 11 Ton Jalda Rebling Man fragt nicht. Es gibt bestimmte Themen, da fragt man nicht. Sie hat wenig erzählt. Es gibt diese eine Geschichte, die sie immer wieder erzählt hat und zwar genau so und nicht anders. Das was sie uns da vermittelt hat, ist genau dieser schmale Spalt an Erinnerung, den sie selber zugelassen hat. Sie war die beste Mutter, die sie sein konnte. Erzählerin Die Mutter erzählte Geschichten aus der Illegalität, über das Konzentrantionslager konnte sie nicht sprechen. Jalda Rebling holt eine CD hervor. Sie steckt in einem braunen Kuvert - die Kopie eines Briefes, den ihre Mutter Lin aus dem Konzentrationslager rausschmuggeln ließ. Die Lieder auf der CD sind eine Hommage an ihre Mutter: 5 Atmo: A Briefele von Vilna. Die Lieder hat sie nie gesungen, die habe ich jetzt alle aufgenommen Musik: Lied 1 der CD / Jalda sing Lin Yaldati Erzählerin 9 Jalda Rebling hat lange gebraucht, um zu verstehen, wie sehr das Trauma der Verfolgung das Leben ihrer Mutter prägte. Ihre ständigen Kontrollen Wo sind meine Kinder, warum rufen sie nicht an? Heute weiß sie, dass das nichts mit Dominanz zu tun hatte, sondern mit purer Angst: 12 Ton Jalda Diesen Kampf ums Überleben. Das ist natürlich ein Element, das durch unsere Familie kommt. Du musst immer wieder beweisen, dass du ein Recht hast zu leben, du musst dafür sorgen, dass du gesund bist und nicht krank wirst und überleben kannst. Und dann die Panik mit kleinen Kindern. Sobald die groß genug sind, zieht man ihnen eine lange Hose an. Dann gehen sie als Erwachsene durch und die Chance zu überleben ist größer. Das sind natürlich Bilder, die sind tief ins unsere DNA eingegraben und das wird nicht mit meiner Generation verschwinden. Dieses Anrufen und sagen, dass wir am Leben sind – das zieht sich durch mein ganzes Erwachsenenleben. Ich habe auch mit meinem Vater jeden Tag telefoniert, selbst wenn wir uns nichts zu sagen hatten, aber jeden Tag das Zeichen setzen Ich lebe. Das war elementar wichtig und das habe ich dann bei meinen Kindern abgeschafft. 6 Atmo: Schöneberg Erzählerin So wie Jalda Rebling ist auch Rabbiner Daniel Alter der Sohn Überlebender. Er wurde Ende der 1950er Jahre in Nürnberg geboren. Auch er wuchs mit den immer wiederkehrenden Ängsten der Eltern auf. „Trage deinen Davidstern besser nicht offen, sondern im Hemd“, war ein Ratschlag, den sie ihrem Sohn mit auf den Weg gaben. Heute lebt der Rabbiner mit seiner Frau Hannah und seinen beiden Töchtern in einer Altbauwohnung in Berlin-Schöneberg. Er arbeitet als Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, seine Frau ist freischaffend im Kulturbereich tätig. (o.c.: Als Frau eines Rabbiners verschweigt sie jedoch oft, dass sie nicht nur Mutter und Ehefrau ist, sondern auch berufstätig. Für die Mehrheit der Bevölkerung passe eine arbeitende Rabbinergattin nicht in das vorherrschende Bild, erklärt sie: 12 Ton / Hannah Wenn man so sieht wie Rabbiner dargestellt werden – gerne auch in Filmen, in einem Tatort. Die haben immer so etwas geheimnisvolles, sie haben immer so einen langen Bart. Das ist ja nun auch nicht so das Bild, das meinem Mann entspricht, aber es ist das, was tradiert wird. Ein Großteil der Bevölkerung kennt gar keine Juden persönlich, oder Jüdinnen. Erzählerin 10 Der Großteil der Juden ist heute säkular geprägt und lebt ein modernes Leben, in dem die Rollenverteilung oft nicht mehr dem tradierten, klassisch-konservativen Bild entspricht. Trotzdem halten sich die Stereotype. Neben dem der kontrollsüchtigen jiddischen Mamme existiert auch heute noch vor allem das der orthodoxen jüdischen Mutter, schlicht gekleidet mit Perücke auf dem Kopf, die mindestens ein halbes Dutzend Kinder großzieht und den Haushalt