Schattenblick Druckausgabe

Neueste tagesaktuelle Berichte ... Interviews ... Kommentare ... Meinungen .... Textbeiträge ... Dokumente ...
MA-Verlag
EUROPOOL / REDAKTION
Steht Großbritannien eine
Verfassungskrise bevor?
Elektronische Zeitung Schattenblick
Dienstag, 28. April 2015
Die andere Türkei - Wahlproporz und Daueropfer ...
Metin Kaya im Gespräch
Englische Tories ziehen gegen die
schottischen Nationalisten zu Felde
Die Kandidatur der HDP bei den Parlamentswahlen zeitigt Wirkung
Bis zu den Wahlen zum 650sitzigen
Unterhaus des Parlaments des
Vereinigten Königreichs sind es nur
noch zehn Tage. Zwei Dinge haben
den bisherigen Wahlkampfdominiert
und werden die britischen Politiker
auch nach dem Urnengang am 7. Mai
beschäftigen: erstens, die bereits
jetzt absehbare Tatsache, daß keine
der beiden großen Parteien ... (S. 9)
Interview mit Metin Kaya am 12. April 2015 in Hamburg­Altona
Pressekonferenz der Initiative zur Unterstützung der
Demokratischen Partei der Völker (HDP)
KUNST / REPORT
Aus dem Dunkel der Geschichte Tabubruch, Vision und Beispiel ...
Franziska Schnoor im Gespräch
Ausgrenzung und Diskriminierung
sichtbar machen
Interview am 18. März in Hamburg
Die Dramaturgin Franziska
Schnoor gehört dem Zentralrat der
Asozialen in Deutschland (ZAID) an.
Nach der feierlichen Inauguration des Metin Kaya
ZAID auf Kampnagel in Hamburg Foto: © 2015 by Schattenblick
berichtete sie dem Schattenblick über
ihre Beweggründe, ... (S. 11)
Am 7. Juni 2015 finden in der Türkei Parlamentswahlen statt, bei dedie HDP (Demokratische Partei
UMWELT / REDAKTION nen
der Völker) erstmals kandidiert.
in der kurdischen BeweEU-Kommission spielt Konzernen Wenngleich
gung
verwurzelt,
tritt sie doch ihrer
in die Hände
Satzung
zufolge
mit
dem Ziel an, eiOpt­out­Regelung ­ ein Danaer­
ne demokratische Volksherrschaft zu
Geschenk
errichten und allen in der Türkei leGVO-Novelle der EU-Kommission benden Menschen ein Dasein in
richtet sich nicht gegen die USA, Würde und ohne Repression, Aussondern gegen die europäische Anti- beutung und Diskriminierung zu erGentechnikbewegung ... (S. 13)
möglichen. In Hamburg wurde am
(SB) ­
12. April bei der Partei Die Linke im
Bezirk Altona ein Kontakt- und Informationsbüro der HDP eröffnet.
Auf einer Pressekonferenz hieß Metin Kaya vom Bezirksverband Altona der Linkspartei die Interessierten
und Medienvertreter willkommen
und beantwortete gemeinsam mit der
Bürgerschaftsabgeordneten der
Linksfraktion Cansu Özdemir und
Yavuz Fersoglu, Sprecher des
Deutsch-Kurdischen Kulturvereins,
zahlreiche Fragen.
Im Anschluß daran bot sich dem
Schattenblick die Gelegenheit, im
Elektronische Zeitung Schattenblick
Gespräch mit Metin Kaya verschie- Nahen und Mittleren Osten stärker
dene Themen im Kontext dieser wahrgenommen?
Kandidatur zu vertiefen.
MK: Der Kampf insbesondere der
Schattenblick (SB): Auf der Websei- PKK und der PYD gegen den Islamite der Partei Die Linke in Hamburg schen Staat in Syrien ist so offenwurde die heutige Veranstaltung sichtlich, daß die Menschen in
nicht angekündigt. Wie kommt es, Deutschland Fragen wie die folgendaß sie von der Linksfraktion in Al- de stellen: Warum wird diese Partei
tona unterstützt, aber dennoch in hier in den Terrorlisten geführt und
Hamburg nicht beworben wird?
verboten, während sie gegenwärtig
die einzige Kraft ist, die dort gegen
Metin Kaya (MK): Offiziell ist es den IS kämpft? Diesen Widerspruch
nicht gestattet, daß Parteien aus der nehmen viele Menschen im Kontext
Türkei ein Wahlbüro in Deutschland der Diskussionen um den IS wahr.
eröffnen. Deshalb nennen wir es Vorher wurde die öffentliche WahrKontaktbüro. Was wir machen dür- nehmung der PKK in hohem Maße
fen, ist Informationen zu geben und von der deutschen Regierungspolitik
Material zur Verfügung zu stellen, lanciert. Anfang der 1990er Jahre
aber direkt darauf hinarbeiten, daß kam es in Deutschland zu Hausbedie Wählerinnen und Wähler ihre setzungen, Autobahnblockierungen
Stimme der HDP geben, ist uns nicht und Selbstverbrennungen, für die
erlaubt. In diesem Sinne haben wir sich die PKK-Führung in den letzten
zu einer Konferenz eingeladen, zu- Tagen entschuldigt hat. In diesem
mal der Bundesvorstand der Links- Sinne waren die Kurden immer eine
partei die HDP unterstützt. Die Lin- Gruppe, die in eine bestimmte Richke solidarisiert sich und stellt die tung eingeordnet und von staatlicher
Räumlichkeiten zur Verfügung.
Seite verboten wurde.
SB: Gibt es gesetzliche Vorgaben, was SB: Das Verhältnis der deutschen
Die Linke in dieser Hinsicht machen Regierungspolitik zur Türkei mutet
darf und was ihr nicht gestattet ist?
sehr kompliziert an. Es gibt zum
einen die enge Verbindung der NAMK: Das ist gesetzlich geregelt. TO-Partner, zum andern wiederum
Ausländische Parteien dürfen in Kritik an der Türkei, bei der sich verDeutschland nicht für ihre Kandida- schiedene Interessen vermischen.
tur werben. Es hat sich jedoch inzwi- Die Einschätzung Erdogans ist in
schen eingebürgert, zumal der türki- jüngerer Zeit ins Negative umgesche Präsident selbst hierher gekom- schlagen, da immer mehr Ereignisse
men ist und für sich Propaganda ge- aus der Türkei berichtet werden, die
macht hat.
den in Deutschland vorgehaltenen
demokratischen Standards nicht entSB: Das kam selbst bei der deutschen sprechen.
Regierungspolitik nicht gut an.
MK: Das ist eine zweischneidige
MK: Er hat die in Deutschland leben- Geschichte. Auf der einen Seite
den Türkinnen und Türken dazu auf- wünscht man aus deutscher Sicht eigerufen, sich nicht zu assimilieren. ne Regierung in der Türkei, die von
Aber in seinem eigenen Land dürfen einer Mehrheit getragen wird und eidie Kurden nicht ihre Sprache spre- ne gewisse Stabilität auch im Umchen und sollen sich assimilieren.
gang mit den NATO-Partnern und
der EU garantiert. Auf der anderen
SB: Wird dieser Widerspruch in den Seite verselbständigt sich Erdogan in
deutschen Medien und in der Öffent- zunehmendem Maße auch aufgrund
lichkeit inzwischen angesichts der seiner Herkunft im islamischen Beaktuellen Auseinandersetzungen im reich. Er wird zum Teil unberechenSeite 2
www.schattenblick.de
bar für die NATO und die EU. Man
weiß natürlich, daß viele seiner Äußerungen populistisch sind, doch
wirken seine Stellungnahmen natürlich auch nach außen, wenn er beispielsweise Israel beschimpft oder
seine Landsleute in Deutschland auffordert, weiter ihre eigene Sprache
zu sprechen und nicht in der deutschen Bevölkerung aufzugehen.
Auch die neuen Polizeigesetze in der
Türkei, die es den Sicherheitskräften
unter anderem erlauben, ohne Gerichtsbeschluß Menschen zu inhaftieren, oder die Sperrung sozialer
Medien, die sich kritisch geäußert
haben, sind im Gefüge der Bündnispartner nicht mehr vertretbar.
Zudem ist Erdogans direkte Unterstützung des Islamischen Staats bekannt, dessen Kämpfern er die Grenzen öffnet wie auch Rückzugsräume
und Behandlung in türkischen Krankenhäusern gewährt. Der IS wird
über die Türkei mit Waffen und technischer Ausrüstung versorgt. Auch
Erdogans Ambitionen, die Türkei zu
einem Staat in der Tradition des Osmanischen Reichs auszubauen, stößt
nicht nur in Europa, sondern auch
den Ländern des Mittleren Ostens
aufAblehnung. Der Iran und Syrien
fühlen sich bedroht, Israel ohnehin,
obwohl hinter verschlossenen Türen
mit Sicherheit eine Zusammenarbeit
stattfindet. Erdogan spielt in dieser
Region ein gefährliches Spiel, das
auch in der Türkei selbst auf zunehmende Ablehnung stößt. Die EUBeitrittsverhandlungen sind auf Eis
gelegt worden.
SB: In Hamburg kam es im Oktober
2014 zu einer Auseinandersetzung
zwischen Salafisten und Kurden.
