Melancholie: Glück im Schatten des Saturns Rolf Haubl 1969 ist Wahlkampf in Westdeutschland. Er endet mit dem Sieg von Willy Brand und einer SPD, die mehr Demokratie wagen will. Zu ihren Unterstützern aus dem Kreis deutscher Intellektueller gehört in vorderster Reihe Günter Grass. 1972 veröffentlicht er sein Buch „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“, in dem er diesen historischen Moment und seinen Beitrag dazu kommentiert. Er tut dies unter Rückgriff auf eines der berühmtesten Bilder der deutschen Kunstgeschichte: den Kupferstich „Melencolia I“ von Albrecht Dürer. Grass ist mitten im Wahlkampf nach Nürnberg eingeladen worden, um zur Feier des 500. Geburtstages von Dürer eine Rede zu halten. Grass hält diese Rede 1971 unter dem Titel „Vom Stillstand im Fortschritt. Variationen zu Albrecht Dürers Kupferstich ‚Melencolia I’“ und beschließt mit ihr auch sein Tagebuch. Von Schnecken lernen Wie es der Buchtitel bereits ankündigt, wählt Grass für sein Tagebuch ein Emblem-Tier und zwar ein ganz und gar unheroisches, eben die Schnecke, von der er schreibt: „Sie siegt nur knapp und selten. Sie kriecht, verkriecht sich, kriecht mit ihrem Muskelfuß weiter und zeichnet in geschichtliche Landschaft, über Urkunden und Grenzen, zwischen Baustellen und Ruinen, durch zugige Lehrgebäude, abseits schöngelegener Theorien, seitlich Rückzügen und vorbei an versandeten Revolutionen ihre rasch trockene Gleitspur“ (Grass 1998, S. 9). Grass wählt die Schnecke als Emblem einer langsamen und keineswegs gradlinigen Fortbewegung, die der euphorischen oder gar manischen Semantik geschichtlichen Fortschrittsglaubens, ob evolutionär oder revolutionär begründet, widerspricht. Es ist die Natur der Schnecke, sich auf diese Art und Weise fortzubewegen. Sie träumt nicht davon, ein „Ross“ zu sein, auf dem einst G. F. W. Hegel den Weltgeist in der Person des Kaisers Napoleon hoch aufgerichtet reiten sah (Grass 1998, S. 49). Das wäre wider ihre Natur. Wenn die Gattung Mensch überhaupt Fortschritte macht, dann im Schneckentempo. Damit ist Hoffnung nicht aufgegeben, aber auch nicht leichtfertig versprochen, am Ende werde alles gut: Eine in das Tagebuch integrierte Erzählung stellt Hermann Ott vor, der den Spitznamen „Zweifel“ trägt, weil er „mit dem Wort Zweifel so gebräuchlich umgeht, als hantiere er mit Messer und Gabel“ (Grass 1998, S. 23). Und nicht nur mit dem Wort. Der Lehrer Ott, ein Alter ego von Grass, ist von Natur aus einer, der ständig an Gewissheiten, einschließlich der eigenen, zweifelt. Passend dazu widmet er sich der Erforschung von Schnecken. Die Schnecke steht emblematisch für den Zweifel am gattungsgeschichtlichen Fortschritt. Ob eine Entwicklung ein Fortschritt ist, lässt sich nur nachträglich ermessen. Denn erst der Rückblick auf die eigene Spur zeigt den Weg, den man tatsächlich genommen hat. Dabei ist Gleiten, wie es Schecken tun, eine schonende Art der Fortbewegung. Wer gleitet, reißt den Boden nicht auf, hinterlässt keine tiefen Spuren. Spuren, die trocknen, verschwinden mit der Zeit, sind nur über kurze Strecken zurückzuverfolgen, weshalb es eines häufigen Innehaltens bedarf, um sie nicht zu verlieren. Dieses Innehalten ist es dann auch, das im Titel des Vortrages wiederkehrt, den Grass zu Ehren Dürers hält: „Stillstand im Fortschritt“. Ihm lassen sich zwei