Fachtag am 24. Februar 2016 Empirische Befunde zu Gelingensbedingungen im inklusiven Unterricht Prof. Dr. Friedrich Linderkamp Lehrstuhl für Rehabilitationswissenschaften UN-Behindertenrechtskonvention (seit März 2009 in D in Kraft): Anerkennen des Rechts von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen“ („an inclusive education at all levels“). Kinder mit Behinderungen sollen „Zugang zu einem integrativen („inclusive“), hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben und … innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung“ erhalten. 1 Inklusion – gesellschaftliche Ziele: 1. Abbau der sozialen, behinderungsbezogenen, ethnischen und geschlechtsspezifischen Benachteiligung 2. Stärkung der solidarischen Gesellschaft. Inklusion – pädagogische Ziele: 1. Jedes Kind gehört zur allgemeinen Lerngruppe (gemeinsamer Unterricht) und verbleibt dort auch. 2. Keine Sondergruppen in Kitas und Schulen. 3. Individuelle Potenziale / Stärken sind Ausgang der Förderung. Fördererfolg misst sich an der Erreichung individueller Lernund Entwicklungsziele (vgl. Preuss-Lausitz, 2010) Konsequenzen für Diagnostik: A) Klassische Felder, Helmke, 2010: 2 B) Förderdiagnostik 1. 2. Vornehmlich dimensional statt kategorial Vornehmlich prozess- statt ergebnisorientiert Axiome der Förderdiagnostik § individuelle Lernzielorientierung (individuelle Bezugsnorm) § Orientierung am beobachtbaren Verhalten in aktuellen situativen Kontexten § Verhalten variiert über Prozesse des Umlernens und des Neu-Lernens § Störungen gehen aus sozialen und interaktionalen Prozessen hervor § Multimethodale, mehrdimensionale Diagnostik § Per se Verzahnung mit Förderung § Verlaufskontrolle/Evaluation Forschungsergebnisse: • • • • • • Je früher Kinder in Förderschulen kommen, desto ungünstiger ist die kognitive Entwicklung. Kinder mit Lernproblemen lernen in leistungsgemischten Klassen mehr – kognitiv und sozial. Sondergruppen in Regelschulen („Außenklassen“) sind ineffektiver als gemeinsamer Unterricht. Leistungsstarke Schüler/innen in GU-Klassen lernen kognitiv mindestens gleich viel wie in nichtintegrativen Klassen. Deutlicher Zuwachs bei sozialen und demokratischen Kompetenzen. Die Zufriedenheit und die Lernmotivation integrierter Kinder mit Förderbedarf ist hoch – Schuldistanz gering. Der stärker individualisierte GU führt zu einem besseren Klassenklima und zu einer besseren sozialen Einstellung aller Kinder (vgl. Preuss-Lausitz, 2010). 3 Im Übrigen: Der Anteil aller Kinder und Jugendlichen mit klinisch bedeutsamen Verhaltens- und/oder Erlebensstörungen liegt bei >15% Die Inanspruchnahme therapeutischer Hilfen liegt bei 3% Der Anteil der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich E&S liegt im Bundesdurchschnitt bei <1% è Die große Mehrzahl dieser Kinder wurde immer schon ohne festgestelltem Förderbedarf in den „Regelschulen“ beschult und pädagogisch unterstützt. Förderquote: prozentualer Anteil an Schülern bis 15 Jahre (KMK, 2010) 4 Ebenen inklusiver Bildung (Preuss-Lausitz, 2010) 1. Ebene: lerneffektiver und sozial befriedigender inklusiver Unterricht. 2. Ebene: Inklusives, partizipatives Schulleben – akzeptierende Schulkultur und zureichende Ausstattung in einer ganztägig offenen Schule. 3. Ebene: Vernetzung der Schulen mit Kinder- / Jugendarbeit, Jugendhilfe, der Unterstützung von Menschen mit Beratungs- und Hilfebedarf in der Region, Selbsthilfeeinrichtungen und der Kommune. 4. Ebene: Landespolitisch zureichende Rahmenbedingungen für ein inklusives allgemeines Bildungs- und Sozialwesen vom Kindergarten und der Frühförderung über Schule und Ausbildung bis zum lebenslangen Lernen. 