Wurden daraufhin Ermittlungen eingeleitet und sind in dieser Hinsicht
Ergebnisse bekannt?
MK: Ergebnisse sind mir nicht bekannt. Ich weiß aber, daß Kurden nicht nur, was diesen Zwischenfall in
Hamburg betrifft -, sondern generell
wegen ihrer Nähe zu dem besagten
Verein oder der Partei unter BeobDi, 28. April 2015
Elektronische Zeitung Schattenblick
achtung gestellt werden. Ob Ermittlungen durchgeführt und abgeschlossen worden sind, weiß ich
nicht. Da bin ich überfragt, zumal ich
kein Mitglied dieses Vereins bin.
Was die von Ihnen angesprochene
Auseinandersetzung betrifft, ist es
ein offenes Geheimnis, daß in bestimmten Hamburger Moscheen junge Menschen teilweise offiziell und
intensiv rekrutiert werden, in anderen etwas weniger. Das geschieht
insbesondere in bestimmten Stadtteilen wie Harburg, Wilhelmsburg und
Billstedt, in denen besonders viele
Menschen aus der Türkei leben.
Grundsätzlich stellt sich natürlich die
Frage, ob man auf deutscher und europäischer Seite gewillt ist, tatsächlich gegen Bestrebungen wie den Salafismus und den IS vorzugehen. Auf
der einen Seite steht man einem Staat
wie Saudi-Arabien mit dem Verkauf
von Panzern und moderner Technik
zur Seite, obwohl dieses Land dieselben Methoden wie der IS anwendet,
nämlich die Gesetze der Scharia oder
die Entrechtung und den Verkaufvon
Frauen. Diesen Widerspruch erlebte
man auch im arabischen Frühling,
wo je nach den Interessen westlicher
Staaten die einen unterstützt und die
andern fallengelassen wurden. So
konnte Saudi-Arabien mit europäischen Waffen ungehindert in Bahrein
militärisch intervenieren. Es kommt
offensichtlich eine Doppelmoral
zum Tragen.
Man könnte eine Organisation wie
den IS in kürzester Zeit eliminieren,
indem man Staaten wie der Türkei,
Saudi-Arabien oder Katar die materielle Grundlage entzieht. Die NATO
und die EU hätten durchaus die Mittel, die genannten Unterstützer des IS
zu verpflichten, ihre Hilfe einzustellen. Im Falle Rußlands und der
Ukraine ging man sehr schnell vor,
sperrte die Konten und verhängte
Sanktionen. Warum dort, aber nicht
im Falle des Islamischen Staats und
seiner Unterstützer? Warum kauft
die Türkei das Öl des IS auf? Warum
wird dieses Öl über die Türkei beiDi, 28. April 2015
spielsweise an Israel verkauft?
Warum wird es nach Europa verschifft? Das ist alles kein Geheimnis,
sondern allgemein bekannt. Man
könnte den Sumpf trockenlegen,
schützt aber vor, Fliegen in diesem
Sumpf einzeln fangen zu müssen,
und das geht natürlich nicht.
SB: Die Bundesregierung muß sich
fragen lassen, warum die PKK nach
wie vor auf der Terrorliste steht,
wenn sie doch Minderheiten in der
Region schützt.
MK: Abgeordnete der Linksfraktion
im Bundestag hatten ihre Immunität
verloren, weil sie auf einem Foto mit
der PKK-Fahne zu sehen sind. Sie
machten geltend, daß die PKK zusammen mit der PYD den Kampf in Rojava führt, aber dennoch auf der Terrorliste geführt wird. Was hat der Westen dazu beigetragen, daß eine terroristische Gruppierung wie der IS bekämpft wird? Man fliegt Luftangriffe,
die jedoch teilweise sehr unwillig
durchgeführt werden, so daß mitunter
Bomben kurzerhand in freiem Gelände abgeworfen wurden. Die einzige
effektive Kraft in dieser Auseinandersetzung sind die Kurden selbst. Im
Nachhinein hat man sich entschlossen, Waffen zu liefern, jedoch nicht
etwa an die Kämpfenden, sondern an
Barsani und die Peschmerga. Von diesen wissen wir, daß sie anfangs gezögert haben, die PKK und die PYD zu
unterstützen. Auch was den humanitären Korridor betrifft, hat der Westen
recht wenig getan. Wiederum waren
es die Kurden, die unter hohen Opfern
eingriffen. Das haben auch die westlichen Medien berichtet, so daß es
viele Menschen erfuhren. Daher mußte sich die Bundesregierung dazu äußern. Ist es hinnehmbar, daß die PKK
noch immer auf den Terrorlisten steht,
obwohl sie dort den Kampf gegen den
IS führt?
SB: Die Terrorliste wird seitens der
EU geführt, während das Betätigungsverbot gegen die PKK in
Deutschland 1993 vom damaligen
Bundesinnenminister Manfred Kanwww.schattenblick.de
ther verhängt wurde. Ließe sich also
diese Verbotsverfügung auch durch
die Bundesregierung wieder aufheben, wenn sie es denn wollte?
MK: Nachdem sich die PKK für weit
zurückliegende Aktivitäten in
Deutschland entschuldigt hat, könnte ich mir diesen Schritt vorstellen,
da er längst überfällig ist. Die Terrorlisten gehen indessen nicht allein
auf die EU zurück, sondern werden
aus Übersee diktiert. Andererseits
wissen wir um die Vormachtstellung
Deutschlands in der EU, so daß es
auf deutsche Initiative hin ein leichtes wäre, die PKK auf europäischer
Ebene aus der Liste zu streichen.
SB: Würde die Bundesregierung den
10-Punkte-Plan der PKK für eine
Friedenslösung ernst nehmen, in
dem Forderungen erhoben werden,
die nach deutschen Standards durchweg plausibel und vertretbar sind,
müßte sie diese Initiative eigentlich
unterstützen.
MK: Auf jeden Fall. Deutschland
und die gesamte EU müßten den Plan
unterstützen, da er ihren Standards
entspricht. Dem Mittleren Osten
wird jedoch ein weitreichender strategischer Plan aufgezwungen, in
dessen Rahmen mit Barsani und
Talabani im Norden des Irak ein
Kurdistan errichtet worden ist. Der
Irak und Syrien werden zwischen
Sunniten, Schiiten und Kurden aufgeteilt. Der Iran gewinnt teilweise an
Einfluß, Israel verfolgt wiederum eigene Interessen. Das Öl in den kurdischen Regionen spielt dabei eine
zentrale Rolle. Man hat der Türkei
gedroht, daß im Falle ihrer Weigerung, weiterhin Militärbasen auf ihrem Territorium zur Verfügung zu
stellen, Alternativen im BarsaniKurdistan möglich seien, wozu auch
schon einige Schritte unternommen
wurden. Die USA akzeptieren dieses
Kurdistan, nehmen es als Partner
wahr und reden direkt mit den dortigen politischen Akteuren, während
sich die EU in dieser Hinsicht noch
schwertut.
Seite 3
Elektronische Zeitung Schattenblick
SB: An wen richtet sich der 10-Punkte-Plan des inhaftierten PKK-Vorsitzenden? Zielt er nur aufdie türkische
Regierung ab oder wendet er sich
auch an die westlichen Länder? Und
wie ist der aktuelle Stand dieser Friedensinitiative?
MK: Es gab eine gemeinsame Presseerklärung der türkischen Regierung mit Vertretern der HDP, sprich
der kurdischen Minderheit. Dabei
wurde das 10-Punkte-Programm, eine Forderung der Kurden auf Initiative Abdullah Öcalans, ausdrücklich
akzeptiert. Derzeit steht jedoch die
Wahl vor der Tür, und die Regierung
weiß, daß sie dabei eine Schlappe erleben wird. Was macht sie also? Sie
geht auf das rechte Spektrum zu und
versucht, dessen Wählerstimmen zu
gewinnen, indem sie wieder Stimmung gegen die Kurden macht. Das
findet vor jeder Wahl statt, da die
AKP-Regierung dann einen gewissen Konsens mit dem konservativen
und rechten Lager etabliert, um dort
auf Stimmenfang zu gehen.