unterschiedlich akzentuierte Anklänge abgewinnen: Als resignative Diagnose gelesen, gibt es keinen Fortschritt, sondern nur Stillstand – als Fortschritt verkleidet. Soweit geht Grass nicht. Er ist weniger resignativ, weshalb er den Titel eher als Aufforderung formuliert, im Fortschreiten eine Zeit lang inne zu halten, um zu bilanzieren, ob der eingeschlagene Weg tatsächlich ein fortschrittlicher ist. So gelesen, spielt er dann auch auf die Melancholie-Figur an, die Dürer an den rechten Bildrand seines Meisterstichs gesetzt hat: jener Engel, der inmitten verstreuter Gerätschaften sitzt, den Kopf in die Hand gestützt – nachdenklich, vielleicht sogar grübelnd. Melancholische Zweifel Wie Hartmut Böhme (1988) zu Recht betont, sieht sich der Betrachter des Kupferstichs, der sich über dessen Bedeutung zu informieren sucht, in ein „Labyrinth“ von Deutungen geführt. Seinen Einstieg markiert die epochale ikonologische Untersuchung, die Erwin Panowsky und Fritz Saxl 1923 vorgelegt haben. Grass kennt und nutzt sie. Ebenso kennt und nutzt er die sozialgeschichtliche Untersuchung „Melancholie und Gesellschaft“ von Wolf Lepenies (1969), die eine Geschichte der „Melancholieverbot[e]“ (Grass 1998, S. 308) anreißt: Im Mittelalter beginnt eine Verfolgung von Menschen, die ein melancholisches Temperament oder eine melancholische Haltung zeigen. Unter dem Namen „Acedia“ wird die Melancholie zu einer Todsünde, deren zentrales Merkmal es ist, an dem göttlichen Schöpfungsplan mit seinem verheißenen Seelenheil zu zweifeln. Die Renaissance lässt das Mittelalter hinter sich, schreibt aber das Melancholieverbot unter ihren eigenen Vorzeichen fort. Gleiches gilt für die Aufklärung. Sie bekämpft alle Vernunftkritik, die nicht in das hohe Lied einer heilsgewissen Rationalität einstimmt, sondern die Aufklärung selbst für aufklärungsbedürftig erachtet, indem sie diese Kritik als melancholisch (und damit als krankhaft) diffamiert (Schings 1977). Vor diesem historischen Hintergrund tritt Grass für eine Neubewertung des melancholischen Temperaments oder der melancholischen Haltung ein. Melancholiker stören allerorts das weit verbreitete Wunschdenken, in der besten aller möglichen Welten zu leben – oder doch auf dem besten Weg dorthin zu sein. Indem sie es stören, treten sie für eine Lebensführung ein, die Utopien zwar nicht abschwört, sie aber doch auf den Status von regulativen Ideen verringert, die für korrigierende Erfahrungen offen bleiben. Mit Sigmund Freud (1960b, S. 434) zu sprechen, der etliche Züge eines Melancholikers trägt, „(ist) die Absicht, dass der Mensch ‚glücklich’ sei, im Plan der ‚Schöpfung’ nicht enthalten“. Da Menschen aber notorische Glückssucher sind, finden sie sich nur schwer damit ab, zumal in der Moderne, in der suggeriert wird, jede und jeder habe das Recht, glücklich zu werden. Folglich lassen sie sich nur allzu gerne dazu verführen, an Glücksversprechen zu glauben und seien es die Versprechen eines Glücks, das ihnen die jeweils herrschende Gesellschaftsordnung verordnet, weil sie sich dadurch stabilisiert, wie dies etwa in der Konsumgesellschaft durch den propagierten Kurzschluss von Glück und Konsum der Fall ist (Haubl 2002). Wer solche Kurzschlüsse lebt, kann ein melancholisches Temperament oder eine melancholische Haltung kaum anders wahrnehmen als die