5. Ebene: länderübergreifend (KMK, Bund, Dt. Unesco, Stiftungen, Verbände usw.) … nun zur 1. Ebene - was ist ratsam: … Grundlegende Didaktische Prinzipien – im Wesentlichen bereits seit dem 17. Jahrhundert (durch Comenius) bekannt: – – – – – – – – – Prinzip der Motivierung Prinzip der Veranschaulichung Prinzip der Aktivierung Prinzip der Differenzierung Prinzip der Erfolgsbestätigung Prinzip der Erfolgssicherung Prinzip der Schülerorientierung Prinzip der Ganzheit Prinzip der Strukturierung 5 Ob Integration, Inklusion oder hergebrachter Unterricht: Merkmale erfolgreichen Unterrichts nach Hilbert Meyer Merkmale der Unterrichtsqualität nach Helmke • Hoher Anteil echter Lernzeit • Effiziente Klassenführung • Lernförderliches Klima • Klarheit, Strukturiertheit • Klare Strukturierung des Unterrichts • Konsolidierung, Sicherung • Methodenvielfalt • Aktivierung • Inhaltliche Klarheit • Motivierung • Intelligentes Üben • Lernförderliches Unterrichtsklima • Individuelles Fördern • Schülerorientierung • Sinnstiftendes Kommunizieren • Kompetenzorientierung • Transparente Leistungserwartungen • Umgang mit Heterogenität • Vorbereitete Umgebung • Angebotsvielfalt è Im inklusiven Unterricht größeres Gewicht bzgl. einiger Prinzipien, etwa Invidualisierung und Binnendifferenzierung ...im inklusiven Setting besteht erhöhter Regulationsbedarf.... è Vermittlung von Organisationskompetenzen (Linderkamp, 2015) • • • • Ritualisiere Abläufe und rhythmisiere den Unterricht Strukturiere die Aufgaben gut vor Gib klare, kurze Anweisungen bzw. Instruktionen Gib klare Regeln vor und lege (transparent) Konsequenzen bei Nichteinhaltung fest • Gib häufiges Feedback und kontingente (prozessorientierte) positive soziale Verstärkung • Vermittle der Schülerin / dem Schüler Lerntechniken (z.B. Selbstanweisungen geben, Hilfen zur Selbstorganisation: Was genau ist meine Aufgabe? Ich mache mir einen Plan, Ich gehe schrittweise vor, ich überprüfe mein Vorgehen 6 Was sagt die Forschung – was wirkt am besten? Befunde zu Effekten von Schul- und Unterrichtsvariablen auf Schulleistungen: Studienergebnisse von Hattie (2013) auf Grundlage von 50.000 empirischen Studien, und 83 Millionen Schüler/innen… Studienergebnisse von Hattie (2013): Überragende Bedeutung von Unterrichtsvariablen im Vergleich zu Schulmerkmalen Einzelergebnisse: Bedeutung für erfolgreiches schulisches Lernen: Quelle Varianzanteil Schüler 50% Lehrkraft & Unterricht 30 % Schule, Peers, Familie je 5-10% 7 Studienergebnisse von Hattie (2013); Einzelergebnisse (ausgewählte Befunde): Was schadet: Umzüge Eltern: Fernsehen: Sitzen bleiben: Was hilft wenig: d= -.34 d= -.18 d= -.16 Reduzierung Klassengröße: d= .21 Finanzielle Ausstattung: d= .23 Hausaufgaben: d= .28 Was hilft gut: Was hilft sehr gut: Kooperatives Lernen: d= .41 Kleingruppenlernen: d= .49 Classroom Management: d= .52 Direkte Instruktion: d= .59 Metokognitive Strategien: Feedback; Lehrer-Schüler-Verh.: Akzelerationsprogramme: Formative Bewertung: d= .69 d= .73 d= .88 d= .90 è Überragende Bedeutung von Unterrichtsvariablen im Vergleich zu Schulmerkmalen - J = kooperatives und direktives Handeln. è Es geht auch um die soziale Teilhabe der Schülerinnen und Schüler: Empirische Befunde über Einflussgrößen: - Peerumgebung in der Klasse kann Dissozialität verstärken (Müller, Hofmann & Studer, 2012) - Leistung, Sozialverhalten, Selbstkonzept für SuS mit SE (etwas) günstiger in inklusiven Settings (Ellinger & Stein, 2012) - Starke Zusammenhänge zw. Aggressivem Verhalten / soz. Kompetenzdefiziten und sozialer Integration (Linderkamp, 2015) - Soziometrisch schwache Position in inklusiven Klassen bei LB (Dessemontet, R.S., Benoit, V. & Bless, 2011) - Starke Zusammenhänge zw. Schulleistungen und sozialer Integration (Linderkamp, 2015) - Selbst- und Begabungskonzept nicht immer besser bei LB in Integration (Dessemontet, R.S., Benoit, V. & Bless, 2011) - Emotionales Wohlbefinden bei SuS mit GB im inklusiven Setting nicht immer besser (Grüning 2011) - Ausgrenzung oder Akzeptanz von SuS mit SFB im inklusiven Unterricht hängt stark von Lehrerhaltung und –verhalten ab. (Huber & Wilbert, 2012) 8 Weitere empirische Befunde Erfolgskriterien (Lindsay 2007) – Einsatz effektiver Unterrichtsverfahren und Fördermaßnahmen – Kooperation und Team‐Arbeit – Unterstützende Schulleitung – Gemeinsame Arbeit mit dem Förderplan – Wertebasis für Inklusion (teilweise unterschiedliche Beliefsysteme) Misserfolgskriterien – (Gefühl von) mangelnde(r) Kompetenz – Fehlende Unterstützung – Fehlende Fort- und Weiterbildung – Fehlende oder unrealistische Einschätzung von Behinderungen, deren Verbreitung, deren Wirkungen (Hillenbrand, 2013) Erfolgskriterien für (sonder-) pädagogische Förderung: a) „Heilung“; Symptomreduzierung, Kompetenzaufbau b) Kompetenzaufbau in „benachbarten“ Leistungsbereichen c) Reduzierung des Leidensdrucks (von Kind PLUS erwachsene Bezugspersonen = Eltern / Lehrer/innen) 9 Fazit Wo stehen wir ? Rückbau der Förderschulen (insbesondere L & SE) Rechtlicher Primat des Elternwunsches Aufbau eines inklusiven Bildungssystems - auf allen Ebenen (nicht nur schulisch) - vielfältige Schulformen und Konzepte - Gestaltung eines inklusiven Unterrichts (neue Form, neue Inhalte) - Evidenzbasierung ! Wo wollen wir hin ? 