Ich glaube jedoch nicht, daß diese
Rechnung aufgeht. Inzwischen haben
die HDP und die Kurden überall in
der Türkei eine große Akzeptanz erlangt, nicht nur im Osten, sondern
auch im Westen. Heute sind viele
Menschen der Auffassung, daß die
Kurden gleiche Rechte bekommen
sollen. Die Regierung kann es sich jedoch nicht erlauben, das gesamte Programm offen zu unterstützen, weil ihr
andernfalls die Rechten vorwerfen
würden, sie lasse sich vor den Karren
der Kurden spannen, und Abdullah
Öcalan habe ihr das diktiert. Um dem
entgegenzuwirken, heißt es offiziell,
der 10-Punkte-Plan bedürfe noch einiger Korrekturen, und die PKK müsse die Waffen niederlegen. Dabei
spricht doch schon die gemeinsame
Presseerklärung für eine Übereinkunft. Nach den Wahlen sieht es ganz
anders aus, dann sind auch die Töne
nicht mehr dieselben wie zuvor.
tanz gefunden. Sehr viele Menschen
- Intellektuelle, Künstler, Wissenschaftler und Kulturschaffende - haben es für gut befunden. Die HDP
spricht in ihrem WahlkampfThemen
an, die alle Bereiche des Lebens und
alle gesellschaftlichen Gruppen betreffen, ob das die Kurden, die Aleviten, die Türken, die Genderfrage, die
Kulturschaffenden, die Jugendlichen
oder die Studierenden sind - alles
wird dargestellt, und das findet Zuspruch. Derzeit unternimmt die Regierung gravierende Schritte, um das
Bildungssystem reaktionär zu gestalten. Streiks werden verboten. Seit
Jahren kämpfen die Menschen dafür,
ihren 1. Mai aufdem Taksim-Platz zu
feiern. In der Regierungszeit Erdogans sind mehrere tausend Menschen
bei Arbeitsunfällen umgekommen,
die Zahl getöteter Frauen ist erschreckend hoch. All das sind Anzeichen dafür, daß ein reaktionäres System aufgebaut wird. Dem steht entgegen, was die HDP repräsentiert und
vorschlägt, wobei die zehn Punkte eine konzentrierte Zusammenfassung
dessen sind, was auch von der HDP
propagiert wird. Genau die Hälfte der
Kandidatinnen und Kandidaten sind
Frauen, was es in keiner anderen Partei gibt. Die HDP hat überall eine
Doppelspitze, und auch das finden
die Menschen gut. Sie praktiziert,
worüber andere bestenfalls reden. In
westlichen Ländern ist dieses 10Punkte-Programm nicht so intensiv
wahrgenommen oder absichtlich ausgeblendet worden, aber in der Türkei
zeigt es Wirkung.
SB: Selahattin Demirtas hat bei der
Präsidentschaftswahl im letzten Jahr
fast zehn Prozent erreicht. Würden
Sie für das Ergebnis der HDP bei der
bevorstehenden Parlamentswahl eine Prognose wagen?
den Namen Demirtas und die HDP
in der Öffentlichkeit weithin bekannt
zu machen. Die Inhalte des 10-Punkte-Plans waren schon vorher in der
Diskussion, das gesamte Programm
der HDP trat während der Präsidentschaftswahl immer wieder in Erscheinung und wurde in den sozialen
Medien ausgiebig diskutiert. Selahattin Demirtas hat knapp 10 Prozent
bekommen, und nun tritt die HDP als
Partei an und erreicht noch ein ganz
anderes Spektrum.
Damals argumentierten viele, dieser
Kandidat sei noch jung und unerfahren und repräsentiere lediglich einen
Teil der Bevölkerung. Er betonte jedoch, daß er ein Kandidat der gesamten Gesellschaft sei, und das ist
vielen Menschen bewußt geworden,
wie das Wahlergebnis zeigt. Bei den
anstehenden Parlamentswahlen
kommt noch etwas anderes hinzu,
das bei der Präsidentschaftswahl
nicht der Fall war: Ein sehr breites
Spektrum von Organisationen und
Gruppen hat offen ihre Unterstützung erklärt. Ob das nun die Aleviten, die Jesiden, verschiedene Parteien oder gesellschaftliche Gruppen im
In- und Ausland sind, die aktiv an
dem Bündnis mitarbeiten. In diesem
Sinne hat sich das Niveau seit der
Präsidentschaftwahl noch gesteigert,
und das sehen die Menschen. Insofern sind 14 Prozent realistisch.
SB: Herr Kaya, vielen Dank für dieses Gespräch.
Bericht über die Pressekonferenz der
Initiative zur Unterstützung der HDP
in Hamburg­Altona im Schattenblick
unter
www.schattenblick.de →
INFOPOOL → POLITIK →
REPORT:
MK: Ich persönlich wünsche mir natürlich eine zweistellige Zahl von BERICHT/191: Die andere Türkei deutlich mehr als 10 Prozent. Man das Schlimmste verhindern ... (SB)
geht von einem Ergebnis zwischen
http://www.schattenblick.de/
11 und 14 Prozent aus, was durchaus
infopool/politik/report/
Das Programm der HDP hat meines realistisch ist. Die Präsidentschaftsprin0252.html
Erachtens in der Türkei große Akzep- wahl stellte einen ersten Versuch dar,
Seite 4
www.schattenblick.de
Di, 28. April 2015
Elektronische Zeitung Schattenblick
POLITIK / AUSLAND / LATEINAMERIKA
El Salvador: Die Rückkehr der Todesschwadronen Kampfansage an Bandengewalt weckt böse Erinnerungen an Bürgerkriegszeiten
IPS­Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS­Tagesdienst vom 24. April 2015
von Edgardo Ayala
IPAZ hat führende Vertreter unterschiedlicher Glaubensrichtungen mit
dem Ziel zusammengebracht, eine
politische Lösung des Problems der
Bandengewalt in dem verarmten 6,3
Millionen Einwohner zählenden
Land zu erreichen.
Gefahr der Militarisierung
Beerdigung des Polizisten Justo
Germán Gil, der von Bandenmitglie­
dern am 10. Januar 2015 in der Stadt
San Juan Opico im Osten El Salva­
dors ermordet worden ist
Bild: © Vladimir Girón/IPS
San Salvador, 24. April (IPS) ­ In El
von 1980 bis 1992 etliche Massaker
an Zivilisten begangen haben. So
hatten Mitglieder der Atlacatl-Battalion 1981 in El Mozote, einer Ortschaft im nördlichen Departement
Morazán, mehr als 1.000 Menschen
abgeschlachtet.
Salvador hat die drastische Zunahme
von Banden- und staatlicher Gegengewalt ein Klima geschaffen, das an die
traumatischen Zeiten des zwölfjährigen Bürgerkrieges mit 75.000 Toten
und 8.000 Verschwundenen erinnert.
Derzeit diskutieren die Sicherheitskräfte und die von der Bandengewalt
betroffenen Bürger offen die Gründung solcher bewaffneter Gruppen
mit dem Ziel, die kriminellen Gangs
zu eliminieren.
Seit den jüngsten Anschlägen auf
Polizisten und Soldaten denkt die
Regierung darüber nach, den Ausnahmezustand über die von den
Gangs kontrollierten städtischen Gebiete zu verhängen. Außerdem hat
sie die Gründung von drei Sonderbataillonen angekündigt, die an die berüchtigten Todesschwadronen erinnern, die im bewaffneten Konflikt
Doch Félix Arévalo, der Koordinator
der ökumenischen Pastoralen Initiative für Frieden und Leben (IPAZ),
warnt vor den Folgen, die die Gründung paramilitärischer Verbände im
Stil der Todesschwadronen und die
Verhängung des Ausnahmezustands
nach sich ziehen. Sie seien eine Gefahr für den nach wie vor fragilen
Demokratieprozess, sagte er.
Di, 28. April 2015
www.schattenblick.de
Sollte das Parlament in der nächsten
Sitzungsperiode, die nach den Märzwahlen am 1. Mai beginnt, für den
Ausnahmezustand stimmen, steht es
der Regierung frei, grundlegende
Verfassungsrechte wie Versammlungs- und Bewegungsfreiheit einzuschränken. Gleichzeitig werden in
den Gebieten mit hohen Mordraten
Militärs abgestellt. Das letzte Mal,
dass in El Salvador der Ausnahezustand verhängt worden war, war
während der Guerilla-Offensive 'Hasta el Tope' ('Bis zum Limit') im November 1989 inmitten des Bürgerkrieges.
Derzeit wird das Land von einem
ehemaligen Guerilla-Kommandanten, Salvador Sánchez Cerén von der
linken Nationalen Befreiungsfront
Farabundo Martí (FMLN), geführt.
Die ehemalige Rebellenorganisation
wurde nach den Friedensabkommen
von 1992 in eine reguläre politische
Partei umgewandelt. Sie ist seit 2009
an der Macht.
Die Regierung führt die neue Welle
der Bandengewalt zum Teil auf die
Überstellung von 14 Anführern im
Februar in das HochsicherheitsgeSeite 5
Elektronische Zeitung Schattenblick
fängnis in der Stadt Zacatecoluca, 41 sie uns über den Weg laufen, werKilometer östlich der Hauptstadt San den wir sie töten", erklärte ein verSalvador, zurück.
mummter Polizeioffizier gegenüber
einem Fernsehsender. Im Netz zirVon der Überstellung betroffen wa- kulieren zudem Amateuraufnahmen
ren auch Bandenchefs der berüchtig- von Polizisten und Bürgern, die die
ten Gangs 'MS13' und 'Barrio 18', die Menschen auffordern, die 'mararerim März 2012 einen Waffenstillstand os' auf ähnliche Weise zu töten, wie
geschlossen hatten und damit einen die linken Dissidenten von den Todrastischen Rückgang der tödlichen desschwadronen während des BürGewaltverbrechen bewirkten.
gerkrieges umgebracht wurden.
Raúl Mijango, der am Zustandekommen der Feuerpause mitgewirkt hatte, erklärte gegenüber IPS, dass die
Entscheidung, die Bandenchefs zu
isolieren, zum Teil dafür verantwortlich sei, dass jüngere und fanatischere Gangmitglieder Gewalt zu einer
Art Lebensstil erhoben hätten. "Diesen jungen Männern geht es bestimmt nicht darum, den Konflikt zu
beenden", versicherte er.