schmeißt, während der Mann die heiligen Schriften studiert. Diese orthodox jüdischen Mütter sorgen oft zusätzlich noch dafür, dass Geld in die Familienkasse kommt, , sagt Daniel Alter: 13 Ton /Alter Ich kann mich erinnern, dass 2004/2005 in der Nähe von Jerusalem eine HightechChipfabrik eröffnet wurde, die ganz speziell auf die Bedürfnisse von orthodoxen Frauen zugeschnitten war, weil das ein gebildeter Pool an Arbeitskräften ist, der eine Qualifikation hat. Das ganze ist nicht ganz so golden wie es scheint, weil es bedeutet, dass die Männer den ganzen Tag nichts anderes tun als sich dem Thorastudium zu widmen. Dass ultraorthodoxe Frauen auch berufstätig sind, daran hindert sie nichts. O.C. Ende) Erzählerin Daniel und Hannah Alter sind ein modernes Paar. Er trägt zwar Kippa, ist ansonsten aber lässig gekleidet, sie könnte vom Outfit her auch eine Galerie leiten. Da er oft auf Dienstreisen ist, organisiert meist sie das Familienleben. Typisch jüdische Mutter? Hannah mag kein Schubladendenken, auch wenn es um ihre Kinder geht: 14 Ton / Hannah Es ist natürlich bei diesen ethnischen Zuschreibungen immer etwas schwierig. Ist da was speziell jüdisches? Ja? Nein? Ja? Sie sind total unselbständig gewesen lange Zeit, weil sie von A nach B gefahren worden, permanent. Meine große Tochter musste mit 12 erstmal U-Bahn fahren lernen. 14 Ton Daniel Dann gibt es eben auch ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis und dem wird dann auch durch ein entsprechendes in die Schule bringen, durch Shuttleservice Rechnung getragen. Das ist ganz normal. 14 Ton / Hannah Das liegt in der Natur der Sache. Du musst sie natürlich behüten, aber diese Unselbständigkeit ist mir ganz schön auf den Senkel gegangen. Erzählerin ( Kürzung möglich, dann fällt der Überfall weg, aber der Übergang ist besser. Vor ein paar Jahren wurde ihr Mann, im Beisein der Tochter, vor der Haustür überfallen, 11 weil er Jude ist und Kippa trägt. Nach dem Schock nahm die Familie aber rasch ihren Alltag wieder auf. Bei den Töchtern sollte keine Angst zurück bleiben und sie daran hindern Dinge zu unternehmen, weil sie jüdisch sind.) Und hier wieder rein: Vor ein paar Jahren lebte die Familie ein Jahr in Israel. Wie Kinder dort zur Selbständigkeit erzogen werden, hat ihnen imponiert. Bei vielen der im Land geborenen Israelinnen sei das Klischee der kontrollsüchtigen jiddischen Mamme, die in ständiger Angst um ihre Kinder lebt, komplett überholt, sagt Daniel Alter und Hannah stimmt zu. 15 Ton Daniel Sondern versuch es, mach es und wenn du hinfällst, stehst du wieder auf. Da gibt es bestimmt Generationen, die dieses Trauma überwunden haben. Wobei man eben auch die Frage stellen muss, ob die Realität des Lebens in Israel nicht einfach auch viel weniger Spielraum für solche Befindlichkeiten zulässt. 7 Trenner / Israel Straßengeräusche Erzählerin 4 Flugstunden von Berlin entfernt in Ramat Gan, einer Stadt, die direkt an Tel Aviv grenzt, lebt Haya Aviram mit ihrer Familie. Haya ist in Israel geboren. Ihre Eltern sind schon vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges hierher ausgewandert. 8 Atmo: Vögel, exotisch, Park in Israel, Meer Erzählerin Trotz der angespannten politischen Lage in ihrer Heimat möchte Haya in keinem anderen Land der Welt alt werden. Von der Dachterrasse ihrer Wohnung blickt man auf Palmen und Orangenbäume – es dauert nur 20 Minuten dann ist man am Meer. Haya ist dreifache Mutter. Sie hat eine Tochter, 15 Jahre, und zwei Söhne, 12 und 17 Jahre alt. Dass der jüngste um halb 10 abends schnell einen Schlafanzug einpackt, sich das Skateboard schnappt und zu seinem Kumpel fährt, ist normal – genau wie mit mehreren Freunden in der Wüste zu campen. Haya hat nichts