Referat Karin Peterer - Marie Meierhofer Institut für das Kind

Fachtagung MMI 2015
Die Vielfalt der Kultur in der Kita
entdecken und er-leben
Freitag 29.Mai 2015
Sprachliche Vielfalt bei Kindern
als Entwicklungschance
Karin Peterer Sasvary M.A.
Marie Meierhofer Institut für das Kind
www.mmi.ch
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Hintergrund
Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ist mehrsprachig
Normalfall
PISA Studie hat Benachteiligung von Kinder mit Migrationshintergrund offengelegt.
Seither ist die frühe Förderung des Deutschen - als Erstund Zweitsprache zentrale Aufgabe frühkindlicher
Bildungseinrichtungen
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Mehrsprachigkeit
Begriffe
Muttersprache -> Erstsprache(n) - Familiensprache
Zwei- oder Mehrsprachigkeit -> "zwei- oder mehrsprachig
aufwachsende Kinder"
Umgebungssprache: schweizerdeutsch
Bildungssprache / Unterrichtssprache: hochdeutsch
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Mehrsprachigkeit
Erwerbsbeginn
< 3 J.
Beispiel 1:
♂ italienisch
♀ schweizerdeutsch
Beispiel 2:
♂ Englisch; ♀Japanisch;
Umgebung/Kita: schw.dt.
bilingualer Erstspracherwerb
(implizit, natürlich)
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Mehrsprachigkeit
Erwerbsbeginn
Ab ca. 3 J.
Beispiel 1:
♂ und ♀ Ungarisch;
Ab ca. 3 J. zusätzlich: schweizerdt.
in Kita
Beispiel 2:
♀ ital.; ♂ albanisch;
Ab ca. 3 J. zusätzlich: schweizerdt.
in Kita
Sukzessiv Zweitspracherwerb
(v.a. implizit, natürlich)
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Mehrsprachigkeit
Einfluss Erstsprach- auf Zweitspracherwerb
•In der Erstsprache werden die Wurzeln für den kindlichen
Spracherwerb gelegt. Erstsprache stellt auf sozial-emotionaler
Ebene wichtige Teile des Selbstwertgefühls und Teile der
Identität dar und vermittelt Sicherheit und Vertrauen (Viernickel
2008)
•Interdependenzhypothese
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Spracherwerb mehrsprachiger Kinder
Besonderheiten (1)
Sprachwechsel und Sprachmischung (anfangs normal im Erwerb)
•Beispiele
– Innerhalb von Äusserungen (Ki 2;8 J.; Tut so als ob sie Zeitung lesen
würde. "Don't stör mich ... Nicht mich stören")
– Ausleihen von einzelnen Wörtern in einer anderen Sprache (Ki 5;0 J.;
Bilder benennen. "Ein Vogel und ein tojàs.")
➡ nicht Ausdruck einer unzureichenden Trennung der
Sprachensysteme sondern Ausdruck von kommunikativer
Kompetenz
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Spracherwerb mehrsprachiger Kinder
Besonderheiten (2)
Übertragungen von Erstsprache auf Zweitsprache
•Beispiel
– Wenn Kind mit türkischem Sprachhintergrund sagt:
"Auto spielen ich will" (im Türkisch "arab" (Auto) oynamak (spielen)
istiyorum (ich will)" im Türkischen gibt es keinen Artikel!
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Spracherwerb mehrsprachiger Kinder
Besonderheiten (3)
Eine Person eine Sprache
•Beispiel
– "Wie sagt der Papa?" was soviel bedeutet wie "Was heisst das auf
Portugiesisch"?