Roberto Valent, lokaler Vertreter
des UN-Entwicklungsprogramms
(UNDP) führt die Zunahme der
Bandenübergriffe zum Teil auf die
staatlichen Versuche zurück, die
von den Maras dominierten städtischen Gebiete mit Hilfe einer stärkeren Polizeipräsenz zurückzugewinnen.
Valent ist technischer Koordinator
des Nationalen Rats für bürgerliche
Sicherheit und Koexistenz. Die
Einrichtung, die der salvadorianische Staatspräsident im September
2014 etabliert hatte, wurde mit dem
Mandat ausgestattet, Vorschläge zur
Bekämpfung der Kriminalität unter
Beteiligung verschiedener gesellschaftlicher Sektoren ausarbeiten.
Finanziert wird die Arbeit von internationalen Gebern.
Im März verbuchte das Land die
bisher höchste Mordrate der letzten
zehn Jahre. Nach Polizeiangaben
kam es zu 481 tödlichen Gewaltverbrechen - durchschnittlich 16 pro
Tag. Das war ein Anstieg von 56,2
Prozent gegenüber dem März 2014.
Sollte sich der Trend fortsetzen,
werden bis Ende des Jahres mehr
als 5.000 Morde begangen worden
sein. Das entspräche einer Mordrate von 86 pro 100.000 Einwohnern.
Der Waffenstillstand war im Mai Schon im letzten Jahr war sie mit 63 Kritik an Politik der harten Hand
2013 beendet worden, als sich der pro 100.000 extrem hoch gewesen.
damalige Staatspräsident Mauricio
Im Januar unterbreitete der Rat 124
Funes (2009-2014) von der FMLN El Salvador gehört zu den gewalttä- Vorschläge, die die Regierung umaufgrund eines Verfahrensfehlers ge- tigsten Ländern der Welt, warnt das setzen will, um die Welle der Verzwungen sah, seinen Justiz- und Si- UN-Büro für Drogen- und Verbre- brechen und Gewalt zu brechen.
cherheitsminister David Munguía zu chensbekämpfung (UNODC). Die Ein Teil der zwei Milliarden Dolentlassen, der bei den Waffenstill- durchschnittliche Mordrate für La- lar, die für die Umsetzung des
standsverhandlungen eine wichtige teinamerika beträgt 29 pro 100.000 Fünf-Jahres-Planes erforderlich
Rolle gespielt hatte.
Einwohner, während der globale sind, ist bereits verfügbar. VorgeseDurchschnittswert bei 6,2 liegt.
hen sind Bildungs-, GesundheitsBis zum 20. April hatten die Maras,
und Freizeitprogramme und
wie die Gangs in den zentralameri- Die treibenden Kräfte hinter dem 250.000 Arbeitsplätze für junge
kanischen Ländern genannt werden, Ruf nach Verhängung des Ausnah- Leute, die besonders gewaltanfälaußer zahlreicher Zivilisten 20 Poli- mezustands sind Abgeordnete der lig sind.
zisten, sechs Militärs, einen Staats- Großen Allianz der Nationalen Einanwalt und sechs Gefängniswärter heit, die elf der 84 Parlamentssitze Doch die Praxis zeigt, dass die Reermordet. Das Ausmaß der Gewalt in dem Einkammerparlament El gierung vor allem auf eine Politik
war nicht zuletzt eine Folge von Ein- Salvadors halten.
der harten Hand setzt, um die Gesätzen der Sicherheitskräfte, bei dewalt in dem zentralamerikanischen
nen Dutzende Gangmitglieder ums "Die Eskalation der Gewalt hätte Land einzudämmen. So kündete der
Leben kamen. Am 18. April tötete ei- durch Gespräche, an denen die Staatspräsident eine Strukturierung
ne Militärschwadron in Uluapa Arri- Gangs beteiligt worden wären, ver- und Stärkung der Polizei und die
ba in der Stadt Zacatecoluca neun hindert werden können", meinte Gründung weiterer Eliteeinheiten
Bandenmitglieder.
Arévalo. Doch die Idee war nach ei- zur Bekämpfung der Gangs an.
nem öffentlichen Aufschrei von fast
allen politischen Fraktionen abge- Arévalo hält ein Weniger an PoliAufruf zum Mord
lehnt worden. Im Januar machte die zeiaktionen und ein Mehr an PräRegierung von Sánchez Cerén jede vention und Wiedereingliederung
Einige Polizisten haben öffentlich Möglichkeit eines Dialogs mit den für die bessere Option. "Wir haben
erklärt, dass sie bereit seien, Gang- auf 60.000 Mitglieder geschätzten in ein Hornissennest gestochen. Die
mitglieder umzubringen. "Sollten Gangs zunichte.
Regierung hat einen Fehler beganSeite 6
www.schattenblick.de
Di, 28. April 2015
Elektronische Zeitung Schattenblick
gen. Es ist falsch, einen Plan zu verfolgen, bei dem es jeden Tag Tote
gibt."
(Ende/IPS/kb/2015)
BÜRGER UND GESELLSCHAFT / MEINUNGEN
Entwicklung: 'Peak Plutocracy' Die Grenze des Erträglichen ist erreicht
Links:
IPS­Inter Press Service Deutschland GmbH
http://www.ipsnoticias.net/2015/04/ambiente-belicistaIPS­Tagesdienst vom 24. April 2015
en-el-salvador-por-ola-de-violenciacriminal
ein Meinungsbeitrag von Soren Ambrose (*)
http://www.ipsnews.net/2015/04/talk-of-deathNairobi, 24. April (IPS) ­ Verzagte chen und öffentlichen Seilschaften
squads-to-combat-new-wave-ofEltern, die nicht in der Lage sind, ih- vorzugehen und die technischen Mitgang-violence-in-el-salvador/
ren Kindern den Besuch einer nahen tel, über die die großen Konzerne und
© IPS-Inter Press Service Deutsch- Privatschule zu ermöglichen. Fami- die reichsten Personen der Welt verlien, die keinen Zugang zu einer Ba- fügen, die immer stärkere Konzentraland GmbH
sisgesundheitsversorgung haben, tion von Reichtum selbst in den weltweil das Bergbauunternehmen, das größten Staaten und die weltweite
Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 24. April 2015 ihren Fluss verseucht hat, die Steu- Anhäufung von Ressourcen, Macht
ern einbehält, die der Staat so drin- und Verbindungen sorgen dafür, dass
gend für die medizinische Behand- wichtige demokratische Entscheihttp://www.schattenblick.de/
lung seiner Bürger braucht.
dungen unterlaufen werden und der
infopool/politik/ausland/
Raum für ein Leben schwindet, dem
pala1507.html
Frauen, die Nacht für Nacht nur vier die materialistischen Werte der PlutoStunden schlafen, weil sie fast rund kratie nichts anhaben können.
um die Uhr arbeiten müssen, um ihre Familien durchzubringen. Ge- Das zugrundeliegende Problem - die
meinschaften, die von ihrem Land Gier nach Geld, Macht und Kontrolvertrieben werden, um ausländischen le - ist unethisch und ungeeignet, ein
Unternehmen Platz zu machen. Ar- Umfeld zu schaffen, in dem sich Lebeiter, die so schlecht bezahlt wer- bewesen entwickeln können. Im beiden, dass sie unterernährt sind.
nahe gesamten Verlauf der GeIPS-Inter Press Service
schichte der Menschheit haben wir
Deutschland GmbH
Dies
sind
nur
einige
Fehlentwicklununausgeglichene politische und soKooperationspartner
gen,
wie
sie
mir
Kollegen
in
den
letzziale Systeme ertragen müssen.
von Schattenblick
ten Monaten geschildert haben. Wir
erleben, wie Menschen an der Macht Die heutige Marktwirtschaft hat
IPS-Inter Press Service Deutschder Plutokraten verzweifeln.
jahrhundertealte Wurzeln, doch sind
land GmbH berichtet seit 30 Jahren über die Belange der Mensie erst in diesem Jahrhundert so gischen in Afrika, Asien, LateinEine Plutokratie ist eine Gesellschaft gantisch geworden, dass sie prakamerika und Nahost. Schwerpunkt
oder ein System, das von einer klei- tisch die ganze Welt durchsetzen.
der Nachrichtenagentur sind Thenen, besonders reichen Minderheit
men der menschenwürdigen und
regiert und dominiert wird. Die Rei- Wir leben in einem Zeitalter des Hynachhaltigen Entwicklung, der
chen waren immer schon mächtig, perkapitalismus: Wir haben die InVölkerverständigung sowie der
und bis zu einem gewissen Grad hat dustrialisierung und Wertschöpinternationalen Zusammen-arbeit
es in allen Gesellschaften Plutokra- fungsmaxime so weit getrieben, dass
für eine 'faire Globalisierung'.
tie gegeben.
Financiers und die Finanzindustrie
unsere Gesetze schreiben und zum
IPS-Inter Press Service
Doch das Ausmaß der Kontrolle, die politisch mächtigsten Industriezweig
Deutschland GmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
die Plutokraten heutzutage ausüben, der Geschichte geworden sind.