Unfähigkeit, glücklich zu sein. Glück und Melancholie sind so gesehen unverträglich und wenn eine Textsammlung zur Geschichte der Melancholie im Untertitel „Vom Glück, unglücklich zu sein“ (Sillem 1997) heißt, dann erscheint das als billiges Bonmot, wenn nicht gar als Zynismus. Vielleicht sind Melancholie und Glück aber auf andere Weise verbunden. Die existenzielle Ohnmacht der instrumentellen Vernunft Mit einem Begriff von Freud lässt sich die MelancholieFigur auf Dürers Kupferstich als Allegorie des Menschen als „Prothesengott“ (Freud 1960b, S. 451) begreifen. Zahlreichen Gerätschaften liegen, wie achtlos fallen gelassen, auf dem Boden. Es sind Werkzeuge der instrumentellen Vernunft, die dazu dienen, eine Welt zu bauen, die der menschlichen Kontrolle unterliegt. Im historischen Kontext von Dürers Kupferstich ist das eine Welt „more geometrico“, weshalb die Figur, deren rechter Arm auf einem geschlossenen Buch liegt, mit der rechten Hand untätig einen großen Zirkel hält. Die Geschichte der instrumentellen Vernunft ist eine Geschichte von Werkzeugen, die immer effektiver werden. Deshalb beginnt Grass seine Rede mit einer fantastischen Szene, die diese Kontinuität markiert: Am 21. Juli 1969 landeten die ersten Menschen auf dem Mond. Dabei geschah etwas, „wovon keine Zeitung berichten wollte. Auch das Fernsehen redete sich auf ‚Bildstörung’ heraus, als beide Astronauten – kaum hatten sie die Plakette, das Fähnchen, die empfindlichen Instrumente gepflanzt – Urväterhausrat auspackten: Edwin Aldrin stellte die Waage, die Sanduhr, die Glocke auf, bettete das magische Zahlenquadrat und spießte den geöffneten Zirkel, der einen ordentlichen Schatten warf; Neill Armstrong zeichnete mit dem Finger im Handschuh groß und wie für ewig die Initialen des Nürnberger Meisters: zwischen gespreizten Beinen nahm das A im Mondschein das D in Schutz“ (Grass 1998, S. 300). Ich will mich nicht auf Detaildeutungen des Kupferstiches einlassen, wie sie Klaus Peter Schuster (2006) eindrucksvoll vornimmt, sondern sehr viel weniger gelehrt, wenn nicht sogar eigensinnig verfahren. Betrachte ich „Melencolia I“, sehe ich in der Melancholie-Figur jedes Mal einen Menschen vor mir, der sich in einer Entscheidungssituation befindet. Er baut an einem Turm, der in den Himmel ragt und noch nicht fertig gestellt ist. Der Baumeister legt eine Pause ein, die aber nicht wie eine Erholungspause wirkt, nach der er sich sofort wieder an sein Werk machen würde. Nicht körperliche Erschöpfung ist der Grund für sein Innehalten, sondern eine Frage, die ihn plötzlich überkommt, und auf die er noch keine Antwort weiß: Macht es überhaupt Sinn, weiter zu bauen? Wofür die ganze Anstrengung? Lohnt der Ehrgeiz, so hoch hinaus zu wollen? Diesen Menschen einen „stillen Brüter“ (Horstmann 1992) zu nennen, erscheint mir nicht gerechtfertigt zu sein. Denn die Benennung nimmt eine Deutung vorweg, die ich nicht nachvollziehe. „Brüten“ würde der Baumeister, wenn klar wäre, dass er versagt hat. Dann würde er weiterbauen wollen, es gelänge ihm aber nicht, worüber er Gram oder Groll empfände. Dass er weiterbauen will, gerade das aber erscheint nicht sicher. Noch ist keine Entscheidung getroffen. Am Turm hängen eine Balkenwaage, eine Sanduhr und eine Zugglocke: die Waagschalen sind ausbalanciert, der Sand ist genau zur Hälfte durchgelaufen