1. States Parties recognize the right of persons with disabilities to education. With a view to realizing this right without discrimination and on the basis of equal opportunity, States Parties shall ensure an inclusive education system at all levels and lifelong learning directed to: a) The full development of human potential and sense of dignity and self-worth, and the strengthening of respect for human rights, fundamental freedoms and human diversity; b) The development by persons with disabilities of their personality, talents and creativity, as well as their mental and physical abilities, to their fullest potential; c) Enabling persons with disabilities to participate effectively in a free society. 10 Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, UN-Behindertenrechtskonvention, Stand: Oktober 2010. (http:// www.behindertenbeauftragter.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Broschuere_UNKonvention_KK.pdf?__blob=publicationFile; Zugriff am 25.02.2016) Dessemontet, R.S., Benoit, V. & Bless, G. (2011). Schulische Integration von Kindern mit einer geistigen Behinderung - Untersuchung der Entwicklung der Schulleistungen und der adaptiven Fähigkeiten, der Wirkung auf die Lernentwicklung der Mitschüler sowie der Lehrereinstellungen zur Integration. Empirische Sonderpädagogik, 4, S. 291-307. Ellinger, Stephan; Stein, Roland: Effekte inklusiver Beschulung: Forschungsstand im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung - In: Empirische Sonderpädagogik 4 (2012) 2, S. 85-109 Grüning, Eberhard. (2011). Emotionales Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung im schulischen Kontext unter inklusiven und segregativen Bedingungen. Heilpädagogische Forschung (2011), 1, 13-22. Hattie, John A. C. (2013): Lernen sichtbar machen. Überarbeitete deutschsprachige Ausgabe von "Visible learning", von Wolfgang Beywl und Klaus Zierer. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Helmke, A. (2010). Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Diagnose, Evaluation und Verbesserung des Unterrichts. Seelze: KlettKallmeyer. Hillenbrand, C. (2013). Inklusive Bildung in der Schule: Probleme und Perspektiven für die Bildungsberichterstattung. Zeitschrift für Heilpädagogik, 9, 359-369. Huber, C. & Wilbert,J. (2012). Soziale Ausgren- zung von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf und niedrigen Schulleistungen im gemeinsamen Unterricht. Empirische Sonderpädagogik, 2, 147-167. Linderkamp, F. (2015). Anforderungen an wirksames Handeln von Lehrkräften in Inklusionsschulen. In: R. Krüger & C. Mähler, (Hrsg.), Gemeinsames Lernen in inklusiven Klassenzimmern. (S.109-119). Neuwied: Carl Link Verlag. Lindsay, G. (2007). Educational psychology and the effectiveness of inclusion/mainstreaming. British Journal of Educational Psychology 77 (1), 1-24. Müller, Christoph Michael; Hofmann, Verena; Studer, Felix: Lässt sich individuelles Problemverhalten durch das Niveau an Verhaltensschwierigkeiten unter den Mitschülern vorhersagen? Ergebnisse einer Querschnittstudie und ihre Relevanz für die Frage einer integrativen vs. separativen Beschulung verhaltensauffälliger Schüler - In: Empirische Sonderpädagogik 4 (2012) 2, S. 111-128 Preuss-Lausitz, U. (2010). Separation oder Inklusion. Zur Entwicklung der sonderpädagogischen Förderung im Kontext der allgemeinen Schulentwicklung. In: Berkemeyer, Nils Bos, Wilfried/Holtappels, Heinz Günter/McElvany, Nele/Schulz-Zander, Renate (Hrsg.): Jahrbuch der Schulentwicklung Band 16. Juventa: Weinheim und München 2010, 153-180. 11
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