Instabilität
•Beispiel
– Kind spricht nach den Sommerferien kein Deutsch mehr bzw. macht
mehr Fehler als vorher
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Spracherwerb mehrsprachiger Kinder (1)
Normal ist,
– Wenn sie zu Beginn in der Kita schweigen (bis ca. 6
Monate), jedoch Blickkontakt zeigen
– Wenn sie eher langsam Fortschritte machen, diese jedoch
stetig und deutlich sind
– Wenn der Wortschatz in beiden Sprachen unterschiedlich
ist
(Zollinger, 2015)
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Spracherwerb mehrsprachiger Kinder (2)
Auffällig ist,
– Wenn sie über längere Zeit (über ein halbes Jahr)
schweigen und den Blickkontakt meiden
– Wenn sie über längere Zeit unverändert in ihrer
Erstsprache sprechen, obwohl sie das Gegenüber nicht
versteht
– Wenn sie sich bei Verständigungsproblemen sofort
abwenden
(Zollinger, 2015)
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Spracherwerb mehrsprachiger Kinder (3)
Auffällig ist,
Wenn sie verstummen, sobald sie etwas nicht ganz korrekt/
verständlich gesagt haben
Wenn der Deutscherwerb über längere Zeit stagniert
Wenn sie Auffälligkeiten im Sprachverständnis zeigen
(Zollinger, 2015)
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Mehrsprachigkeit
starke Sprache – schwache Sprache
➡️️ Kinder lernen nicht alle Sprachen bis zur
"Perfektion" sondern in dem Ausmass, in dem sie sie
brauchen um in ihrer lebensweltlichen Realität(en)
handlungsfähig zu sein (Dirim 2011, Wagner2007).
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Mehrsprachigkeit
Bewertung
• Sprachen werden gesellschaftlich unterschiedlich
bewertet.
Bestimmte Sprachen sind gut angesehen, andere
werden diskriminiert (Mehrheitskinder Gefühle von
Überlegenheit – Gefühle von Unterlegenheit bei
Migrantenkindern)
➡Für Kinder diskriminierter sozialer Gruppen
erschwert der Mangel an Anerkennung und
Akzeptanz ihre Aneignung von Sprache
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Mehrsprachigkeit
und Identität
• Die Kinder lernen von "früh" an in verschiedenen Welten zu
leben. Dies gehört zu ihrer Identität, zu ihren Schwierigkeiten
und besonderen Kompetenzen => erfolgreiches Bewältigen
solcher Übergänge ist eine Schlüsselkompetenz
selbstbewusster bikultureller und mehrsprachiger Kinder
➡ Kinder, die in verschiedenen Kulturen und Sprachen leben,
entwickeln ein eigenes sprachliches und kulturelles Profil.
Etwas Neues entsteht und nicht die Summe von Sprache 1 und
Sprache 2
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Mehrsprachigkeit in der Praxis
Erfahrungen mehrsprachiger Kinder
•️️Kinder machen ambivalente Erfahrungen:
Ihre Mehrsprachigkeit ist eine Sonderkompetenz mit
"unsicherem Wert", denn sie kann ein Vorteil oder auch
ein Nachteil sein (DJI, 2000).
➡ Wünschenswert ist, dass Zwei- und Mehrsprachigkeit von den Kindern als Vorteil erlebt
werden kann.
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Mehrsprachigkeit
Identität und Bildung
Hat Konzept einsprachiger Kita Auswirkung auf Bildungsprozesse
der Kinder?
•Entwicklungs- und Bildungsprozesse gelingen, wenn Kinder an
sprachlichen Vorerfahrungen anknüpfen können, damit sie sich
zugehörig fühlen, partizipieren und sprachlich weiterentwickeln
können.
➡ Die Sprachen der Kinder müssen in der Kita sicht- und
hörbar gemacht werden, damit Kinder Wertschätzung nicht
Abwertung ihrer Familiensprache(n) und Identität erleben.