und der Glockenklöppel hängt lotrecht herab. Der Baumeister sitzt in der Dämmerung und schaut nach links oben, wo sich im Bildhintergrund eine stille Wasserfläche, von einem Regenbogen überwölbt, zum Horizont hin erstreckt, den ein Komet erhellt. Solche Himmelserscheinungen haben damals die Gemüter der Humanisten bewegt. In der Perspektive der instrumentellen Vernunft waren es Phänomene, die ihre Erklärungskraft überstiegen: Wunder einer Schöpfung, mit deren religiöser Deutung sie sich nicht bescheiden wollten, die ihnen aber noch ungelöste Rätsel aufgaben. Was mag der Blick des Baumeisters bedeuten? Bedenkt er vielleicht gerade die Konkurrenz, die er mit Gott oder wahlweise der Natur eingegangen ist? Kommt ihm das Ausmaß seines Ehrgeizes zu Bewusstsein? Ist es womöglich doch Hybris, wenn er denkt, mit ihnen konkurrieren zu können? Sein Blick wirkt auf mich, als würde er die Entfernung abschätzen, die ihn und sein unvollendetes Bauwerk von den vollendeten Schöpfungswundern trennt. Angesichts der großen Entfernung bieten sich ihm drei Optionen: Er könnte die Konkurrenz wieder aufnehmen und sich noch mehr anstrengen, die Entfernung so schnell wie möglich zu verringern, die Konkurrenz aber auch ganz aufgeben oder gelassen zu seinen beschränkten menschlichen Möglichkeiten stehen. Es sind existenzielle Fragen, die sich der Baumeister stellt, und die Dürer auf subtile Weise mit der Frage nach der Bedeutung des Todes für das Leben der Menschen verbindet. Als Dürer den Kupferstich schuf, hat er sich vermutlich in einer Krise befunden. Dafür spricht, dass ihm seit 1513 dämmert, sein ehrgeiziges Vorhaben, ein ultimatives Malerhandbuch zu schreiben, das die Malerei verwissenschaftlicht, könnte Fragment bleiben. Dürer war von der Vorstellung besessen, die ideale menschliche Figur zu konstruieren, deren Schönheit auf nichts anderem als auf messbaren Größenverhältnissen beruhe – ganz so wie es in der „Weisheit Salomos“ (11, 21) von Gott heißt, er habe die Welt nach „Maß, Zahl und Gewicht“ geordnet: Tatsächlich ist dieses Handbuch nie fertig geworden. Insofern lässt sich die Melancholie-Figur auch als eine Personifikation des Malers selbst verstehen, der über sein künstlerisches Schaffen nachdenkt. Und nicht nur das: Das Jahr 1514 ist auch das Todesjahr seiner Mutter, der er innig verbunden war, weshalb es nicht fern liegt, ihm Trauer über den schmerzlich erlittenen Verlust zu unterstellen. Nun taucht die Jahresangabe im Bild an einer bestimmten Stelle auf: an der Wand des Turmes befindet sich unterhalb der Glocke ein lateinisches Quadrat aus 4x4 Feldern. Folglich sind die Zahlen 1 bis 16 in ihm so zu verteilen, dass die Summen der Zahlen in allen Zeilen, Spalten und Diagonalen gleich sind: Dürer löst das Quadrat mit der Summe 34. Dabei kommt es in der letzten Zeile zu der Ziffernfolge (4) 15 14 (1). Diese Jahreszahl datiert den Kupferstich. Da es aber eine zweite Datierung gibt, die sich oberhalb von Dürers Monogramm (auf der Stufe) befindet, ist die Jahreszahl im lateinischen Quadrat überdeterminiert: Erinnert sie an das Todesjahr der Mutter, wird das lateinische Quadrat zum Sinnbild des Versuches, tief greifende existenzielle Erfahrungen, wie sie einem der Tod eines geliebten Menschen und das dadurch verstärkte Bewusstsein der eigene Hinfälligkeit und Sterblichkeit