Telefon: 030 / 54 81 45 31,
der Anteil der Superreichen, die sich
Fax: 030 / 54 82 26 25
politische Macht erkaufen, die fast Eine kurze Zeit relativer Gleichheit
E-Mail: [email protected]
unmögliche Hartnäckigkeit, die er- in den reicheren Ländern nach dem
Internet: www.ipsnews.de
forderlich ist, um gegen die rechtli- Zweiten Weltkrieg hatte Ende der
Di, 28. April 2015
www.schattenblick.de
Seite 7
Elektronische Zeitung Schattenblick
1970er Jahre einer einflussreichen
Ideologie des freien Wettbewerbs, des
unendlichen Wachstums und uneingeschränkten Profits das Feld überlassen. Diese Ideologie haben sich Institutionen zu Eigen gemacht, die von
Plutokraten finanziert werden.
Die Weigerung, hier Grenzen zu setzen, eine Überbetonung der Bedeutung von Wettbewerb und Profit und
die Kapitulation der Regierungen vor
der Macht des Geldes hat die moderne Plutokratie zu einer vorherrschenden Realität gemacht, die es dringend umzukehren gilt.
Ebenso zeigt sie sich in dem betrügerischen Einverständnis der Regierungen, Unternehmen zu erlauben,
die Kontrolle über Land und Ressourcen an sich zu reißen, um zu Lasten der lokalen Bevölkerung Profite für privilegierte Außenseiter zu
generieren.
ven Systemen zur Kontrolle der
Frau, ihres Körpers, ihrer sexuellen
und reproduktiven Rechte, ihrer Arbeit, ihrer Mobilität und ihrer politischen Stimme erkennen.
Sie zeigt sich ferner in der Privatisierung der Schulen zu Lasten eines ordentlichen öffentlichen Bildungssystems, obwohl der Nutzen der Privatschulen nicht erkennbar ist; in der
ungerechtfertigten Verachtung des
öffentlichen Sektors und der ständig
wiedergekauten Ansicht, dass es die
Privatwirtschaft ist, die entwicklungsfördernd wirkt.
Sie tritt in einem 'Race to the bottom'-Steuerwettbewerb zwischen
verschiedenen Staaten zutage, durch
den Unternehmen in den Genuss von
Steuerbefreiungen kommen, die als
Investitionsanreize beworben werden, obwohl der Nutzen nicht erkennbar oder unbedeutend ist [und
Es ist zur Routine geworden, dass zu Lasten lokaler Umwelt-, Arbeits- Dann offenbart sie sich in der 'FetiKommentatoren davon sprechen, wie und Sozialstandards geht].
schisierung' der ausländischen Didie Menschen "zur Wirtschaft beitrarektinvestitionen in Ländern mit
gen können". Die Wirtschaft dient Sie lässt sich an dem Versagen von niedrigen Einkommen, obwohl es
nicht der menschlichen Gesellschaft, Staaten ablesen, für Gesetze zu sor- bisher keinem Land gelungen ist,
die Menschen leben, um der Wirt- gen, die die lokalen Arbeitskräfte vor sich mit Hilfe ausländischen Kapitals
schaft zu dienen. 'Freiheit' wird heu- Rechtsverstößen wie Menschenhan- zu entwickeln. Beobachten lässt sie
te eher als Freiheit, unter vielen Kon- del, unzumutbaren Löhnen und ge- sich weiter in den zunehmend
sumgütern auszuwählen, verstanden fährlichen Arbeitsbedingungen deckungsgleichen Interessen von
und nicht als Möglichkeit, über das schützen, die etwa Frauen in prekä- Staaten, Konzernen und Eliten, die
eigene Leben zu bestimmen.
re, schlechtbezahlte und unmensch- Handlungsfreiheiten sozialer Beweliche Arbeitsverhältnisse zwingen. gungen und Gruppen, die im öffentVor einigen Jahren fand eine Debatlichen Interesse handeln, zu bete über das Konzept des 'Peak Oil' Auszumachen ist sie ferner am Ver- schneiden und den politischen Spielstatt - der Stunde null, in der wir an sagen, die systematischen Verstöße raum in allen Teilen der Welt einzudie Grenzen unser nutzbaren Erdöl- gegen die Frauenrechte in den unter- schränken.
reserven stoßen. Wir dürften uns schiedlichsten Bereichen zu untermittlerweile einem weitaus gefährli- binden. Insbesondere sind da die Sie tritt in der zunehmenden Domicheren Punkt nähern: der 'Peak Plu- nicht entlohnten Dienste zu nennen, nanz reicher Konzerne und Personen
tocracy', in der die Gesellschaft und die Frauen den Volkswirtschaften in den UN-Debatten und -Prozessen
die Umwelt eine weitere Konzentra- leisten, indem sie für wenig oder gar zutage, in einer unverfroren vorgetion von Macht und Reichtum nicht kein Geld ihre Familien und Gesell- brachten ideologischen Rechtfertimehr ertragen können.
schaften am Laufen halten.
gung von Ungleichheit und einer
drastischen Macht- und RessourcenEs ist beunruhigend, von Kollegen in Darüber hinaus tritt die Peak Pluto- konzentration in den Händen einaller Welt zu erfahren, wie sehr cracy als Druck auf Länder - und in flussreicher Persönlichkeiten und der
mächtige Menschen die Macht der jüngster Zeit in geheimen Abspra- Institutionen, die sie finanzieren.
anderen beschneiden. Diese Peak chen zwischen Regierungen und Un- Zudem werden die zunehmenden
Plutocracy hat viele Gesichter. Sie ternehmen - in Erscheinung, die die Katastrophen und Krisen als Gelezeigt sich in den erfolgreichen Bemü- Handelsregeln und die Verbraucher- genheit gesehen, Profit zu machen,
hungen von Unternehmen, bedeuten- rechte so verändern, dass ausländi- da es die Plutokraten sind, die die
de Klimaaktivitäten zu verhindern sche Konzerne die Märkte dominie- betroffenen Gebiete nach ihrem Gutund einer hochgradig pestizidlasti- ren können.
dünken wiederaufbauen.
gen, stark technisierten und die
Kleinbauern verdrängenden Land- Sie lässt sich an der Nötigung inklu- Die Peak Plutocracy drückt sich in
wirtschaft das Ruder zu überlassen, sive der Anwendung von Gewalt der Weigerung von Regierungen aus,
die ausgerechnet diejenigen, insbe- durch einflussreiche Eliten in Privat- der weltweiten Jugendarbeitslosigsondere Frauen, trifft, die den Groß- unternehmen, an fundamentalisti- keit mit staatlichen Beschäftigungsteil der Weltbevölkerung ernähren. schen Bewegungen und an repressi- programmen zu Leibe zu rücken und
Seite 8
www.schattenblick.de
Di, 28. April 2015
Elektronische Zeitung Schattenblick
dem hinlänglich bekannten NiederEUROPOOL / REDAKTION / PARTEIEN
gang der Infrastrukturen entgegenzuwirken. Sie manifestiert sich in der
Entscheidung von Regierungen,
Steht Großbritannien eine Verfassungskrise bevor?
Steuergelder für Kriege und für die
Rettung von Banken auszugeben,
Englische Tories ziehen gegen
nicht aber für die Bekämpfung von
die schottischen Nationalisten zu Felde
Arbeitslosigkeit, Hunger und Krankheiten und für die Förderung erneuBis zu den Wahlen zum 650sitzigen ihnen die britischen Liberaldemoerbarer Energien.
Unterhaus des Parlaments des Verei- kraten - bisher elf Sitze nördlich des
Die Hyperkonzentration von Reich- nigten Königreichs sind es nur noch Hadrianwalls - werden wie einst die
tum in den Händen von Wenigen hat zehn Tage. Zwei Dinge haben den verhaßten Tories zu Splitterparteien
sowohl in den reichen als auch in den bisherigen Wahlkampf dominiert und in Schottland.
armen Ländern die demokratischen werden die britischen Politiker auch
Systeme korrumpiert. Wir müssen nach dem Urnengang am 7. Mai be- Mehrere Faktoren beflügeln den akdie Macht wieder demokratisieren. schäftigen: erstens, die bereits jetzt tuellen Siegeszug der schottischen
Doch ist es nicht mit einer Verbesse- absehbare Tatsache, daß keine der Nationalisten. Nach der für die SNP
rung der Wahlbeobachtung getan. beiden großen Parteien, weder die re- im vergangenem September verloVielmehr muss Macht horizontal gierenden Konservativen um Pre- rengegangenen Volksbefragung über
umgestaltet werden, sie muss mehr mierminister David Cameron noch die Unabhängigkeit, hat die KoalitiMenschen erreichen, und zwar die- die oppositionelle, sozialdemokrati- onsregierung von Konservativen und
jenigen, die von den politischen Ent- sche Labour Party um Ed Milliband, Liberaldemokraten in London das
eine absolute Mehrheit erringen wird, Versprechen, Schottland bei einem
scheidungen berührt werden.
und zweitens der gewaltige Drang Verbleib in der Union mit England,
Es gibt keine einheitlichen Rezepte, Schottlands nach Unabhängigkeit. Wales und Nordirland noch weiterum diese Ziele zu erreichen. Die Ersterer Umstand dürfte sich durch gehende Autonomie einzuräumen,
Veränderungen müssen sich immer einen der üblichen parteipolitischen nicht eingelöst. Viele unentschlosseaufs Neue, Tag für Tag, überall und Deals bewältigen lassen, der zweite ne Schotten, die sich erst in letzter
flächendeckend vollziehen, damit jedoch birgt die Gefahr einer regel- Minute gegen die Unabhängigkeit
entschieden hatten, fühlen sich bewir nicht von den Reichen und rechten Verfassungskrise in sich.
trogen und wenden sich nun der SNP
Mächtigen überwuchert werden. Wir
müssen das verlorene Terrain zu- Laut allen demoskopischen Progno- zu. Des weiteren präsentieren sich
rückerobern und es dann Stück für sen, die sich seit Wochen kaum ver- die schottischen Nationalisten, angeändert haben, wird sich die Zahl der führt von ihrer jungen und dynamiStück ausweiten.
konservativen Abgeordneten im neu- schen Parteichefin Nicola Sturgeon,
(Ende/IPS/kb/2015)
en Parlament von derzeit 306 auf als die einzigen Kämpfer gegen Au(*) Soren Ambrose ist politischer rund 280 reduzieren. Dennoch wer- steritätspolitik und soziale KürzunLeiter bei ActionAid International. den die Tories damit immer noch vor gen und haben dadurch die SozialdeLabour, welche die Zahl ihrer Sitze mokraten in Schottland links übervon derzeit 258 aufrund 270 steigern holen und weit hinter sich zurücklasdürfte, die größte Fraktion stellen. sen können.