dagegen: 16 Ton / Haya: I would say, that is quite typical (…) 12 1. OV-Sprecherin: (s.o.) Ich würde sagen: Das ist typisch. So sind die Mütter um mich herum auch. Kinder in Israel wachsen recht unabhängig auf. Ich denke, das ist gut für ihre Entwicklung und ihre Kindheitserfahrungen. Sie sollen ja ihr eigenes soziales Leben haben. Sie sollen frei aufwachsen. Aber, es gibt schon auch Regeln, es ist nicht so, dass sie machen können was sie wollen. Ich versuche ihnen beizubringen, wie man sich verantwortlich verhält, dass sie mir immer sagen, was sie machen, dass sie mich um Erlaubnis fragen. Je älter sie werden, desto mehr Freiräume bekommen sie. Natürlich gibt es da auch Zeiten, in denen ich ängstlich bin, aber ich denke, man muss durch diese angstbesetzten Zeiten durch, die Kinder ihre neuen Erfahrungen machen lassen und dann plötzlich weißt du: sie können es. 9 Atmo: Sirenenalarm / Israel 2014 Erzählerin Der letzte Krieg im Jahr 2014 war wieder so eine angstbesetzte Zeit. Die Sirenen gaben Tag und Nacht Alarm. Nur 15 Sekunden Zeit haben die Menschen dann, um in den Schutzbunker zu gehen. Nicht immer war Haya mit ihren Kindern zusammen, wenn es Raketenalarm gab. Eine Mutter in Israel muss lernen loslassen zu können, sagt die 48jährige Psychotherapeutin: 17 Ton / Haya 1.OV-Sprecherin Eine typische israelische Mutter braucht ein dickes Fell, sie will ja keine Panik verbreiten. Du versuchst deinen Kindern zu erklären wie sie sich schützen sollen. Du erklärst ihnen, was sie machen, wenn die Sirenen heulen, wo sie hingehen können um Schutz zu suchen und dass sie mich wissen lassen müssen, wo sie sind. Ich versuche aber nicht sie davon abzuhalten, ihr Leben zu leben. So macht man das hier. Erzählerin Dennoch, die ewige Sorge um die Kinder bleibt. Momentan beschäftigt Haya vor allem die Angst um ihren ältesten Sohn: Ein ruhiger, freundlicher junger Mann, der Gewalt in jeder Form ablehnt. In ein paar Monaten ist er mit der Schule fertig. So wie alle jungen Männer und Frauen in Israel muss er dann seinen Wehrdienst antreten. Der Musterungsbescheid lag bereits im Briefkasten: 18 Ton / Haya This is really the toughest, toughest (…) 1.OV-Sprecherin (s.o.) Das ist eines der schlimmsten, schlimmsten Themen mit denen sich eine israelische 13 Mutter beschäftigen muss. In der Minute, als die Kinder geboren wurden, habe ich daran gedacht, dass sie eines Tages ihren Armeedienst antreten müssen. Das macht mich total nervös. Ich hoffe, die Armee bietet meinem Ältesten einen Arbeitsplatz an, der zu ihm passt. Es ist schrecklich, Mutter eines Sohnes zu sein, der in einer Kampftruppe dienen muss. Vor allem zu Kriegszeiten. Du kannst nicht mehr richtig atmen, du kannst nicht durchschlafen. Dein Leben ist nicht mehr normal. Der Militärdienst macht mir Angst und ich habe auch moralische Bedenken, weil ich meine Kinder zur Gewaltfreiheit erziehe. Und dann müssen sie in die Armee und als Soldat dienen was das aggressivste überhaupt ist Da prallen Welten aufeinander! Die Armeezeit ist wirklich eins der furchtbarsten Dinge mit denen sich eine israelische Mutter beschäftigen muss. Musik: A Jiddische Momme / Instrumental Titelsprecherin: Die Mamme hat das letzte Wort. Jüdische Mütter. Sie hörten eine Sendung von Petra Aldenrath. Es sprachen: Uta-Maria Torp, Petra Aldenrath, Ursula Voßhenrich Ton: Bettina Mikulla Redaktion: Anne Winter Regie: Ralph Schäfer Das Manuskript der Sendung können Sie telefonisch bei unserer Service-Redaktion bestellen, aus Berlin oder Potsdam unter 97993-2171. Oder per email: religion@rbb- online.de. Und zum Nachhören oder Lesen finden Sie die Sendung auch im Internet unter kulturradio.de
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