auferlegt, vernünftig zu bewältigen. Ob die instrumentelle Vernunft das geeignete Mittel ist, mit solchen Erfahrungen umzugehen, auch das scheint der Bildkomposition zufolge fraglich, weil nicht entschieden zu sein. In der Sanduhr überlagern sich beide Lesarten: Als Vanitas-Emblem fordert sie dazu auf, an die Kürze des eigenen Lebens zu denken und seine Lebensführung darauf einzustellen. Zwar zeigt die kanonische Ausführung des Emblems eine Sanduhr, deren Sand – die verrinnende Lebenszeit – fast durchgelaufen ist, in Dürers Darstellung des zur Hälfte durchgelaufenen Sandes bleibt das „Memento mori“ dennoch präsent. Die damit aufgeworfene Frage hat wenig an Brisanz verloren: Im historischen Rückblick zeigt sich, dass die instrumentelle Vernunft ihre Ultima ratio in der Abschaffung des Todes sucht. Da dieses Projekt bis heute erfolglos geblieben ist, aber dazu führt, dass der Tod als sinnlos erlebt wird, gerät der moderne Mensch in eine „Dauerpanik“, die „anders nicht mehr zu beschwichtigen (ist) als durch dessen Verdrängung“ (Adorno 1966, S. 363). Ohne diese These hier differenziert diskutieren zu können (Nassehi u. Weber 1989), sei sie noch zugespitzt: Die Verdrängung des Todes ist eine Quelle von Gewalt, da „Töten die simpelste Weise zu sein (scheint), den Tod von sich abzulenken“ (Schulte 1997, S. 66). Und sie treibt dazu an, sein Leben mit rastloser Erwerbsarbeit zu verbringen, deren Produkte nicht selten dem Töten dienen, wenn man nur bedenkt, welche große Anzahl von Arbeitsplätzen hierzulande von der Rüstung abhängen. Ohne zu arbeiten, tätig sein Zurück zu Dürers Kupferstich. Was geschieht, wenn der Baumeister sich entscheidet, seine Werkzeuge nicht wieder aufzunehmen oder zumindest seine ehrgeizigen Anstrengungen zu verringern? Er muss gewärtig sein, als faul diffamiert zu werden! Die Entscheidungssituation die Dürer auf seinem Bild darstellt, markiert historisch den Beginn einer Gesellschaft, die sich zunehmend mehr über Arbeit definiert und ihre Mitglieder nach Maßgabe ihrer Arbeitsleistung wertschätzt. Was Faulheit bedeutet, sich von der religiösen Todsünde der Acedia als Zweifel an der Heilsgewissheit des Schöpfungsplans und wird zu einer ökonomischen Todsünde, in der Arbeit religiös überhöht ist. Auf dem Weg zu jener protestantischen Arbeitsethik, die Max Weber rekonstruiert hat, gibt Martin Luther das Startzeichen, indem er gegen das Klosterleben seiner Zeit wettert: Die Klöster seien „das rechte schlauraffen landt, das voll ist für die faulen brüder“, weshalb sie „endlich ausgerott müssen werden“ (Luther 1912, S. 150). Die Abwertung der vita contemplativa und die Identifizierung der vita activa mit Arbeit findet in der protestantischen Arbeitsethik ihren Höhepunkt, in der Arbeit zum Selbstzweck des Lebens wird. Mit einem Blick, der eine ähnliche Tiefe gewinnt wie der psychoanalytische Blick, erkennt Weber, dass Arbeit, die zum Selbstzweck wird, die Merkmale eines Abwehrmechanismus hat, der alle sinnlichen Wünsche niederhalten muss: Arbeit ist „namentlich das spezifische Präventiv gegen alle jene Anfechtungen, welche der Puritanismus unter dem Begriff ‚unclean life’ zusammenfasst“ (Weber 1975, S. 168). Abgewehrt werden aber nicht nur alle sinnlichen Wünsche, sondern auch alle Wünsche nach einem Da-Sein und So-Sein, das keine Rechtfertigung außer seiner