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Mehrsprachigkeit in der Praxis
Sprachvielfalt sicht- und hörbar machen (1)
– mit Namensschildern an Garderoben, Fächern, Waschräumen,
– mit mehrsprachigen Beschilderungen, Geburtstagskalendern,
Infobrettern,
– mit mehrsprachigen Willkommensschildern, Einladungsschreiben,
– mit Präsenz verschiedener Schriftzeichen,
– mit mehrsprachigen Zeitschriften, Bilderbüchern,
– mit Spielmaterial, das mehrsprachig ist und versch. Schriften aufweist
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Mehrsprachigkeit in der Praxis
Sprachvielfalt sicht- und hörbar machen (2)
–
–
–
–
–
mit mehrsprachigen Liedern, Reimen, Versen
Mehrsprachigkeit des Personals
mit gezielte Aktivitäten in unterschiedlichen Sprachen
mit Gesprächen über die Sprachen (Metasprachliche Kompetenzen)
mit dem Erforschen der Sprachenvielfalt im nahen und weiteren
Umfeld (Besuche: Sprachenschule, Kebabstand, Restaurant)
– mit Projektarbeiten -> Reisebüro, Café International, Olympiade
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Mehrsprachigkeit in der Praxis
Sprachförderung
Reiches und abwechslungsreiches Sprachangebot (Q & Q)
•Herstellung eines gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus zw.
Bezugsperson und Kind,
•Offene Fragen ("Gsesch de Chäfer?" vs. "Was macht de
Chäfer?"),
•Wiederholen fehlerhafter kindlicher Äusserungen in korrigierter
Form (korrektives Feedback vs. Fehlerfahndung),
•Erweiterung, bzw. Umformung kindlicher Äusserungen,
•Einführung und Benützung neuer Wörter
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Mehrsprachigkeit in der Praxis
Fazit Zweitspracherwerb
• Im Kopf der Kinder ist genügend Platz um mehrere Sprachen
zu lernen
• Zweisprachigkeit ist weltweit gesehen eher die Regel als die
Ausnahme
• Wichtig für den gesamten Entwicklungsprozess ist die soziale
Zuwendung (Sprachbad)
• Guter Erstspracherwerb wesentlich für guten
Zweitspracherwerb
• Immer Erstsprache fördern und diese wertschätzen
• Sprachvorbild sein und echte Dialoge gestalten
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Mehrsprachigkeit in der Praxis
pädagogische Fachkräfte / Kita (1)
Was muss die pädagogische Fachkraft wissen?
•Gruppenzusammensetzung: Übersicht über die in der Kita
vertretenen Sprachen und Kulturen?
•Migrationsbiographie der Familie (auch bei CH-Ki aus
bilingualen Ehen) erfragen (freiwillig vs. unfreiwillig -> Flucht
(politisch), Arbeitsmigration (ökonomisch), Bildung (studieren)
•Kompetenzen der einzelnen Familienmitgliedern in der
Umgebungssprache (schweizerdeutsch – hochdeutsch)
•Kompetenzen des Kindes in der Erstsprache(n)?
•Kontaktdauer mit Zweitsprache?
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Mehrsprachigkeit in der Praxis
pädagogische Fachkräfte / Kita (2)
Fragen zur Selbstreflexion
•Wie offen bin ich gegenüber der Sprache, die ein Kind spricht?
•Wie ist mein Interesse am einzelnen (mehrsprachigen) Kind?
•Wie schätze ich seine Gesamtentwicklung ein, wie seine sprachlichen
Kompetenzen
•Wie gestalte ich die non-verbale und verbale Kommunikation mit dem
mehrsprachig aufwachsenden Kind?
– Qualität ? Quantität ? Initiative ?
– Spreche ich den Namen des Kindes korrekt aus?
– Sprachwahl schweizerdeutsch oder hochdeutsch?
➡Kinder lernen im Dialog mit Menschen, in Situationen, die für das
Kind lebensbedeutsam, lustvoll und anregend erfahren werden
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Mehrsprachigkeit in der Praxis
pädagogische Fachkräfte / Kita(3)
Fragen zur Reflexion im Team
•Teamzusammensetzung: Welche Sprachen im Team vorhanden?
Werden sie genutzt? Wie werden sie genutzt?
•Kolleginnen mit Migrationshintergrund im Team?
– Wann sollen sie mit welchen Kindern in welcher Sprache sprechen und
warum?
