Lauf oder bezahl!

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In welcher Tonart prasselt der Regen?
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Männlich-weiblich, fröhlich-traurig: In Dur und Moll kann man viel
hineininterpretieren. Hören wir doch einfach hin gedöns.taz SEITE 29–32
KLAUS WANNINGER
AUSGABE NORD-HH | NR. 10692 | 16. WOCHE | 37. JAHRGANG | € 3,50 AUSLAND |
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KLAUS WANNINGER
SCHWABEN-FINSTERNIS
SCHWABEN-
FINSTERNIS
Kriminalroman
| SONNABEND/SONNTAG, 18./19. APRIL 2015
Einwanderer
Lauf oder
bezahl!
Le Petit Paris
liegt in Israel
Es ist ein Exodus.
Frankreichs Juden
verlassen das Land.
Die Neuankömmlinge zieht es in eine
Stadt am Meer. Sie
tauschen eine Unsicherheit gegen eine
andere Reportage SEITE 8, 9
KRANKENKASSE Mit der
Uhr von Apple läuft der
Gesundheitscheck bald
ständig am Handgelenk.
Gesundheit wird zur
Bürgerpflicht. Bestrafen
Kassen irgendwann
Menschen, die nicht
genug Schritte auf
dem Zähler haben?
Gesellschaft SEITE 17–20
Der stärkste Satz
Bei Grass
sollte soziale
Revolution nie
Geschlechtergerechtigkeit
meinen. Da war
immer die Sozialdemokratie davor.
Die Schriftstellerin und Regisseurin MARLENE
STREERUWITZ auf SEITE 12

taz.nord
Vinyl Die Platte ist tot?
Nein, nie war sie so
lebendig wie heute. Ein
Rundgang SEITE 41, 44, 45
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02
Kompass
SONNABEND/SONNTAG, 18./19. APRIL 2015  TAZ.AM WOCHENENDE
Aus dem Inhalt
......................................................................
Politik
Ökonom Nobelpreisträger
Paul Krugman ist ein
freundlicher Polemiker.
Ein Tag in Brüssel Seite 5
Rechts Israelflaggen und
NPD-Funktionäre. Die
Pegida-Demos werden
immer bizarrer Seite 7
Reportage
Exodus Nach Charlie Hebdo:
Juden verlassen Frankreich.
Zu Besuch an der Côte d’Azur
Israels Seite 8, 9
Argumente
Leitartikel Was für ein
Popanz! Schlepper sind nicht
das Problem der deutschen
Flüchtlingspolitik Seite 10
Kultur
Diesmal
„oben mit“
Generation Ein 13-Jähriger
hat die RAF erfunden. Das
enzyklopädische Buch von
Frank Witzel Seite 14
Korrespondenz Der
Briefwechsel Adorno/
Scholem, gelesen von
Micha Brumlik Seite 15
Gesellschaft
Titel Biodaten werden mit
Apples neuer Uhr zum
großen Geschäft. Aber was,
wenn die Krankenkasse
mitmisst? Seite 17
Queer Junge Amerikaner
lassen in Berlin die Travestie
wieder aufleben. Sie ziehen
sich aus, um große Literatur
vorzulesen Seite 25
Fleisch Ein Tischgespräch
mit Yello-Sänger
Dieter Meier Seite 26
gedöns.taz
Töne Es ist der schönste
Dualismus der Welt – bis in
die Nebengeräusche hinein:
Nachdenken über Dur und
Moll Seite 29–32
Medien
Serie „Transparent“ erzählt
sensibel die Geschichte einer
Trans*Frau. Ein Treffen mit
ihrem Darsteller Seite 35
Reise
Kultur Weinbau wie in der
Antike lässt sich in Georgien
besichtigen Seite 36
Leibesübungen
Städtevergleich Hamburg
hat Konkurrenz: Auch Rom
und Paris bewerben sich um
Olympia 2024 Seite 39
LESERINNENBRIEFE SEITE 28
AUS DER TAZ SEITE 33
DIE WAHRHEIT SEITE 40
LEKTIONEN
5 Dinge, die wir
diese Woche
gelernt haben
1. EU-Kommission ist neben der
Spur
Meint wenigstens Google-Vize
Amit Singhal. Nach fünf Jahren
zaghafter Regulierungsversuche
hat Wettbewerbskommissarin
Margrethe Vestager ein Verfahren gegen die Suchmaschine eingeleitet. Der Vorwurf: Google
missbrauche seine Marktmacht
und bevorzuge in Trefferlisten
eigene kommerzielle Dienste. Es
droht eine Milliardenstrafe. Die
Suchmaschine hat reagiert wie
auf eine Majestätsbeleidigung.