selbst braucht. Diese Abwehr bedienen auch Karl Marx und Friedrich Engels, die nicht antreten, die Menschheit von der Arbeit zu befreien, sondern in ihr „die erste Grundbedingung alles menschlichen Lebens“ sehen: „Sie hat den Menschen selbst geschaffen“ (MEW 20, S. 444). Das hält ihnen Paul Lafargue (1981, S. 10), der Schwiegersohn von Karl Marx, dann auch vor, wenn er über die Forderung nach einem Recht auf Arbeit spottet: „Statt gegen diese geistige Verwirrung anzukämpfen, haben die Priester, die Ökonomen und die Moralisten die Arbeit“ – „die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht“ – „heilig gesprochen“. Mit seiner gegensätzlichen Forderung nach einem Recht auf Faulheit projektiert er Emanzipation als Ausstieg aus der Tretmühle. Soll es ein allgemeines Recht sein, das sich nicht nur Wenige auf Kosten vieler Arbeitssklaven nehmen, setzt es die Abwesenheit materieller Lebensnot bei allen voraus. Der historische Diskurs um Faulheit liegt freilich nicht in erster Linie auf der Ebene der Produktion von Gütern und deren gesellschaftlicher Verteilung, sondern ist darauf aus, Arbeit als Sinnstiftung in Frage zu stellen. Der Gegenentwurf wird etwa von Friedrich Schiller (1989, S. 768) formuliert, der von einem neuen Menschen träumt, der „ohne zu arbeiten, tätig ist“. In dieser Gegenüberstellung von Arbeit und Tätigkeit wird deutlich, dass ein Recht auf Faulheit zu fordern, nicht zwangsläufig die Absage an eine vita activa bedeutet. Vielmehr erhebt die Forderung auf spöttische Weise die Arbeitsscheu zum Ideal, die Menschen als natürliche Anlage attestiert wird, um den gesellschaftlichen Zwang zu rechtfertigen, mit dem die Scheu in das Selbstverständnis verwandelt werden soll, ein „animal laborans“ zu sein. So heißt es bei Freud (1960b, S. 438) in einer berühmten Fußnote lapidar: „Die große Mehrheit der Menschen arbeitet nur notgedrungen und aus dieser natürlichen Arbeitsscheu der Menschen leiten sich die schwierigsten sozialen Probleme ab.“ Gemeint sind Probleme, Arbeitsmotivation zu erzeugen. Liest man die ganze Fußnote, so deutet Freud aber zwei Probleme an, die erklären, warum Arbeitsscheu womöglich gar keine natürliche ist: Die Lebenskunst, für die Freud eintritt, setzt am ehesten auf „Arbeit als Weg zum Glück“. Denn „Berufsarbeit“ bietet die Möglichkeit, „ein starkes Ausmaß libidinöser Komponenten, narzisstische, aggressive und selbst erotische“ zu sublimieren. Diese Befriedigungsmöglichkeit „leiht ihr einen Wert, der hinter ihrer Unerlässlichkeit zur Behauptung und Rechtfertigung der Existenz in der Gesellschaft nicht zurücksteht. Besondere Befriedigung vermittelt die Berufsarbeit, wenn sie eine frei gewählte ist.“ So gesehen verkörpert Arbeitsscheu vielleicht eine Form des Widerstands gegen gesellschaftliche Bedingungen, in denen der Wert eines Menschen nach seiner Arbeitsleistung in einem Beruf bemessen wird, den er nicht seinen Neigungen entsprechend wählen kann. Faulheit mag auf diesem Hintergrund eine Manifestation des entstellten Wunsches von Menschen sein, nicht erst für ihren volkswirtschaftlichen Nutzen, sondern bereits für ihr Da-Sein und So-Sein wertgeschätzt zu werden – eine Wertschätzung, die auch eine Arbeitsmarkt-Gesellschaft nicht bietet, weil sie Wertschätzung an nachgefragte und mehr noch: bezahlte Arbeit bindet und dadurch einen