Arbeit und Liebe im Lebenslauf

Melancholie: Glück im Schatten des Saturns
Rolf Haubl
1969 ist Wahlkampf in Westdeutschland. Er endet mit
dem Sieg von Willy Brand und einer SPD, die mehr
Demokratie wagen will. Zu ihren Unterstützern aus dem
Kreis deutscher Intellektueller gehört in vorderster
Reihe Günter Grass. 1972 veröffentlicht er sein Buch
„Aus dem Tagebuch einer Schnecke“, in dem er diesen
historischen Moment und seinen Beitrag dazu
kommentiert. Er tut dies unter Rückgriff auf eines der
berühmtesten Bilder der deutschen Kunstgeschichte:
den Kupferstich „Melencolia I“ von Albrecht Dürer.
Grass ist mitten im Wahlkampf nach Nürnberg
eingeladen worden, um zur Feier des 500. Geburtstages
von Dürer eine Rede zu halten. Grass hält diese Rede
1971 unter dem Titel „Vom Stillstand im Fortschritt.
Variationen
zu
Albrecht
Dürers
Kupferstich
‚Melencolia I’“ und beschließt mit ihr auch sein
Tagebuch.
Von Schnecken lernen
Wie es der Buchtitel bereits ankündigt, wählt Grass für
sein Tagebuch ein Emblem-Tier und zwar ein ganz und
gar unheroisches, eben die Schnecke, von der er
schreibt: „Sie siegt nur knapp und selten. Sie kriecht,
verkriecht sich, kriecht mit ihrem Muskelfuß weiter und
zeichnet in geschichtliche Landschaft, über Urkunden
und Grenzen, zwischen Baustellen und Ruinen, durch
zugige Lehrgebäude, abseits schöngelegener Theorien,
seitlich Rückzügen und vorbei an versandeten
Revolutionen ihre rasch trockene Gleitspur“ (Grass
1998, S. 9). Grass wählt die Schnecke als Emblem einer
langsamen und keineswegs gradlinigen Fortbewegung,
die der euphorischen oder gar manischen Semantik
geschichtlichen Fortschrittsglaubens, ob evolutionär
oder revolutionär begründet, widerspricht. Es ist die
Natur der Schnecke, sich auf diese Art und Weise
fortzubewegen. Sie träumt nicht davon, ein „Ross“ zu
sein, auf dem einst G. F. W. Hegel den Weltgeist in der
Person des Kaisers Napoleon hoch aufgerichtet reiten
sah (Grass 1998, S. 49). Das wäre wider ihre Natur.
Wenn die Gattung Mensch überhaupt Fortschritte
macht, dann im Schneckentempo. Damit ist Hoffnung
nicht aufgegeben, aber auch nicht leichtfertig
versprochen, am Ende werde alles gut: Eine in das
Tagebuch integrierte Erzählung stellt Hermann Ott vor,
der den Spitznamen „Zweifel“ trägt, weil er „mit dem
Wort Zweifel so gebräuchlich umgeht, als hantiere er
mit Messer und Gabel“ (Grass 1998, S. 23). Und nicht
nur mit dem Wort. Der Lehrer Ott, ein Alter ego von
Grass, ist von Natur aus einer, der ständig an
Gewissheiten, einschließlich der eigenen, zweifelt.
Passend dazu widmet er sich der Erforschung von
Schnecken.
Die Schnecke steht emblematisch für den Zweifel
am gattungsgeschichtlichen Fortschritt. Ob eine
Entwicklung ein Fortschritt ist, lässt sich nur
nachträglich ermessen. Denn erst der Rückblick auf die
eigene Spur zeigt den Weg, den man tatsächlich
genommen hat. Dabei ist Gleiten, wie es Schecken tun,
eine schonende Art der Fortbewegung. Wer gleitet, reißt
den Boden nicht auf, hinterlässt keine tiefen Spuren.