er Papst ist fehlbar. Was ja
nur menschlich ist, aber
nicht gleichbedeutend
mit einem Freibrief für
Ignoranz. So gedankenlos wie
jetzt im Zusammenhang mit
dem Völkermord an den Armeniern sollte das geistliche Oberhaupt einer Weltkirche nicht daherreden.
Franziskus hat die Massaker
an diesem Volk, die vor 100 Jahren verübt wurden, als Genozid
bezeichnet. Es ist erfreulich, dass
sich der Papst dafür einsetzt, das
Leid der Armenier nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Weniger erfreulich ist es, dass er seinem Anliegen mit der Behauptung Nachdruck zu verleihen
suchte, es habe sich um den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts gehandelt.
Das trifft nicht zu. Der erste
Völkermord im 20. Jahrhundert
wurde an den Herero und Nama
im damaligen Deutsch-Südwestafrika verübt, nachdem ein
Aufstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft 1904 in der
Schlacht am Waterberg niedergeschlagen worden war. Tausende
flohen in die Omaheke-Wüste.
D
Sie hat Konfetti dabei. Nach Beginn der Pressekonferenz von EZB-Chef Mario Draghi am Mittwoch
springt eine Aktivistin auf den Tisch, ruft „Stoppt die Diktatur der EZB!“ und wirft mit Papierschnitzeln. Sicherheitskräfte reißen die Frau, die sich als Journalistin ausgegeben hat, fort. Sie heißt Josephine Witt und ist als Femen-Frau mit Nacktprotesten aufgefallen, etwa im Kölner Dom Weihnachten
2013. Jetzt nicht mehr nackt: „sorry ladies #exfemen“ schreibt sie nach der Aktion auf Twitter.
Foto: Kai Pfaffenbach/reuters
Die EU-Kommission „neben der
Spur“? Ausnahmsweise nicht!
2. Edward Snowden besucht das
Weiße Haus
Apropos Google. Das war der
schönste Hack der Woche: Auf
der Karte von Google Maps
tauchte auf einmal der Eintrag
„Edwards Snow Den“ direkt dort
auf, wo Barack Obama seine
Amtsräume in Washington hat.
Eigentlich steht der Eintrag für
einen Snowboardershop. Ein Hacker überlistete die Google-Software und verschob ihn. Snowden
sitzt noch in Russland.
3. Frauen bringen Chinas Führung in Schwierigkeiten
Protest, der aus den Rastern fällt,
sorgt oft für große Irritationen.
Wie Flyer gegen sexuelle Belästigung oder Hinweise auf den
Mangel öffentlicher Frauentoi-
letten. Über vier Wochen saßen
fünf Feministinnen, die mit ihren kreativen Aktionen aufgefallen waren, deshalb in China im
Knast ein. Diese Woche kamen
sie frei. Warum? Frauenrechte
haben in der Volksrepublik offiziell zwar einen hohen Stellenwert. China wird offiziell aber
nur von Männern geführt.
4. Hillary kann Präsidentin
Hillary Clinton wollte 2008
schon mal US-Präsidentin werden. Da gab sie sich aggressiv
und widerborstig, versuchte ihren innerparteilichen Gegner
immer wieder aus der Reserve zu
locken. Der Slogan „No Drama
Obama“ verfing nicht. Hillary
hat gelernt. In der Videobotschaft für ihre neue Kandidatur
verbreitet sie langweilig präsidialen Optimismus. In 18 Monaten
wird gewählt.