• Wissen alle um die Bedeutung der Erstsprache(n) als Lernressource, Kommunikationsinstrument und als
Identitätsaspekt?
(Dirim 2011)
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Mehrsprachigkeit in der Praxis
Zusammenarbeit mit Eltern
Eltern:
Experten für
Sprachentwicklung
zu Hause
Päd. Fachkraft:
Expertin für
Sprachförderung
in der Kita
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Mehrsprachigkeit in der Praxis
Zusammenarbeit mit Eltern
Einbezug der Eltern
–Mehrsprachige Kinderbibliothek einrichten
–Mit den Kindern über Bedeutung ihrer Namen sprechen
–Kinderbücher in ihren Erstsprachen vorlesen
–Geschichten aus ihrem Leben erzählen, ev. mit Bildmaterial
–Mehrsprachige Tonkassetten mit Stimmen der
Familienangehörigen aufnehmen -> Familienfoto
–Mehrsprachige Spiele mit Kindern spielen
–Handlungssequenzen: z.B. Teekochen, Rituale
–Feste feiern (z.B. Lesefest)
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Mehrsprachigkeit in der Praxis
Zusammenarbeit mit Eltern
Empfehlungen der päd. Fachperson für die Eltern
–in Familiensprachen erzählen und vorlesen
–Fingerspiele, Reime
–Gespräche vor dem Schlafen gehen führen
–Kind im Alltag miteinbeziehen
–Kontakte mit Verwandten über Skype
–.........
➡ Eltern ermutigen und unterstützen darin, dass sie
konsequent ihre Sprache(n) sprechen und nicht selber
beginnen mit den Kindern die Umgebungssprache zu
sprechen.
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Mehrsprachigkeit in der Praxis
Sprachliche Vielfalt als Entwicklungschance
gelingt dann, wenn
•Ein Konzept mehrsprachiger Bildung für die ganze Kindergruppe
besteht
• die Verschiedenheit und Individualität von Kindern und Familien
sowie die Vielfalt ihrer Herkunft (ihrer Sprachen) anerkannt und für
eine Gemeinschaft als bereichernd erlebt werden (OR, 2012)
• sich jedes Kind willkommen fühlt und einbezogen wird (OR, 2012)
• eine sprachenfreundliche Lernumgebung geschaffen wird, damit
Sprachenvielfalt erlebbar ist
•die pädagogische Haltung reflektiert wird und echtes Interesse,
Neugierde und Offenheit gelebt werden
•Eltern einbezogen werden
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Mehrsprachigkeit in der Praxis
Fazit Sprachliche Vielfalt als Entwicklungschance
➡ Kinder sollten in den Übergängen ihrer
lebensweltlichen Realitäten begleitet, unterstützt
und gefördert werden, damit sie in beiden Welten
handlungsfähig und kompetent werden und sich zu
selbstbewussten Kindern entwickeln können.
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Referenzen
DJI (2000). Wie Kinder multikulturellen Alltag erleben. Projektheft 4. DJI
München.
Dirim, I. (2011). Meine Welt hat viele Sprachen. Unser Thema 2.
Häusermann, J. (2011). Erstsprachförderung im Frühbereich. Vpod
bildungspolitik
Rothweiler, M. & Ruhberg, T. (2011). Der Erwerb des Deutschen bei Kindern
mit nichtdeutscher Erstsprache. WiFF-Expertise. Deutsches Jugendinstitut
Orientierungsrahmen für frühkindliche Bildung Betreuung und Erziehung
(2012)
Viernickel, S. &Völkel, P. (2008). Sprachen und Kulturen sichtbar machen.
Bildungsverlag.
Wagner, P. (2007). Ja! Evet! Yes! Zwei- und mehrsprachige Kinder sollten ihre
besondere sprachliche Kompetenz als Vorteil erleben. JuLit 2.
Zollinger, B. (2015). Wo endet Sprachförderung – wo beginnt Sprachtherapie?
Vortrag im Rahmen der Gaihm-Jahrestagung in Zürich.
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