Spuren, die trocknen, verschwinden mit der Zeit, sind
nur über kurze Strecken zurückzuverfolgen, weshalb es
eines häufigen Innehaltens bedarf, um sie nicht zu
verlieren. Dieses Innehalten ist es dann auch, das im
Titel des Vortrages wiederkehrt, den Grass zu Ehren
Dürers hält: „Stillstand im Fortschritt“. Ihm lassen sich
zwei
unterschiedlich
akzentuierte
Anklänge
abgewinnen: Als resignative Diagnose gelesen, gibt es
keinen Fortschritt, sondern nur Stillstand – als
Fortschritt verkleidet. Soweit geht Grass nicht. Er ist
weniger resignativ, weshalb er den Titel eher als
Aufforderung formuliert, im Fortschreiten eine Zeit lang
inne zu halten, um zu bilanzieren, ob der eingeschlagene
Weg tatsächlich ein fortschrittlicher ist. So gelesen,
spielt er dann auch auf die Melancholie-Figur an, die
Dürer an den rechten Bildrand seines Meisterstichs
gesetzt hat: jener Engel, der inmitten verstreuter
Gerätschaften sitzt, den Kopf in die Hand gestützt –
nachdenklich, vielleicht sogar grübelnd.
Melancholische Zweifel
Wie Hartmut Böhme (1988) zu Recht betont, sieht sich
der Betrachter des Kupferstichs, der sich über dessen
Bedeutung zu informieren sucht, in ein „Labyrinth“ von
Deutungen geführt. Seinen Einstieg markiert die
epochale ikonologische Untersuchung, die Erwin
Panowsky und Fritz Saxl 1923 vorgelegt haben. Grass
kennt und nutzt sie. Ebenso kennt und nutzt er die
sozialgeschichtliche Untersuchung „Melancholie und
Gesellschaft“ von Wolf Lepenies (1969), die eine
Geschichte der „Melancholieverbot[e]“ (Grass 1998, S.
308) anreißt:
Im Mittelalter beginnt eine Verfolgung von
Menschen, die ein melancholisches Temperament oder
eine melancholische Haltung zeigen. Unter dem Namen
„Acedia“ wird die Melancholie zu einer Todsünde,
deren zentrales Merkmal es ist, an dem göttlichen
Schöpfungsplan mit seinem verheißenen Seelenheil zu
zweifeln. Die Renaissance lässt das Mittelalter hinter
sich, schreibt aber das Melancholieverbot unter ihren
eigenen Vorzeichen fort. Gleiches gilt für die
Aufklärung. Sie bekämpft alle Vernunftkritik, die nicht
in das hohe Lied einer heilsgewissen Rationalität
einstimmt, sondern die Aufklärung selbst für
aufklärungsbedürftig erachtet, indem sie diese Kritik als
melancholisch (und damit als krankhaft) diffamiert
(Schings 1977). Vor diesem historischen Hintergrund
tritt Grass für eine Neubewertung des melancholischen
Temperaments oder der melancholischen Haltung ein.
Melancholiker stören allerorts das weit verbreitete
Wunschdenken, in der besten aller möglichen Welten zu
leben – oder doch auf dem besten Weg dorthin zu sein.
Indem sie es stören, treten sie für eine Lebensführung
ein, die Utopien zwar nicht abschwört, sie aber doch auf
den Status von regulativen Ideen verringert, die für
korrigierende Erfahrungen offen bleiben.
Mit Sigmund Freud (1960b, S. 434) zu sprechen,
der etliche Züge eines Melancholikers trägt, „(ist) die
Absicht, dass der Mensch ‚glücklich’ sei, im Plan der
‚Schöpfung’ nicht enthalten“. Da Menschen aber
notorische Glückssucher sind, finden sie sich nur
schwer damit ab, zumal in der Moderne, in der
suggeriert wird, jede und jeder habe das Recht,
glücklich zu werden. Folglich lassen sie sich nur allzu
gerne dazu verführen, an Glücksversprechen zu glauben
und seien es die Versprechen eines Glücks, das ihnen
die jeweils herrschende Gesellschaftsordnung verordnet,
weil sie sich dadurch stabilisiert, wie dies etwa in der
Konsumgesellschaft
durch
den
propagierten
Kurzschluss von Glück und Konsum der Fall ist (Haubl
2002). Wer solche Kurzschlüsse lebt, kann ein
melancholisches
Temperament
oder
eine
melancholische Haltung kaum anders wahrnehmen als
die Unfähigkeit, glücklich zu sein. Glück und
Melancholie sind so gesehen unverträglich und wenn
eine Textsammlung zur Geschichte der Melancholie im
Untertitel „Vom Glück, unglücklich zu sein“ (Sillem
1997) heißt, dann erscheint das als billiges Bonmot,
wenn nicht gar als Zynismus. Vielleicht sind
Melancholie und Glück aber auf andere Weise
verbunden.