5. Willkommenskultur ist nicht
nur Theorie
Zum Schluss noch gute Nachrichten: Das Engagement für
Flüchtlinge wächst, wie eine Studie des Berliner Instituts für empirische Migrationsforschung
ergeben hat. Die Zahl der Ehrenamtlichen sei in den vergangenen drei Jahren um 70 Prozent
gestiegen, heißt es dort. Nach
dem Brand im Flüchtlingsheim
von Tröglitz hat der Blogger
Christian Brandes außerdem eine Geldsammelaktion gestartet,
um Flüchtlinge im nächstgelegenen Hotel einquartieren zu können. Es hat fünf Sterne. Und zum
Auftritt des niederländischen
Rechtspopulisten Geert Wilders
bei Pegida in Dresden kamen nur
ein paar Tausend Menschen. Die
Veranstalter hatten 30.000 Teilnehmer angemeldet.
Die Toten der Omaheke-Wüste
DER PAPST HAT DIE MASSAKER AN DEN ARMENIERN ALS ERSTEN GENOZID
DES 20. JAHRHUNDERTS BEZEICHNET. DAS TRIFFT NICHT ZU
.......................................................
BETTINA GAUS IST POLITISCHE
KORRESPONDENTIN DER TAZ
.......................................................
Die Generalversammlung der
Vereinten Nationen sah das 1948
anders und erkannte den Völkermord als solchen an. Es gehört zu
den beschämenden Kapiteln unserer Nachkriegsgeschichte, dass
Deutschland sich bis heute weigert, dasselbe zu tun – aus Angst
JÜRGEN KLOPP, noch
bis Ende Juni Übertrainer des BVB,
über die nächsten
Wochen
JÖRN KABISCH
..................................................................................................................
MACHT
Generalleutnant Lothar von
Trotha ließ das Gebiet abriegeln
und befahl seinen Truppen, die
Flüchtlinge von den wenigen
Wasserstellen zu vertreiben.
Männer, Frauen und Kinder verdursteten. Überlebende wurden
in Konzentrationslagern interniert, in denen viele verhungerten. Die genaue Zahl der Opfer
steht nicht fest, geschätzt wird,
dass mindestens zwei Drittel,
möglicherweise aber sogar
80 Prozent der Herero und etwa
die Hälfte der Nama ums Leben
kamen.
„Die Nation als solche“ müsse
vernichtet werden, schrieb von
Trotha 1904 an den deutschen
Generalstab. Einige Jahre später
erklärte er: „Dass ein Krieg in Afrika sich nicht nach den Gesetzen der Genfer Konvention führen lässt, ist selbstverständlich.“
Das Zitat
„Lachen auf dem
Platz ist erlaubt!“
Foto: reuters
Wahrheit Kann man als
Intellektuelle heute noch
für die Stummen sprechen?,
fragt Nora Bossong Seite 12
vor Forderungen nach Entschädigung der Nachkommen.
Dass der Papst das alles offenbar nicht weiß und der Fehler
auch in seinem Stab niemandem
auffiel, ist betrüblich genug.
Aber nicht das Hauptproblem.
Viel schlimmer ist es, dass das
Thema auch im Land der Täter
kaum jemanden zu interessieren
scheint. Wer das nicht glaubt,
kann sich mit einer simplen Internetrecherche selbst ein Bild
machen. Die Stichworte „Papst“
und „Herero“ genügen.
Aber es passt ja alles ins Bild.
Afrikanische Opfer zählen nicht,
bis heute nicht. Die angebliche
Grausamkeit kenianischer MauMau-Krieger in den 1950er Jahren lieferte Stoff für Kitschfilme
und Romane. Die Fakten: 33 europäische Siedler wurden ermordet – und zwischen 20.000 und
100.000 Kenianer starben. Will
das jemand wissen? Nein.
Man stelle sich vor, jemand
hätte bei einer weltweit beachteten Ansprache den Massenmord
an den europäischen Juden vergessen. Ein internationaler Aufschrei wäre die Folge gewesen. Zu
Recht.