Link:
Drittstärkste Kraft wird aller Voraushttp://www.ipsnews.net/2015/04/opinion-has-the- sicht nach die Scottish National Par- Das Angebot der SNP, nach der Wahl
ty (SNP) sein, die seit 2011 allein im als Mehrheitsbeschafferin einer
world-reached-peak-plutocracy/
Regionalparlament in Edinburgh re- Minderheitsregierung Labour zur
© IPS-Inter Press Service Deutsch- giert. Man geht davon aus, daß die Macht zu verhelfen, hat die KonserSNP rund 50 der insgesamt 55 schot- vativen in Rage versetzt. Doch die
land GmbH
tischen Sitze im Londoner Unterhaus Bemühungen der Tories, die SNP
erobern wird. Größter Verlierer der quasi zur Partei der Staatsverräter
Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 24. April 2015 erdrutschartigen Veränderung der abzustempeln, feuert den Nationalispolitischen Landschaft wird die La- mus der Schotten nur noch mehr an.
bour Party sein, die von ihren bisher Aus Angst, englische Wechselwähhttp://www.schattenblick.de/
40 schottischen Sitzen nur eine ler an die Conservatives zu verlieren,
infopool/buerger/meinung/
Handvoll wird retten können. Die hat Milliband das Angebot Sturgeons
bmsp0098.html
britischen Sozialdemokraten und mit zur bedingten Zusammenarbeit ausDi, 28. April 2015
www.schattenblick.de
Seite 9
Elektronische Zeitung Schattenblick
geschlagen. Mit dieser Position hat
der Labour-Chef den eigenen linken
Flügel enttäuscht, dessen Anhänger
es gut fänden, wenn man sich aufdas
Angebot der SNP einließe und deren
Forderung, die britische TridentAtom-U-Boot-Flotte zu verschrotten
und den Betrieb in deren Heimathafen im schottischen Faslane einzustellen, erfüllte.
Der absolute Wille der Tories zum
Machterhalt hat sie dazu verleitet,
Pandoras Büchse des englischen Nationalismus aufzumachen. Um der
EU-kritischen, fremdenfeindlichen
United Kingdom Independence Party (UKIP) um den "Little Englander"
Nigel Farage den Wind aus den Segeln zu nehmen, hat Cameron für
2016 eine Volksbefragung über den
Verbleib des Vereinigten Königreichs
in der EU angekündigt. Darüber hinaus hat der Tory-Chef eine grundlegende Veränderung des parlamentarischen Geschäfts in Westminster in
Aussicht gestellt, wonach künftig nur
englische Abgeordnete über Angelegenheiten, die nur England betreffen,
abstimmen dürfen. Die britischen
Konservativen können sich einen
solchen Vorschlag nur leisten, weil
sie in Schottland praktisch keine Anhängerschaft mehr haben. Bei der
letzten Wahl 2010 gewannen sie dort
nur einen einzigen Sitz.
Den derzeitigen Prognosen und Berechnungen zufolge könnte eine Koalition aus Konservativen, Liberaldemokraten, deren Abgeordnetenzahl von derzeit 57 auf etwa 30 zusammenschrumpfen wird, und der
Democratic Unionist Party (DUP),
die ihre acht Sitze in Nordirland verteidigen dürfte, Cameron eine zweite Amtszeit als Premierminister bescheren. Doch zwischen den potentiellen Koalitionspartnern gibt es
derzeit Krach. Nigel Dodds, DUPFraktionsführer in Westminster, hat
Camerons Tories bezichtigt, mit ihrer hysterischen Kampagne gegen
die SNP "nationalistische Paranoia"
der englischen Art entfacht und
durch den Vorschlag, das Stimmrecht
Seite 10
der schottischen Abgeordneten einSCHACH - SPHINX
zuschränken, die Union zwischen
den Einzelteilen des Königreichs geRenaissance oder Fraktur?
schädigt zu haben.
Durch einen Mini-Skandal der unappetitlicheren Sorte hat sich die DUP
in den Augen der LibDems um Nick
Clegg desavouiert. Am 27. April sah
sich Jim Wells von der DUP gezwungen, von seinem Posten als Gesundheitsminister in der nordirischen
Provinzregierung zurückzutreten.
Vier Tage zuvor war er bei einer
Wahlkampfdiskussion im nordirischen Fernsehen durch homophobe
Bemerkungen, wofür er sich später
entschuldigte, recht negativ aufgefallen. Nur zwei Tage später, am 25.
April, geriet er, als er in der Kleinstadt Downpatrick Wahlkampf für
die DUP machte, mit einem lesbischen Paar in einen heftigen Meinungstreit über das Für und Wider
der gleichgeschlechtlichen Ehe. Die
beiden Frauen, die eine erwachsene
Tochter haben, erstatteten anschließend bei der Polizei Anzeige wegen
schwer beleidigender Äußerungen
des Volksvertreters.
Nach Ansicht des Vorsitzenden der
Libdems, Clegg, hat die Affäre um
Wells gezeigt, daß die einst von Ian
Paisley gegründete DUP nach wie
vor ein Sammelbecken reaktionärer,
protestantisch-fundamentalistischer
Hinterwäldler ist. Inwieweit DUPChef Peter Robinsons öffentlich geäußertes Verständnis für die ungeschickten Gebärden des Parteikollegen Wells die zu erwartenden Koalitionsverhandlungen in London erschwert, muß sich noch zeigen. Doch
selbst wenn sich Cameron, Clegg
und Robinson zu einem Modus vivendi zusammenraufen sollten, wird
die im Wahlkampf deutlich sichtbar
gewordene, zunehmende Entfremdung zwischen England und Schottland die Innenpolitik Großbritanniens maßgeblich bestimmen.
http://www.schattenblick.de/
infopool/europool/redakt/
prtn­296.html
www.schattenblick.de
R.G. Collingwood ist mit Sicherheit kein Kulturpessimist im engeren Sinne, geschweige denn blind
für die Fakten, und partout will er
nicht glauben, was sich Schönredner
und Historiker mit Scheuklappen gern
alles zusammenreimen über den Unwert des Mittelalters. Ein Wasserklosett macht schließlich noch keinen
Evolutionssprung aus. Aber hören wir
ihn selbst: "Im ersten Licht jenes Tagesanbruchs, als Kunst, Religion und
Philosophie, gekräftigt durch ihre
lange mittelalterliche Tradition intimer gegenseitiger Beziehungen, sich
verselbständigten und plötzlich Wunder zu wirken begannen, möchte man
es den Menschen nachsehen, daß sie
glaubten, das Geheimnis ihres Erfolges läge in ihrer Verselbständigung.
Aber das Gegenteil wurde bald offenbar. Jeder einzelne Wissenszweig
neigte mehr und mehr dazu, seine Anhänger in eine Art Wüste zu führen,
wo die Welt menschlichen Lebens
aufhörte und jedes Motiv zum Vorwärtsschreiten verlorenging. Jeder
einzelne Zweig tendierte dahin, zu einer spezialisierten Beschäftigung zu
werden, der Spezialisten um des Beifalls anderer Spezialisten willen
nachgingen, die aber für die übrige
Menschheit nutzlos und sogar für den
Spezialisten unbefriedigend war,
wenn er sich selbst fragte, warum er
ihr nachginge. Dies ist der Punkt, an
dem wir heute angelangt sind." Im
Schachspiel wird das Spezialistentum
nicht minder hochgehalten als Schild
gegen die Dümmlichkeit der sogenannten Schachraubritter von früher.