Die existenzielle Ohnmacht der instrumentellen
Vernunft
Mit einem Begriff von Freud lässt sich die MelancholieFigur auf Dürers Kupferstich als Allegorie des
Menschen als „Prothesengott“ (Freud 1960b, S. 451)
begreifen. Zahlreichen Gerätschaften liegen, wie achtlos
fallen gelassen, auf dem Boden. Es sind Werkzeuge der
instrumentellen Vernunft, die dazu dienen, eine Welt zu
bauen, die der menschlichen Kontrolle unterliegt. Im
historischen Kontext von Dürers Kupferstich ist das
eine Welt „more geometrico“, weshalb die Figur, deren
rechter Arm auf einem geschlossenen Buch liegt, mit
der rechten Hand untätig einen großen Zirkel hält.
Die Geschichte der instrumentellen Vernunft ist
eine Geschichte von Werkzeugen, die immer effektiver
werden. Deshalb beginnt Grass seine Rede mit einer
fantastischen Szene, die diese Kontinuität markiert: Am
21. Juli 1969 landeten die ersten Menschen auf dem
Mond. Dabei geschah etwas, „wovon keine Zeitung
berichten wollte. Auch das Fernsehen redete sich auf
‚Bildstörung’ heraus, als beide Astronauten – kaum
hatten sie die Plakette, das Fähnchen, die empfindlichen
Instrumente gepflanzt – Urväterhausrat auspackten:
Edwin Aldrin stellte die Waage, die Sanduhr, die
Glocke auf, bettete das magische Zahlenquadrat und
spießte den geöffneten Zirkel, der einen ordentlichen
Schatten warf; Neill Armstrong zeichnete mit dem
Finger im Handschuh groß und wie für ewig die
Initialen des Nürnberger Meisters: zwischen gespreizten
Beinen nahm das A im Mondschein das D in Schutz“
(Grass 1998, S. 300).
Ich will mich nicht auf Detaildeutungen des
Kupferstiches einlassen, wie sie Klaus Peter Schuster
(2006) eindrucksvoll vornimmt, sondern sehr viel
weniger gelehrt, wenn nicht sogar eigensinnig
verfahren. Betrachte ich „Melencolia I“, sehe ich in der
Melancholie-Figur jedes Mal einen Menschen vor mir,
der sich in einer Entscheidungssituation befindet. Er
baut an einem Turm, der in den Himmel ragt und noch
nicht fertig gestellt ist. Der Baumeister legt eine Pause
ein, die aber nicht wie eine Erholungspause wirkt, nach
der er sich sofort wieder an sein Werk machen würde.
Nicht körperliche Erschöpfung ist der Grund für sein
Innehalten, sondern eine Frage, die ihn plötzlich
überkommt, und auf die er noch keine Antwort weiß:
Macht es überhaupt Sinn, weiter zu bauen? Wofür die
ganze Anstrengung? Lohnt der Ehrgeiz, so hoch hinaus
zu wollen?
Diesen Menschen einen „stillen Brüter“
(Horstmann 1992) zu nennen, erscheint mir nicht
gerechtfertigt zu sein. Denn die Benennung nimmt eine
Deutung vorweg, die ich nicht nachvollziehe. „Brüten“
würde der Baumeister, wenn klar wäre, dass er versagt
hat. Dann würde er weiterbauen wollen, es gelänge ihm
aber nicht, worüber er Gram oder Groll empfände. Dass
er weiterbauen will, gerade das aber erscheint nicht
sicher. Noch ist keine Entscheidung getroffen. Am
Turm hängen eine Balkenwaage, eine Sanduhr und eine
Zugglocke: die Waagschalen sind ausbalanciert, der
Sand ist genau zur Hälfte durchgelaufen und der
Glockenklöppel hängt lotrecht herab.