Selektionsmechanismus institutionalisiert, der alle anderen Tätigkeiten entwertet. Deren Aufwertung verlangt erstens, die Identifikation gesellschaftlicher Nützlichkeit mit Erwerbsarbeit zu lockern oder aufzulösen, was in Anbetracht eines Arbeitsmarktes, der immer weniger Erwerbsarbeit anzubieten hat, längst überfällig ist. Zweitens verlangt sie eine Stärkung einer vita contemplativa, die nicht mit einer konsumintensiven Freizeit verwechselt werden darf, da die Verausgabung von Lebenszeit in einer solchen freien Zeit kaum mehr ist als das Spiegelbild der Verausgabung von Lebenszeit in der Erwerbsarbeit; beide sind einander über eine strikte Monetarisierung symbiotisch verbunden. Drittes gilt es, zwischenmenschliche Beziehungen zu fördern, die Selbst-Sorge und Für-Sorge verbinden, um jene „Verlassenheit“ zu mildern, von der Hannah Arendt (1981, S. 58) urteilt, sie sei zu einem „Massenphänomen“ geworden, weil das „animal laborans“ in der Moderne den gefährlichen Versuche mache, sich – wie sie in Anspielung auf eine apokalyptische Metapher von Friedrich Nietzsche schreibt – „in der Wüste heimisch zu fühlen“ (zit. n. Breier 1992, S. 44). Die Kunst, nach einem erfüllten Leben zu sterben Besonders die „Verlassenheit“ des „animal laborans“ verweist auf den untergründigen Zusammenhang, der zwischen Arbeitssucht und dem „Tod Gottes“ besteht. Während Max Webers Protestanten die Arbeit heiligen, um an ihrem irdischen Erfolg abzulesen, ob ihnen Gott gnädig und das Heil im Himmel gewiss ist, geht Arendt von einer Situation aus, in der Gott für die Menschen nicht mehr existiert. Diese Situation „transzendentaler Obdachlosigkeit“ (Lukacs) verschärft für die Menschen vor allem das Problem ihrer eigenen Sterblichkeit: „Das Leben den Einzelnen ist wieder sterblich geworden, so sterblich, wie es im Altertum gewesen ist, aber die Welt, in der die Sterblichen sich nun bewegen, ist nicht nur nicht unvergänglich, sie ist sogar vergänglicher und unzuverlässiger geworden, als sie es je in den Jahrhunderten eines unerschütterlichen christlichen Glaubens gewesen war. Es ist nicht ein wie immer geartetes Diesseits, das sich dem Menschen bot, als er die Gewissheit des Jenseits verlor, er wurde vielmehr aus der jenseitigen und der diesseitigen Welt auf sich selbst zurückgeworfen“ (Arendt 1981, S. 312). Dieser doppelte Welt-Verlust sucht das „animal laborans“ durch Arbeit wett zu machen. Indem es den Kontakt zur diesseitigen Welt über Arbeit sucht, zerstört es sie, in dem es arbeitet, um seine Todesangst zu vertreiben, vertieft es sie, weil es keine zweite Chance in der jenseitigen Welt erhält. Mehr Lebenssinn und Lebensglück, als sie die knappe Lebenszeit erlaubt, gibt es nicht. Bert Brecht (1988, S. 116) hat dies in seinem Gedicht „Gegen Verführung“ auf den Punkt gebracht: „Es gibt keine Wiederkehr. […] Es kommt kein Morgen mehr [...] Das Leben ist am größten: Es steht nicht mehr bereit.“ Brecht beantwortet diese Situation mit der Aufforderung zu einer hedonistischen Lebensführung. In der zweiten Strophe erhält diese Aufforderung allerdings einen melancholischen Unterton: „Das Leben wenig ist. Schlürft es in vollen Zügen! Es wird Euch nicht genügen / Wenn ihr es lassen müßt!