Vorsicht, Vorsicht, das eine
lässt sich doch gar nicht mit dem
anderen vergleichen? Nun ja. Die
Herero und die Nama dürften
das anders sehen. Völkermord
bleibt Völkermord. Und die Tatsache, dass Deutsche mit dem
Holocaust eines der schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte verübt haben,
kann doch eigentlich kein Grund
sein, frühere Untaten nicht mehr
so wichtig zu nehmen.
Die Geschichte bedeutet für
uns Mahnung und Verpflichtung: ein Standardsatz bei Gedenkfeiern in ehemaligen Konzentrationslagern. Wenn ich ihn
das nächste Mal höre, dann werde ich an die Verdurstenden in
der namibischen Omaheke-Wüste denken. Und meine Zweifel
haben, wie ernst dieser Satz zu
nehmen ist.
Die Drei
SONNABEND/SONNTAG, 18./19. APRIL 2015  TAZ.AM WOCHENENDE
03
.......................................................................
Gedenken
an Grass
.....................................................
■ Die Beerdigung soll nach Auskunft des Behlendorfer Bürgermeisters Andreas Henschel im
engsten Familienkreis an seinem
Wohnort stattfinden. Grass war
am Morgen des 13. April im Alter
von 87 Jahren in einem Lübecker
Krankenhaus an den Folgen einer
Infektion gestorben. Mehr als ein
Vierteljahrhundert hatte Grass
am Rande des Dorfes im Kreis Herzogtum-Lauenburg gelebt, etwa
20 Kilometer südlich von Lübeck.
■ Eine offizielle Gedenkfeier ist
für Anfang Mai im Lübecker Theater vorgesehen. Termin und Inhalt
werden noch mit der Familie abgesprochen.
■ Fernsehsendungen: Samstag,
SWR, 21.50 Uhr, Hellmuth Karasek
über Grass bei Frank Elsners „Menschen der Woche“; Sonntag, SWR,
9.45 Uhr: „Schrieb ich Buch nach
Buch“, Wiederholung einer Dokumentation mit und über ihn. Und
im Netz: grass-haus.de
Gerühmt, doch nah am Leben: beim Fingerbillard „Carrom“, 2005 in Kalkutta Foto: Martin Wälde/Goethe-Institut
AUFTRITTE Günter Grass versetzte deutsche Diplomaten in Alarmzustand, galt anfangs als Gefahr für die guten Sitten
und redete sich später um Kopf und Kragen. Doch er hatte das Wohlwollen des Publikums, vor allem im Ausland
Auf „Tin Drum“ hatte die Welt gewartet
VON CHRISTOPH BARTMANN
ünter Grass und Amerika, Grass und Polen,
Grass und Indien, Grass
und Israel, Grass und X.
Über jede dieser Wirkungs- und
Beziehungsgeschichten könnte
man ein eigenes Buch schreiben,
oder man hat es schon getan. Wer
international so viel kritische
Masse erzeugt hat, der kann wohl
als Weltautor gelten. Mit seinem
ersten Buch wurde Günter Grass
zum Weltautor, und er blieb es lebenslang. Umstritten war er vor
allem im eigenen Land, im Ausland aber wurde er geliebt, und
weder seine späten Enthüllungen noch manches schwächere
Werk nahm man ihm dauerhaft
übel.
Weltautor wird man nicht einfach, indem man Bücher
schreibt, die sich weltweit verkaufen. Zum Weltautor muss
man geboren sein, man muss ein
Talent zum Ruhm haben, man
braucht ein ausgeprägtes Selbstund Sendungsbewusstsein und
natürlich überall Helfer, Agenten und Herolde. Als Grass 1959
mit der „Blechtrommel“ debütierte, hatte die Welt offenbar gewartet auf einen linken, frechen,
jungen Trommler aus Deutschland, der mit der Vergangenheit
brechen und sein ganz anderes,
frischeres Deutschsein in der
Welt ausprobieren wollte. Und
Grass, erpicht auf Ruhm und
Wirkung, ließ sich nicht zweimal
bitten.