Der Baumeister sitzt in der Dämmerung und schaut
nach links oben, wo sich im Bildhintergrund eine stille
Wasserfläche, von einem Regenbogen überwölbt, zum
Horizont hin erstreckt, den ein Komet erhellt. Solche
Himmelserscheinungen haben damals die Gemüter der
Humanisten bewegt. In der Perspektive der
instrumentellen Vernunft waren es Phänomene, die ihre
Erklärungskraft überstiegen: Wunder einer Schöpfung,
mit deren religiöser Deutung sie sich nicht bescheiden
wollten, die ihnen aber noch ungelöste Rätsel aufgaben.
Was mag der Blick des Baumeisters bedeuten? Bedenkt
er vielleicht gerade die Konkurrenz, die er mit Gott oder
wahlweise der Natur eingegangen ist? Kommt ihm das
Ausmaß seines Ehrgeizes zu Bewusstsein? Ist es
womöglich doch Hybris, wenn er denkt, mit ihnen
konkurrieren zu können? Sein Blick wirkt auf mich, als
würde er die Entfernung abschätzen, die ihn und sein
unvollendetes Bauwerk von den vollendeten
Schöpfungswundern trennt. Angesichts der großen
Entfernung bieten sich ihm drei Optionen: Er könnte die
Konkurrenz wieder aufnehmen und sich noch mehr
anstrengen, die Entfernung so schnell wie möglich zu
verringern, die Konkurrenz aber auch ganz aufgeben
oder gelassen zu seinen beschränkten menschlichen
Möglichkeiten stehen. Es sind existenzielle Fragen, die
sich der Baumeister stellt, und die Dürer auf subtile
Weise mit der Frage nach der Bedeutung des Todes für
das Leben der Menschen verbindet.
Als Dürer den Kupferstich schuf, hat er sich
vermutlich in einer Krise befunden. Dafür spricht, dass
ihm seit 1513 dämmert, sein ehrgeiziges Vorhaben, ein
ultimatives Malerhandbuch zu schreiben, das die
Malerei verwissenschaftlicht, könnte Fragment bleiben.
Dürer war von der Vorstellung besessen, die ideale
menschliche Figur zu konstruieren, deren Schönheit auf
nichts anderem als auf messbaren Größenverhältnissen
beruhe – ganz so wie es in der „Weisheit Salomos“ (11,
21) von Gott heißt, er habe die Welt nach „Maß, Zahl
und Gewicht“ geordnet: Tatsächlich ist dieses
Handbuch nie fertig geworden. Insofern lässt sich die
Melancholie-Figur auch als eine Personifikation des
Malers selbst verstehen, der über sein künstlerisches
Schaffen nachdenkt.
Und nicht nur das: Das Jahr 1514 ist auch das
Todesjahr seiner Mutter, der er innig verbunden war,
weshalb es nicht fern liegt, ihm Trauer über den
schmerzlich erlittenen Verlust zu unterstellen. Nun
taucht die Jahresangabe im Bild an einer bestimmten
Stelle auf: an der Wand des Turmes befindet sich
unterhalb der Glocke ein lateinisches Quadrat aus 4x4
Feldern. Folglich sind die Zahlen 1 bis 16 in ihm so zu
verteilen, dass die Summen der Zahlen in allen Zeilen,
Spalten und Diagonalen gleich sind: Dürer löst das
Quadrat mit der Summe 34. Dabei kommt es in der
letzten Zeile zu der Ziffernfolge (4) 15 14 (1). Diese
Jahreszahl datiert den Kupferstich. Da es aber eine
zweite Datierung gibt, die sich oberhalb von Dürers
Monogramm (auf der Stufe) befindet, ist die Jahreszahl
im lateinischen Quadrat überdeterminiert: Erinnert sie
an das Todesjahr der Mutter, wird das lateinische
Quadrat zum Sinnbild des Versuches, tief greifende
existenzielle Erfahrungen, wie sie einem der Tod eines
geliebten Menschen und das dadurch verstärkte
Bewusstsein der eigene Hinfälligkeit und Sterblichkeit
auferlegt, vernünftig zu bewältigen. Ob die
instrumentelle Vernunft das geeignete Mittel ist, mit
solchen Erfahrungen umzugehen, auch das scheint der
Bildkomposition zufolge fraglich, weil nicht
entschieden zu sein. In der Sanduhr überlagern sich
beide Lesarten: Als Vanitas-Emblem fordert sie dazu
auf, an die Kürze des eigenen Lebens zu denken und
seine Lebensführung darauf einzustellen. Zwar zeigt die
kanonische Ausführung des Emblems eine Sanduhr,
deren Sand – die verrinnende Lebenszeit – fast
durchgelaufen ist, in Dürers Darstellung des zur Hälfte
durchgelaufenen Sandes bleibt das „Memento mori“
dennoch präsent.