“ Damit attestiert Brecht dem modernen Menschen nach dem Tod Gottes einen Lebenshunger, der durch kein noch so langes Leben zu stillen ist. Der moderne Mensch müsste ewig leben, um alle Möglichkeiten für ein glückliches Leben auszuprobieren, die es gegenwärtig gibt und in Zukunft geben wird. Jede der noch nicht gewählten (oder noch nicht wählbaren, weil noch nicht entdeckten oder erfundenen) Möglichkeiten könnte ihn glücklicher machen. So betrachtet, muss ihn sein tatsächlich gelebtes Leben enttäuschen. Und es enttäuscht ihn umso mehr, je größer seine Erwartungen an ein glückliches Leben sind. Folglich ist es nicht nur vernünftig, sondern auch für Glücksgefühle günstig, solche Erwartungen nicht zu hoch zu schrauben oder gar darauf zu bestehen, dass es einen Anspruch auf ein glückliches Leben gibt. Menschen mit einem melancholischen Temperament oder einer melancholischen Haltung wissen und akzeptieren, dass theoretisch immer mehr an Glück möglich gewesen wäre als es praktisch gewesen ist, weshalb sie auch das, was an ihrem Leben Fragment bleibt, wertschätzen können. In diesem Sinne stelle ich mir vor, dass Dürers Melancholie-Figur sich gegen das Weiterbauen entscheidet, zumindest gegen ein Bauen nach Maßgabe von Vollkommenheit. Ein erfülltes Leben ist kein vollkommenes Leben, sondern ein Leben, das seine Beschränkungen bejaht, weil es sie nicht von einer Vielzahl von vermeintlich verpassten Möglichkeiten her selbst entwertet. Dies schließt als größte Leistung ein, die eigene Sterblichkeit zu bejahen, wie das André Gide (1990, S. 50 f.) in seinem Tagbuch versucht, wenn er schreibt, der Mensch müsse lernen, den Tod zu begreifen; „zu begreifen sogar, dass die wundervolle Schönheit dieser Welt gerade daher rührt; dass nichts auf der Welt dauert und dass unaufhörlich das eine Platz und Stoff lassen muss, damit das andere, was noch nicht gewesen ist, entstehen kann“. Dieses Lob der Vergänglichkeit, das auch Freud (1960a) in seinem kleinen Text „Vergänglichkeit“ anstimmt, trägt freilich auch Züge einer übermenschlichen Leistung. Deshalb begnügen sich Menschen mit einem melancholischen Temperament oder einer melancholischen Haltung auch in diesen letzten Dingen mit einer bescheideneren, milde selbstironischen Variante: Sie bejahen die Vergänglichkeit, ihre eigene Vergänglichkeit inbegriffen, wohl wissend, dass die Zeile eines Gedichtes von Theodor Fontane (1978, S. 349 f.) zutrifft, die da heißt: „Immer klingt es noch daneben: / Ja, das möchte ich noch erleben.“ Wem dies gelingt, der hat Glück gehabt – im doppelten Sinn des Wortes, weil ihm vergönnt ist, trotz seiner Unvollkommenheit, vielleicht aber mehr noch: aufgrund seiner Unvollkommenheit „mit sich selbst befreundet [zu] sein“ (Schmid 2004). Literatur Adorno, Th. W. (1966): Negative Dialektik. Frankfurt am Main. Arendt, H. (1982): Vita activa oder Vom tätigen Leben. München. Böhme, H. (1989): Dürers Melencolia I. Im Labyrinth der Deutung. Frankfurt am Main. Brecht, B. (1988): Werke. Bd. 11: Gedichte 1. Frankfurt am Main. Breier, K.-H. 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Prof. Dr. Dr. Rolf Haubl, Diplompsychologe und Germanist; geb. 1951; Professor für psychoanalytische Sozialpsychologie an der Johann Wolfgang Goethe Universität und Direktor des SigmundFreud-Instituts; Gruppenlehranalytiker; gruppenanalytischer Supervisor und Organisationsberater (DAGG, DGSv).
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