Die Helfer standen schon parat. Aus New York schreibt am
24. März 1959 Kurt Wolff, der
schon Franz Kafkas und Karl
Kraus’ Verleger gewesen war:
„Freunde haben mich auf einen
Roman von Ihnen aufmerksam
gemacht: ‚Die Blechtrommel‘.
Ich möchte ihn gern im Hinblick
auf eine eventuelle englische
Ausgabe lesen.“ Mit Kurt Wolff,
G
seiner Frau Helen und dem Übersetzer Ralph Manheim war das
Kernteam gefunden, das die „Tin
Drum“ alsbald zur literarischen
Sensation in den USA und rund
um den Erdball beförderte. Dem
verlegerischen Glücksfall gesellte sich Grass’ Freude am öffentlichen Auftritt zur Seite. Zu einer
Zeit, in der Lesereisen ins Ausland noch eine Seltenheit waren,
gastierte Grass schon in Kopenhagen (1961 mit Enzensberger)
und sehr bald auch in New York
(1965 mit Uwe Johnson, dem er
sogar den Flug spendierte). Von
1961 an sei er „freier Mitarbeiter
des Goethe-Instituts“ im Auslandseinsatz gewesen, gab Grass
später einmal zu Protokoll. Die
Mitarbeit hörte nicht mehr auf.
Mit bloßem Lesen vor Publikum
war es schon in der Frühzeit selten getan. Grass diskutierte, rezitierte, erregte, stritt und versöhnte sich auf der Bühne und
pflegte, lange Zeit, bevor es dafür
ein Wort gab, die Kunst der literarischen Ein-Mann-Performance
mit größerer Verve als irgendwer. Dass er bei allem Ruhm für
seine Leser stets nahbar blieb,
machte seinen Nimbus erst komplett.
Es gab Kollegen, die mit Grass
das Generationenprojekt vom
Schriftsteller als öffentlichem
Intellektuellen teilten: Enzensberger, Hochhuth, Böll, Frisch,
Peter Weiss und andere. Aber keiner schaffte es wie Grass, diesen
Anspruch auch zu verkörpern
und ihn durchzuhalten, ihm ein
Gesicht zu geben, das weniger
das eines Intellektuellen war als
das eines Handwerkers. Grass’
grenzüberschreitende Popularität wurde gestützt von einer Physis, in der sich Kampfbereitschaft und Lebensfreude trafen.
Im Kalten Krieg war Grass’ Weltgeltung dennoch zwangsläufig
eine halbe Sache. In der DDR
machte sich der Sozialdemokrat
Grass früh und anhaltend unbeliebt, etwa durch sein Eintreten
für den Republikverräter Uwe
Johnson. In Polen dauerte es
zwanzig Jahre, bis die „Blechtrommel“ endlich erscheinen
durfte, und auch dann erst nur
im Selbstverlag. Was die Zensoren nicht aus politischen Gründen verdammten, das war immer noch geeignet, als Obszönität gebannt zu werden. Vielleicht
hat die polnische Milde mit
Grass’ späten Waffen SS-Enthüllungen auch damit zu tun: Man
wollte sich die Freundschaft mit
ihm kein weiteres Mal von der
Politik verderben lassen.
Auftritte von Grass im Ausland versetzten nicht nur deutsche Diplomaten regelmäßig in
Alarmzustand. Man wusste ja
nie, wie der Abend enden würde.
So war es schon in den sechziger
Jahren, als Grass’ Literatur noch
weithin als Anschlag auf die guten bürgerlichen Sitten betrachtet wurde. Nicht viel anders war
es in den Achtzigern, etwa als
Grass gemeinsam mit Stefan
Heym in Brüssel auftrat. Mit einigen heute harmlos anmutenden Bemerkungen über die geteilte deutsche Kulturnation versetzte er Franz Josef Strauß und
Helmut Kohl derart in Rage, dass
die beiden der auswärtigen Kulturpolitik fortan einen Maulkorb
verpassen wollten. Damit waren
sie bei Grass an der falschen
Adresse. Politischer Gegenwind
führte ihm frische Kräfte zu.