Die damit aufgeworfene Frage hat wenig an Brisanz
verloren: Im historischen Rückblick zeigt sich, dass die
instrumentelle Vernunft ihre Ultima ratio in der
Abschaffung des Todes sucht. Da dieses Projekt bis
heute erfolglos geblieben ist, aber dazu führt, dass der
Tod als sinnlos erlebt wird, gerät der moderne Mensch
in eine „Dauerpanik“, die „anders nicht mehr zu
beschwichtigen (ist) als durch dessen Verdrängung“
(Adorno 1966, S. 363). Ohne diese These hier
differenziert diskutieren zu können (Nassehi u. Weber
1989), sei sie noch zugespitzt: Die Verdrängung des
Todes ist eine Quelle von Gewalt, da „Töten die
simpelste Weise zu sein (scheint), den Tod von sich
abzulenken“ (Schulte 1997, S. 66). Und sie treibt dazu
an, sein Leben mit rastloser Erwerbsarbeit zu
verbringen, deren Produkte nicht selten dem Töten
dienen, wenn man nur bedenkt, welche große Anzahl
von Arbeitsplätzen hierzulande von der Rüstung
abhängen.
Ohne zu arbeiten, tätig sein
Zurück zu Dürers Kupferstich. Was geschieht, wenn der
Baumeister sich entscheidet, seine Werkzeuge nicht
wieder aufzunehmen oder zumindest seine ehrgeizigen
Anstrengungen zu verringern? Er muss gewärtig sein,
als
faul
diffamiert
zu
werden!
Die
Entscheidungssituation die Dürer auf seinem Bild
darstellt, markiert historisch den Beginn einer
Gesellschaft, die sich zunehmend mehr über Arbeit
definiert und ihre Mitglieder nach Maßgabe ihrer
Arbeitsleistung wertschätzt.
Was Faulheit bedeutet, sich von der religiösen
Todsünde der Acedia als Zweifel an der Heilsgewissheit
des Schöpfungsplans und wird zu einer ökonomischen
Todsünde, in der Arbeit religiös überhöht ist. Auf dem
Weg zu jener protestantischen Arbeitsethik, die Max
Weber rekonstruiert hat, gibt Martin Luther das
Startzeichen, indem er gegen das Klosterleben seiner
Zeit wettert: Die Klöster seien „das rechte schlauraffen
landt, das voll ist für die faulen brüder“, weshalb sie
„endlich ausgerott müssen werden“ (Luther 1912, S.
150). Die Abwertung der vita contemplativa und die
Identifizierung der vita activa mit Arbeit findet in der
protestantischen Arbeitsethik ihren Höhepunkt, in der
Arbeit zum Selbstzweck des Lebens wird. Mit einem
Blick, der eine ähnliche Tiefe gewinnt wie der
psychoanalytische Blick, erkennt Weber, dass Arbeit,
die zum Selbstzweck wird, die Merkmale eines
Abwehrmechanismus hat, der alle sinnlichen Wünsche
niederhalten muss:
Arbeit ist „namentlich das
spezifische Präventiv gegen alle jene Anfechtungen,
welche der Puritanismus unter dem Begriff ‚unclean
life’ zusammenfasst“ (Weber 1975, S. 168). Abgewehrt
werden aber nicht nur alle sinnlichen Wünsche, sondern
auch alle Wünsche nach einem Da-Sein und So-Sein,
das keine Rechtfertigung außer seiner selbst braucht.
