Doppelte Halbsprachigkeit: EINLEITUNG Reales Phänomen oder PISA-‐Panikmache? Heiß diskutiert wird in letzter Zeit die Aussage, dass Kinder, die mit mehr als einer Sprache aufwachsen, eine ,,doppelte Halbsprachigkeit" entwickeln, also keine der Sprachen angemessen beherrschen. Wir wollen dieser Aussage auf den Grund gehen und herausfinden, welche Erkenntnisse die Forschung zum Thema Mehrsprachigkeit liefert. Hintergrundinformationen • Einzelne sprachliche Ebenen können in unterschiedlichem Maße ausdifferenziert sein • Bei bilingualen Sprechern ist oft eine ,,Arbeitsteilung" der beiden Sprachen zu beobachten Ø die Sprache wird in Abhängigkeit von Thema, Nähe/Distanz zum Gesprächspartner und der Gesprächssituation gewählt • Code-switching ist Teil des natürlichen Repertoires mehrsprachiger Sprachgemeinschaften PISA-Schock 2000 Mi.elwert Teilnehmerstaat Finnland 546 OECD-‐DurchschniF 500 Deutschland 484 • Deutschland weicht im Mittelwert um 10 Punkte vom OECD-Durschnitt ab • Deutschland weicht um 62 Punkte vom besten Land (Finnland) ab Laut PISA „[…] sind weder die soziale Lage noch die kulturelle Distanz als solche primär für Disparitäten der Bildungsbeteiligung verantwortlich; von entscheidender Bedeutung ist vielmehr die Beherrschung der deutschen Sprache auf einem dem jeweiligen Bildungsgang angemessenen Niveau. Für Kinder aus Zuwandererfamilien ist die Sprachkompetenz die entscheidende Hürde in ihrer Bildungskarriere. “ (Artelt (2001): 38) Die Ergebnisse der PISA-Studie in Bezug auf die Lesekompetenz von Jugendlichen mit Migrationsstatus müssen jedoch differenzierter betrachtet werden, als die Macher der Studie dies tun: Die frühe Selektion der Schüler in die verschiedenen Schulformen trägt einen wesentlichen Teil dazu bei. Da das Bildungssystem die Aufteilung der Schüler nach der vierten Klasse (nach ihrer Qualifikation) vorsieht, werden die Kinder nach ihren Kompetenzen aufgeteilt, wobei diejenigen, die sprachliche Defizite aufweisen auf eher geringere Schulformen versetzt werden. Diese sprachlichen Defizite können folglich Probleme im restlichen Kompetenzerwerb verursachen und sich somit negativ auf die Kompetenzen der Jugendlichen auswirken. Die Bildungschance existiert zwar, ist jedoch abhängig von verschiedenen Faktoren wie zum Beispiel dem familiärem Hintergrund, der ungleichen Einkommensverteilung und der räumlichen Segregation. Fazit Das Phänomen der "doppelten Halbsprachigkeit" ist ein in der Forschung viel diskutiertes Konstrukt. Besonders der PISA-Schock und die dort nachgewiesene, in vielen Teilen unzureichende, Lesekompetenz von Jugendlichen mit Migrationshintergrund, heizte die Diskussion zusätzlich an. Dabei müssen die Ergebnisse der PISA- Studie differenzierter betrachtet werden, als dies der Fall ist. Die verschiedenen Argumente für oder gegen mehrsprachige Erziehung haben wir zu diesem Zweck zusammengefasst und im Rahmen einer eigenen Studie untersucht. Hier zeigte sich, dass die in der Forschungsliteratur als Vorteile / Literaturangaben: Artelt, C. (2001): PISA 2000. Zusammenfassung zentraler Befunde. Berlin: Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Esser, H. (2006): Migration, Sprache und Integration. AKI-Forschungsbilanz 4. Berlin: Arbeitsstelle Interkulturelle Konflikte und gesellschaftliche Integration (AKI) Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Gogolin, I.; Neumann, U. (Hg.) (2009): Streitfall Zweisprachigkeit – The Bilingualism Controversy. Wiesbaden. VS Verlag für Sozialwissenschaften. Krifka, M. et al. (2011): Das mehrsprachige Klassenzimmer. Über die Muttersprache unserer Schüler. Berlin/Heidelberg: Springer VS. Tracy, Rosemarie: Mehrsprachigkeit in der frühen Kindheit: Bedingungen, Risiken und Chancen. In: Judith Heide et al. (2009): Spektrum Förderliche Bedingungen Ø Ein möglichst früher Kontakt mit der Zweitsprache (Beginn Kita-Besuch) Ø Regelmäßige und systematische (an Zielsprache orientierte) Sprachförderung Ø Ein reichhaltiger, variations- u. kontrastreicher Input Ø Authentische Kommunikationssituationen Ø Vertrauensvolle Kooperation mit den Eltern Positive Aspekte Ø Lücken werden mit Hilfe der anderen Sprache gefüllt Ø Wortformen werden mühelos an die Grammatik der gewählten Sprache angepasst Ø Keine Überforderung durch simultanen Erstspracherwerb/ Erwerb einer frühen Zweitsprachenerwerb Ø Durch Mischung entsteht eine hybride Identität und Gruppenzugehörigkeit Ø Teilhabe an verschiedenen sprachlichen wie kulturellen Werten Ø Bei regelmäßiger Verwendung der Sprachen koaktivieren diese sich PISA ist ein internationales Programm von der OECD (leistungsfokussierte Wirtschaftsorganisation) und dient zur Leistungsmessung von 15-jährigen Schülern (erstmals im Jahre 2000). Hierbei werden sowohl die Lesekompetenzen, als auch die mathematischen und naturwissenschaftlichen Grundkenntnisse abgefragt, wonach die Schüler anschließend in Kompetenzstufen (Stufen 1-5) eingeteilt werden. Deutschland schnitt bei der ersten PISA-Studie unerwartet schlecht ab und landete sehr weit hinten in der Gesamtskala (= PISA-Schock). Patholinguistik 2. Potsdam: Universitätsverlag. Lern‘ doch erstmal richtig Deutsch! Hemmende Bedingungen Ø Ein spätes Lernalter negativ für Zweitspracherwerb Ø Keine Vorteile auf dem Arbeitsmarkt durch Mehrsprachigkeit Ø Nur Zweitsprache notwendig für Verständigung im jeweiligen Aufenthaltsland Ø Gefahr für körperliche, seelische und geistige Entwicklung: • großer Aufwand an Zeit und geistiger Kraft zur Erhaltung der Zweisprachigkeit • Abstumpfung/Schwächung des Sprachgefühls durch gegenseitige Beeinflussung der beiden Sprachen • schlechtere schulische Situation der Migrantenkinder Ø Unsicherheiten beim Ausdruck durch den geringen Wortschatz Ø Nur aus ''Nützlichkeitsgründen'' von Vorteil (z.B. Für den Beruf als Dolmetscher) Wie aus der Forschungsliteratur herausgearbeitet, ist das Alter in dem eine Sprache erlernt wird, gerade bei der bilingualen Erziehung, von besonderer Bedeutung. Alle Befragten gaben an vor der Einschulung Deutsch gelernt zu haben. Ein Großteil der Befragten gab an, dass sie eine „Sprachvermischung“ bei der Mehrsprachigkeit als größtes Problem erachten. Dieser Aspekt lässt sich ebenfalls in der Forschungsliteratur finden. Eine Mehrheit der Befragten erachtete den, ebenfalls aus der Forschungsliteratur herausgearbeiteten Aspekt, der „Nützlichkeit“ (z.B. Verständigung) als besonders Vorteilhaft. Zum Verfahren Befragung von zwei verschiedenen Gruppen: 1. Gruppe der mehrsprachig aufgewachsenen (15 Teilnehmer) 2. Gruppe der einsprachig aufgewachsenen (35 Teilnehmer) Beide Gruppen wurden hinsichtlich ihrer Einschätzung zur Mehrsprachigkeit befragt Nachteile von Mehrsprachigkeit auch von den Probanden als solche genannt wurden. Bei der Lektüre der Forschungsliteratur viel zudem auf, dass der Begriff "doppelte Halbsprachigkeit" auch mit einer gewissen Doppelmoral in Bezug auf die Erstsprache verknüpft werden kann (Englisch als Erstsprache = förderlich/ Türkisch, Polnisch etc. = schädlich). Aus diesem Grund sind wir abschließend zu dem Ergebnis gelangt, dass das Phänomen der "doppelten Halbsprachigkeit" nicht generalisierbar zu sein scheint, sondern vielmehr vor dem Hintergrund der einzelnen Person betrachtet werden muss. Autoren: Berfin Arslan, Asena Gül, Mandy Hobrecht, Ann-Kathrin Kerkhoff, Sabrina Schäl, Melissa Yilmaz
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