Bei manchem Auslandsauftritt, besonders nach der Wiedervereinigung, redete sich Grass so
verlässlich um Kopf und Kragen,
dass man gern manchmal selbst
die Notbremse gezogen hätte.
Den Polen riet er in den neunziger Jahren aus alter Freundschaft, es mit der Westbindung
nicht zu übertreiben und stattdessen doch die Nähe zu Russland zu suchen.
Und bei einer Veranstaltung
mit Pavel Kohout in Prag, etwa
1992, an die mich gut erinnere,
verstörte er das Publikum mit
dem Hinweis, den Deutschen sei
noch immer nicht zu trauen: Wie
schon zu Hitlers Zeiten nähmen
sie gern die ganze Hand, wenn
man ihnen nur den kleinen Finger reichte. Zu jener Zeit stand
der Geist zwar nicht mehr links,
aber man musste trotzdem viel
Mut aufbringen, um Grass zu widersprechen.
Wahrscheinlich war der frische „Blechtrommel“-Ruhm der
frühen sechziger Jahre der heiterste Abschnitt von Grass’ Laufbahn: Ein großer literarischer Erfolg wurde flankiert von gut dosierten politischen Interventionen. In der Folge verhielt es sich
dann oft andersherum. Das
wachsende Engagement für die
SPD ging einher mit Büchern, die
weniger überzeugten („Örtlich
betäubt“, „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“) und auch im Ausland weniger Anklang fanden.
Aber das war nicht wirklich
schlimm, denn Grass blieb, trotz
„Butt“ und „Rättin“ und „Unkenrufen“ und den wechselnden Debattenangeboten, die diese Werke mit sich brachten, stets und
vor allem der Autor der „Blechtrommel“. Die brauchte Jahrzehnte, bis sie die Welt umrundet
hatte, und ihr Ruhm wurde
durch Schlöndorffs Film von
1979 noch einmal neu entfacht.
Dieser Effekt überstrahlt, zumindest im Ausland, Grass’ mitunter
unglückliche Bemühungen, in
den späteren Jahren an die alte
Diskurshoheit anzuknüpfen, ob
es nun um die Kritik an der Wiedervereinigung ging oder um die
Revision deutscher Erinnerungskultur wie im „Krebsgang“.
Man konnte erwarten, dass
die späte Enthüllung seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS
Grass’ Ruf schweren Schaden
versetzen würde. Aber ganz so
war es nicht (schädlicher waren
in Teilen der Welt sicher seine Israel-Gedichte). Als Günter Grass
im Jahre 2007 noch einmal in
New York war und in der Public
Library vor 800 Besuchern die
Übersetzung seines Memoirenbands „Beim Häuten der Zwiebel“ präsentierte, sprang ihm
Norman Mailer bei. „Hätte ich in
seinen Schuhen gesteckt“, so Mailer damals, „wäre ich wohl bei der
SS gelandet.“
Das wollen wir gern glauben,
aber hätte Mailer mit der Bekanntgabe auch ein Leben lang
gewartet und sich in der Zwischenzeit als Moraltrompeter betätigt? Nicht alle fanden Mailers
Verteidigungsrede gleich über-
zeugend, und wenige nur waren
von Grass’ Buch begeistert. Dennoch fand sich niemand, der
Grass hätte demontieren wollen.
Wie auch? Man war ja nicht durch
investigative Recherche einer Lebenslüge auf die Spur gekommen. Vielmehr hatte der alte
Mann von sich aus öffentlich gemacht, was bis dahin nur ein
paar Spezialisten geahnt hatten.
Darin konnte man, bei etwas
Wohlwollen, doch auch Größe
entdecken. Dieses Wohlwollen
der Öffentlichkeit hat Günter
Grass zeitlebens begleitet.
■ Christoph Bartmann ist seit 2011
Direktor des Goethe-Instituts in
New York, schreibt Bücher und ist
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