Diese Abwehr bedienen auch Karl Marx und
Friedrich Engels, die nicht antreten, die Menschheit von
der Arbeit zu befreien, sondern in ihr „die erste
Grundbedingung alles menschlichen Lebens“ sehen:
„Sie hat den Menschen selbst geschaffen“ (MEW 20, S.
444). Das hält ihnen Paul Lafargue (1981, S. 10), der
Schwiegersohn von Karl Marx, dann auch vor, wenn er
über die Forderung nach einem Recht auf Arbeit spottet:
„Statt gegen diese geistige Verwirrung anzukämpfen,
haben die Priester, die Ökonomen und die Moralisten
die Arbeit“ – „die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur
Erschöpfung
der
Individuen
und
ihrer
Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht“ – „heilig
gesprochen“. Mit seiner gegensätzlichen Forderung
nach einem Recht auf Faulheit projektiert er
Emanzipation als Ausstieg aus der Tretmühle. Soll es
ein allgemeines Recht sein, das sich nicht nur Wenige
auf Kosten vieler Arbeitssklaven nehmen, setzt es die
Abwesenheit materieller Lebensnot bei allen voraus.
Der historische Diskurs um Faulheit liegt freilich
nicht in erster Linie auf der Ebene der Produktion von
Gütern und deren gesellschaftlicher Verteilung, sondern
ist darauf aus, Arbeit als Sinnstiftung in Frage zu
stellen. Der Gegenentwurf wird etwa von Friedrich
Schiller (1989, S. 768) formuliert, der von einem neuen
Menschen träumt, der „ohne zu arbeiten, tätig ist“. In
dieser Gegenüberstellung von Arbeit und Tätigkeit wird
deutlich, dass ein Recht auf Faulheit zu fordern, nicht
zwangsläufig die Absage an eine vita activa bedeutet.
Vielmehr erhebt die Forderung auf spöttische Weise die
Arbeitsscheu zum Ideal, die Menschen als natürliche
Anlage attestiert wird, um den gesellschaftlichen Zwang
zu rechtfertigen, mit dem die Scheu in das
Selbstverständnis verwandelt werden soll, ein „animal
laborans“ zu sein. So heißt es bei Freud (1960b, S. 438)
in einer berühmten Fußnote lapidar: „Die große
Mehrheit der Menschen arbeitet nur notgedrungen und
aus dieser natürlichen Arbeitsscheu der Menschen leiten
sich die schwierigsten sozialen Probleme ab.“ Gemeint
sind Probleme, Arbeitsmotivation zu erzeugen. Liest
man die ganze Fußnote, so deutet Freud aber zwei
Probleme an, die erklären, warum Arbeitsscheu
womöglich gar keine natürliche ist: Die Lebenskunst,
für die Freud eintritt, setzt am ehesten auf „Arbeit als
Weg zum Glück“. Denn „Berufsarbeit“ bietet die
Möglichkeit, „ein starkes Ausmaß libidinöser
Komponenten, narzisstische, aggressive und selbst
erotische“
zu
sublimieren.
Diese
Befriedigungsmöglichkeit „leiht ihr einen Wert, der
hinter ihrer Unerlässlichkeit zur Behauptung und
Rechtfertigung der Existenz in der Gesellschaft nicht
zurücksteht. Besondere Befriedigung vermittelt die
Berufsarbeit, wenn sie eine frei gewählte ist.“ So
gesehen verkörpert Arbeitsscheu vielleicht eine Form
des Widerstands gegen gesellschaftliche Bedingungen,
in denen der Wert eines Menschen nach seiner
Arbeitsleistung in einem Beruf bemessen wird, den er
nicht seinen Neigungen entsprechend wählen kann.