Wieviel ist dran an diesem Vergleich
und Waffengang? Die Verstorbenen
können sich natürlich nicht mehr mit
Wort und Tat wehren, und die Demontage selbst großer Schachlichter
wie Paul Morphy kommt immer mehr
in Mode. Schachtalent besaß er wohl,
sagen die Historiennörgler, aber seine
Umwelt spielte auch schwach und
war kaum geübt in moderner Schach(SB) ­
Di, 28. April 2015
Elektronische Zeitung Schattenblick
strategie! Wie bewertet Collingwood
diesen Streitpunkt, gemessen an allgemeineren Maßstäben: "Im Mittelalter war der Künstler vielleicht kein
großer Künstler, der Philosoph war
nach unseren Maßstäben nur mäßig
philosophisch und der Fromme war
nicht übertrieben fromm, aber sie alle
waren Menschen, mit ungeteiltem
Herzen und sicherer Lebensauffassung. Heutzutage können wir uns so
künstlerisch, so philosophisch, so religiös gebärden, wie wir wollen, aber
wir verstehen einfach nicht mehr,
Mensch zu sein. Wir sind menschliche
Bruchstücke und Wracks und wissen
nicht, wie wir das Leben in den Griff
bekommen und wie wir es anfangen
sollen, das Glück zu finden, das wir
nach eigenem Wissen nicht besitzen."
Glücklich, wer mit den schwarzen
Steinen eine solche Angriffsstellung
im heutigen Rätsel der Sphinx aufbauen konnte. Der englische Großmeister Miles fühlte sich daher in der
Tat wie ein Renaissancemensch, und
er hatte Grund dazu. Ob sein rumänischer Kontrahent Lupu die Schottische Partie nun mittelalterlich behandelt hatte oder nicht, nach dem zu erwartenden schwarzen Zug 1...Sb4xd5
hoffte er, sich mit der Rochade aus
dem Schlimmsten retten zu können.
Ob ihm dies gelang, Wanderer?
Lupu Miles
Amsterdam
1994
Auflösung letztes Sphinx­Rätsel:
Auch ohne Computerbeistand fand
Meister Polajzer den siegreichen Zug
1...Tb5xb2! Wegen akuter Grundreihenschwäche gab Meister Mihalcisin umgehend auf, denn 2.Td2xb2
scheiterte an der Mattverstopfung
2...Td4- d1+ und 2.Kh1-g1 verlor
prompt wegen 2...Tb2xd2.
http://www.schattenblick.de/
infopool/schach/schach/
sph05457.html
Di, 28. April 2015
KUNST / REPORT / INTERVIEW
Aus dem Dunkel der Geschichte Tabubruch, Vision und Beispiel ...
Franziska Schnoor im Gespräch
Ausgrenzung und Diskriminierung sichtbar machen
Interview am 18. März 2015 in Hamburg
Die Dramaturgin Franziska
Schnoor gehört dem Zentralrat der
Asozialen in Deutschland (ZAID)
an. Nach der feierlichen Inauguration des ZAID auf Kampnagel in
Hamburg berichtete sie dem Schattenblick über ihre Beweggründe, auf
künstlerische Weise Kritik an den
herrschenden Verhältnissen zu üben.
(SB) ­
daher habe ich mich viel mit dem
Nationalsozialismus beschäftigt. An
dieses Projekt bin ich aber tatsächlich erst durch Tucké Royale gekommen, der mir das Konzept zugeschickt hatte. Freilich muß ich gestehen, daß ich mich vorher nicht wirklich mit der Verfolgung von sogenannten Asozialen auseinandergesetzt hatte. In der Schule oder verwandten Kontexten ist das nie thematisiert worden, was ich im nachhinein ziemlich skandalös finde.
Ich kann mich jedoch mit dem Thema identifizieren oder fühle mich aus
verschiedenen Gründen zugehörig,
zum einen, weil ich mit dem Prekariat und den Problemen, die Geld und
Besitz oder vielmehr Nichtbesitz in
unserer Gesellschaft mit sich bringen, sehr vertraut bin. In unserem
Team hat jeder irgendeine Biographie
in Form von Arbeitslosigkeit und
großen Geldnöten. Ich will das gar
nicht so leidend thematisieren, aber
man fragt sich schon, in was für eiFranziska Schnoor
ner Gesellschaft man eigentlich lebt,
Foto: © 2015 by Schattenblick
wenn einen systematisch das Gefühl
Schattenblick (SB): Frau Schnoor, beschleicht, verschweigen zu müswie sind Sie als jüngerer Mensch, sen, wo man selber gestrauchelt ist.
den keine biographischen Wurzeln
mit dem Thema sogenannter Asozia- Es gibt aber auch eine persönliche
lität im NS-Staat verbinden, zu dem Verbindung zu dem Thema. Wir sind
ein queeres Team. Auch wenn lesbiProjekt gekommen?
sche Frauen nicht unter dem rosa
Franziska Schnoor (FS): Ich persön- Winkel per se verfolgt wurden, stanlich habe es immer so wahrgenom- den sie in Einzelfällen unter dem
men, daß ich per Geburt eine Verbin- schwarzen Winkel, was ihr Leben,
dung zu dieser Geschichte habe, ein- um es einmal vorsichtig zu sagen,
fach dadurch, daß ich in Deutschland systematisch erschwert hat. Wenn
lebe und meine Großeltern im Drit- man selber in einem solchen Lebensten Reich aufgewachsen sind. Von entwurf steckt, hat man durchaus
www.schattenblick.de
Seite 11
Elektronische Zeitung Schattenblick
einen persönlichen Bezug zu dem nicht nur mit meiner Arbeit zu tun.
Thema.
Das Problem ist vielmehr, daß Arbeit
gesamtgesellschaftlich verlangt wird
SB: Sie begreifen sich als Gruppe und daß ich, wenn ich zum Jobcenvon Menschen mit einem gemeinsa- ter gehe, bereit sein muß, mich für
men Projekt, das für Sie wie auch für eine Zeitarbeitsfirma zur Verfügung
die anderen Gruppenmitglieder zu stellen. So kann es geschehen, daß
wahrscheinlich mehr als nur ein vor- ich ab morgen kellnern gehen muß.
übergehender Job ist, zumal es mit Das hat nichts mit einer Hierarchigroßer Ernsthaftigkeit von Ihnen be- sierung zu tun. Ich habe absolut kein
trieben wird. Verbinden Sie mit dem Problem mit dem Kellnern, ich arProjekt auch ein politisches Anlie- beite selbst in einer Bar. Es geht dargen?
um, daß diese Gesellschaft in ihrer
neoliberalen Gestaltung eine komFS: Die ganze Situation ist für mich plette Entidentifizierung von einem
äußerst ambivalent, weil ich mich ei- fordert, aber es gleichzeitig üblich
nerseits mit Nicht-Arbeit solidarisie- ist, jemanden, den man gerade kenre und andererseits damit beschäfti- nengelernt hat, nach seinem Beruf zu
ge, wie Leute behandelt werden, die fragen. Und sofort macht man sich
nicht arbeiten können oder wollen. ein Bild über diesen Menschen, was
Natürlich definiere ich mich irgend- ich schrecklich finde. Natürlich kann
wie auch über meine Arbeit, ich ar- man in diesem Zusammenhang auch
beite gerne und finde meine Arbeit darüber sprechen, inwieweit künstlegut und freue mich, im Moment rische Berufe neoliberale Strukturen
überhaupt eine zu haben. Bei einer befördern oder in sich tragen oder ob
künstlerischen Arbeit kann man die neoliberale Arbeitsform vielnicht einfach sagen, das ist ein Job, leicht künstlerische Selbstausbeuder am Sonntag vorbei ist. Natürlich tung für sich instrumentalisiert.
bekomme ich keinen Mindestlohn,
zumindest habe ich den Stundenlohn SB: Wenn Sie sich mit dem Projekt
niemals ausgerechnet. Ich arbeite an nicht nur auf die NS-Zeit und daraus
diesem Projekt, weil es ein Herzen- resultierende Entschädigungsfordesprojekt ist, von dem man aber auf rungen beziehen, sondern den histoDauer sicherlich nicht leben kann. rischen Brückenschlag zwischen gestern und heute mit künstlerischen
SB: Sie arbeiten als Künstlerin und Ausdrucksmitteln anstreben, beweDramaturgin an einem Projekt, das gen Sie sich in einem größeren polizumindest hier auf Kampnagel kul- tischen Kontext, der bereits von Arturgefördert ist. Der Begriff "Krea- beitsloseninitiativen,
Hartz-IVtivwirtschaft" ist für jeden Künstler, Gruppen oder linken Organisationen
der mit seiner Arbeit mehr erreichen beackert wird. Welche konkrete Abwill, als nur Geld zu verdienen, ein sicht verfolgen Sie mit dem Projekt?
Reizwort, weil er im Grunde die Abhängigkeit seiner Tätigkeit von öko- FS: In dem künstlerischen Projekt
nomischen Zwecken zum Ausdruck bzw. Pre-Enactment sehen wir die
bringt. Der Stachel des Widerspruchs Chance, neue gesellschaftliche Kontritt immer dann zutage, wenn sich texte herzustellen. Daß es ab heute
der Mensch über seine bezahlte Ar- einen Zentralrat gibt, bedeutet, daß
beit definiert. Wie gehen Sie mit die- uns jeder ab heute seine Probleme
sem Problem um?
mitteilen kann. Ich glaube, daß
Kunst in dem Moment die Kraft hat,
FS: Das Problem ist nicht, daß ich die Gesellschaft zu verändern oder
mich zum Teil über meine Arbeit de- zumindest über Reizwörter und in eifiniere, denn ich definiere mich na- nem gewissen Sinne auch Provokatürlich wie jeder andere Mensch auf tionen Sachen anzustoßen. Es geht
sehr unterschiedliche Weise. Das hat zu keinem Zeitpunkt darum, irgend
Seite 12
www.schattenblick.de
etwas zu relativieren, zu banalisieren
oder zu instrumentalisieren, sondern
schon darum, mit den Mitteln der
Kunst Menschen aufzurütteln. In den
letzten Tagen haben mich viele Leute aufden Button mit dem schwarzen
Winkel angesprochen. Ich habe ihnen dann erklärt, welche Bewandtnis
es damit hat. Die häufigste Reaktion
war: "Das wußte ich ja gar nicht, aber
was habe ich jetzt damit zu tun?" Genau das ist für mich die Brücke in die
Gegenwart. Wir haben alle mit Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit,
mit Refugees - man könnte die Reihe fast endlos ausdehnen - zu tun.