Faulheit mag auf diesem Hintergrund eine
Manifestation des entstellten Wunsches von Menschen
sein, nicht erst für ihren volkswirtschaftlichen Nutzen,
sondern bereits für ihr Da-Sein und So-Sein
wertgeschätzt zu werden – eine Wertschätzung, die auch
eine Arbeitsmarkt-Gesellschaft nicht bietet, weil sie
Wertschätzung an nachgefragte und mehr noch:
bezahlte Arbeit bindet und dadurch einen
Selektionsmechanismus institutionalisiert, der alle
anderen Tätigkeiten entwertet.
Deren
Aufwertung
verlangt
erstens,
die
Identifikation gesellschaftlicher Nützlichkeit mit
Erwerbsarbeit zu lockern oder aufzulösen, was in
Anbetracht eines Arbeitsmarktes, der immer weniger
Erwerbsarbeit anzubieten hat, längst überfällig ist.
Zweitens verlangt sie eine Stärkung einer vita
contemplativa, die nicht mit einer konsumintensiven
Freizeit verwechselt werden darf, da die Verausgabung
von Lebenszeit in einer solchen freien Zeit kaum mehr
ist als das Spiegelbild der Verausgabung von Lebenszeit
in der Erwerbsarbeit; beide sind einander über eine
strikte Monetarisierung symbiotisch verbunden. Drittes
gilt es, zwischenmenschliche Beziehungen zu fördern,
die Selbst-Sorge und Für-Sorge verbinden, um jene
„Verlassenheit“ zu mildern, von der Hannah Arendt
(1981, S. 58) urteilt, sie sei zu einem
„Massenphänomen“ geworden, weil das „animal
laborans“ in der Moderne den gefährlichen Versuche
mache, sich – wie
sie in Anspielung auf eine
apokalyptische Metapher von Friedrich Nietzsche
schreibt – „in der Wüste heimisch zu fühlen“ (zit. n.
Breier 1992, S. 44).
Die Kunst, nach einem erfüllten Leben zu sterben
Besonders die „Verlassenheit“ des „animal laborans“
verweist auf den untergründigen Zusammenhang, der
zwischen Arbeitssucht und dem „Tod Gottes“ besteht.
Während Max Webers Protestanten die Arbeit heiligen,
um an ihrem irdischen Erfolg abzulesen, ob ihnen Gott
gnädig und das Heil im Himmel gewiss ist, geht Arendt
von einer Situation aus, in der Gott für die Menschen
nicht mehr existiert. Diese Situation „transzendentaler
Obdachlosigkeit“ (Lukacs) verschärft für die Menschen
vor allem das Problem ihrer eigenen Sterblichkeit: „Das
Leben den Einzelnen ist wieder sterblich geworden, so
sterblich, wie es im Altertum gewesen ist, aber die Welt,
in der die Sterblichen sich nun bewegen, ist nicht nur
nicht unvergänglich, sie ist sogar vergänglicher und
unzuverlässiger geworden, als sie es je in den
Jahrhunderten eines unerschütterlichen christlichen
Glaubens gewesen war. Es ist nicht ein wie immer
geartetes Diesseits, das sich dem Menschen bot, als er
die Gewissheit des Jenseits verlor, er wurde vielmehr
aus der jenseitigen und der diesseitigen Welt auf sich
selbst zurückgeworfen“ (Arendt 1981, S. 312). Dieser
doppelte Welt-Verlust sucht das „animal laborans“
durch Arbeit wett zu machen. Indem es den Kontakt zur
diesseitigen Welt über Arbeit sucht, zerstört es sie, in
dem es arbeitet, um seine Todesangst zu vertreiben,
vertieft es sie, weil es keine zweite Chance in der
jenseitigen Welt erhält. Mehr Lebenssinn und
Lebensglück, als sie die knappe Lebenszeit erlaubt, gibt
es nicht. Bert Brecht (1988, S. 116) hat dies in seinem
Gedicht „Gegen Verführung“ auf den Punkt gebracht:
„Es gibt keine Wiederkehr. […] Es kommt kein Morgen
mehr [...] Das Leben ist am größten: Es steht nicht mehr
bereit.“
Brecht beantwortet diese Situation mit der
Aufforderung zu einer hedonistischen Lebensführung.
In der zweiten Strophe erhält diese Aufforderung
allerdings einen melancholischen Unterton: „Das Leben
wenig ist. Schlürft es in vollen Zügen! Es wird Euch
nicht genügen / Wenn ihr es lassen müßt!“ Damit
attestiert Brecht dem modernen Menschen nach dem
Tod Gottes einen Lebenshunger, der durch kein noch so
langes Leben zu stillen ist. Der moderne Mensch müsste
ewig leben, um alle Möglichkeiten für ein glückliches
Leben auszuprobieren, die es gegenwärtig gibt und in
Zukunft geben wird. Jede der noch nicht gewählten
(oder noch nicht wählbaren, weil noch nicht entdeckten
oder erfundenen) Möglichkeiten könnte ihn glücklicher
machen. So betrachtet, muss ihn sein tatsächlich
gelebtes Leben enttäuschen. Und es enttäuscht ihn umso
mehr, je größer seine Erwartungen an ein glückliches
Leben sind. Folglich ist es nicht nur vernünftig, sondern
auch für Glücksgefühle günstig, solche Erwartungen
nicht zu hoch zu schrauben oder gar darauf zu bestehen,
dass es einen Anspruch auf ein glückliches Leben gibt.
Menschen
mit
einem
melancholischen
Temperament oder einer melancholischen Haltung
wissen und akzeptieren, dass theoretisch immer mehr an
Glück möglich gewesen wäre als es praktisch gewesen
ist, weshalb sie auch das, was an ihrem Leben Fragment
bleibt, wertschätzen können. In diesem Sinne stelle ich
mir vor, dass Dürers Melancholie-Figur sich gegen das
Weiterbauen entscheidet, zumindest gegen ein Bauen
nach Maßgabe von Vollkommenheit. Ein erfülltes
Leben ist kein vollkommenes Leben, sondern ein
Leben, das seine Beschränkungen bejaht, weil es sie
nicht von einer Vielzahl von vermeintlich verpassten
Möglichkeiten her selbst entwertet. Dies schließt als
größte Leistung ein, die eigene Sterblichkeit zu bejahen,
wie das André Gide (1990, S. 50 f.) in seinem Tagbuch
versucht, wenn er schreibt, der Mensch müsse lernen,
den Tod zu begreifen; „zu begreifen sogar, dass die
wundervolle Schönheit dieser Welt gerade daher rührt;
dass nichts auf der Welt dauert und dass unaufhörlich
das eine Platz und Stoff lassen muss, damit das andere,
was noch nicht gewesen ist, entstehen kann“.
Dieses Lob der Vergänglichkeit, das auch Freud
(1960a) in seinem kleinen Text „Vergänglichkeit“
anstimmt,
trägt
freilich
auch
Züge
einer
übermenschlichen Leistung. Deshalb begnügen sich
Menschen mit einem melancholischen Temperament
oder einer melancholischen Haltung auch in diesen
letzten Dingen mit einer bescheideneren, milde
selbstironischen
Variante:
Sie
bejahen
die
Vergänglichkeit,
ihre
eigene
Vergänglichkeit
inbegriffen, wohl wissend, dass die Zeile eines
Gedichtes von Theodor Fontane (1978, S. 349 f.)
zutrifft, die da heißt: „Immer klingt es noch daneben: /
Ja, das möchte ich noch erleben.“ Wem dies gelingt, der
hat Glück gehabt – im doppelten Sinn des Wortes, weil
ihm vergönnt ist, trotz seiner Unvollkommenheit,
vielleicht aber mehr noch: aufgrund seiner
Unvollkommenheit „mit sich selbst befreundet [zu]
sein“ (Schmid 2004).
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Prof. Dr. Dr. Rolf Haubl, Diplompsychologe und Germanist; geb.
1951; Professor für psychoanalytische Sozialpsychologie an der
Johann Wolfgang Goethe Universität und Direktor des SigmundFreud-Instituts;
Gruppenlehranalytiker;
gruppenanalytischer
Supervisor und Organisationsberater (DAGG, DGSv).