Das sind gesellschaftliche Herausforderungen der Gegenwart und der
nächsten Zukunft, die wir lösen
müssen. Die Krisen betreffen Griechenland, Frankreich wahrscheinlich, und irgendwann sind wir dran.
SB: Die Darstellung des Projekts
fand in einem öffentlichen Rahmen
statt und glich in gewisser Weise einer Inszenierung. Sie haben mit dem
schwarzen Winkel ein sehr starkes
Symbol genommen, was sich erstaunlicherweise bisher keine deutsche Arbeitslosen- und Erwerbsloseninitiative getraut hat, möglicherweise, weil sie den NS-Vergleich gescheut haben, der ihnen zur Last gelegt werden könnte. Wie bewerten
Sie insgesamt den ästhetischen Umgang mit derart prekären gesellschaftlichen Themen, nicht nur bezogen auf die Vergangenheit, sondern auch auf die heutige Realität
von Erwerbslosen, um Aufmerksamkeit zu erregen, vielleicht sogar etwas in Bewegung zu setzen?
FS: Die Kunst hat den Vorteil, daß
sie sich Sachen erlauben kann, die
man sich im Feld ernsthafter Politik
nicht erlauben könnte. Im besten Fall
würde man uns unterschätzen, und
dann könnten wir zeigen, wieviel dahintersteckt. Das Inszenatorische ist
natürlich auch ein Spiel mit einer bestimmten Macht von Bildern, wie es
ganz klassisch auch in der Politik gemacht wird. Zur Zeit dreht hier eine
Regisseurin einen Film über dieses
Di, 28. April 2015
Elektronische Zeitung Schattenblick
Projekt. Sie inszeniert uns genauso,
wie wir uns die ganze Zeit selber inszenieren, um gute Bilder zu bekommen. Es ist so, wie wenn Amtsträger
ein Band durchschneiden oder sich
Politiker bei einem Gipfeltreffen die
Hand geben. Diese Bilder sind immer gestellt, damit sie veröffentlicht
werden. Dennoch glaube ich wirklich an die Macht von Bildern.
SB: Der Begriff der Subversion wird
manchmal auch in der Kunst verwendet, um etwas unterschwellig anzustoßen, was auf der plakativen
Ebene möglicherweise verkannt
würde. Hat das Projekt in diesem
Sinne auch einen subversiven Ansatz?
FS: Ja, auf eine gewisse Art schon,
aber nicht nur subversiv, sondern
auch ein bißchen auf die Zwölf. Es
geht auch darum, einen gewissen
Knall zu inszenieren.
SB: Dazu bedienen Sie sich auch der
Medien. Wäre es für Sie eine akzeptable Option, wenn sich die Tagesschau bei Ihnen melden würde?
FS: Ja. In dem Moment geht es erst
einmal darum, Inhalte, die man
wichtig findet, zu verbreiten und
nach außen zu tragen, so daß sie
möglichst viele Leute mitbekommen. Um das zu erreichen, muß man
auch eine gewisse Öffentlichkeitswirksamkeit an den Tag legen. Aber
es gibt Grenzen für mich, so würde
ich niemals mit der Bildzeitung reden.
Tucké Royale, Franziska Schnoor
und Daniel Cremer
Foto: © 2015 by Schattenblick
Anmerkung:
Vom 30. April bis zum 2. Mai ist der
ZAiD im Gorki Studio und an anderen Orten in Berlin aktiv:
sen auseinandersetzen. Ich würde http://zentralrat-der-asozialen.de/
aber nicht von einer Repolitisierung
sprechen, weil ich nie anders gelebt Beiträge zum Zentralrat der Asozia­
habe oder je ein anderes Selbstver- len in Deutschland im Schattenblick
ständnis hatte. Das gilt auch für unter www.schattenblick.de →
meinen Freundeskreis. Wenn wir INFOPOOL → KUNST → REPORT:
Demokratie ernst nehmen, dann BERICHT/044: Aus dem Dunkel der
möchte ich daran glauben, daß ich Geschichte - und viele am Rande ... (SB)
Anteil daran habe, diese Gesell- INTERVIEW/030: Aus dem Dunkel
schaft mitzugestalten. Ein solcher der Geschichte - nach vorne voran ...
Blick auf die Gesellschaft wäre mir Tucké Royale im Gespräch (SB)
wichtig.
INTERVIEW/031: Aus dem Dunkel
der Geschichte - Werkzeug der SoliSB: Frau Schnoor, vielen Dank für darität ...
das Gespräch.
Daniel Cremer im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/kunst/report/kuri0032.html
UMWELT / REDAKTION / GENTECHNIK
SB: Haben Sie den Eindruck, daß es
in den Künsten und kunstschaffenEU-Kommission spielt Konzernen in die Hände
den Berufen noch einmal zu einer
Renaissance oder Repolitisierung für
Opt­out­Regelung ­ ein Danaer­Geschenk
Fragen der Arbeitsgesellschaft, des
Prekariats und der herrschenden Ver- GVO­Novelle der EU­Kommission richtet sich nicht gegen die
hältnisse kommen wird?
USA, sondern gegen die europäische Anti­Gentechnikbewegung
FS: Ja, mein Freundeskreis besteht (SB) ­ Die EU-Kommission hat das schriften vorgelegt. Herausgekomaus linken queer-feministischen Zulassungsverfahren für genetisch men ist ein Danaer-Geschenk an die
Menschen, die sich alle in irgendei- veränderte Organismen (GVO) in Mitgliedstaaten. Ihnen sollen mehr
ner Form mit Ausgrenzung, Preka- Lebens- und Futtermitteln überprüft Möglichkeiten eingeräumt werden,
risierung und Herrschaftsverhältnis- und eine Novelle der Rechtsvor- "die Verwendung von auf EU-Ebene
Di, 28. April 2015
www.schattenblick.de
Seite 13
Elektronische Zeitung Schattenblick
zugelassenen GVO in Lebens- und motivierte Handelsbarriere der EuFuttermitteln in ihrem Hoheitsge- ropäer empfundene Beschränkung
biet zu beschränken oder zu unter- von GVO aufzuheben.
sagen". [1]
Nachdem also die EU-Kommission
Der Vorschlag könnte jedoch dazu am 22. April ihren Legislativvorverleiten, daß demnächst GVO-Zu- schlag präsentiert hat, der anschlielassungsanträge nahezu wider- ßend an das Europäische Parlament
spruchslos durchgewunken werden, und den Rat weitergeht, äußerte
weil der einzelne Mitgliedstaat die sich zwei Tage darauf im Anschluß
Möglichkeit des "Opt-outs" sowohl an die neunte Verhandlungsrunde
bereits für den Anbau von GVO- des TTIP US-Chefunterhändler
Pflanzen als auch - nach der jetzt vor- Dan Mullaney in New York dazu.
gelegten Novelle - für GVO-Futter- Man sei von dem EU-Kommissiund -Lebensmittel hat. Opt-out be- onsvorschlag, demzufolge die eindeutet, daß ein Mitgliedstaat die Zu- zelnen Mitgliedstaaten die Einfuhr
lassung von GVO auf seinem Terri- von Biotechprodukten verbieten
torium untersagen kann - wenn er das können, "bitter enttäuscht". Es sei
gut zu begründen weiß.
schwer, den Vorschlag einerseits
mit den bestehenden internationaIndem die EU-Kommission ausge- len Verpflichtungen der EU, anderechnet an dieser Stelle auf das rerseits mit ihrem Wunsch nach eiSubsidiaritätsprinzip zurückgreift nem einheitlichen Binnenmarkt in
und keine EU-weit einheitliche Re- Übereinstimmung zu bringen. [2]
gelung für die Zulassung von GVO
festlegt, spielt sie der Gentech- Sicherlich hätten sich die USA ein
Lobby in die Hände. Denn eigent- weitergehendes Entgegenkommen
lich sind die EU-Bürgerinnen und seitens der EU gewünscht. Aber
-Bürger mehrheitlich gegen GVO, Mullaney wäre niemals Washingwas theoretisch dazu hätte führen tons Chefunterhändler für TTIP gekönnen, daß sich alle anderen der worden, wenn er nicht das DanaerMehrheitsmeinung anschließen geschenk der EU-Kommission an
müssen. Eine Überprüfung des Zu- die Gentechnikkritiker erkannt hätlassungsverfahrens hätte somit te. Indem er den Legislativvorauch zu einem generellen GVO- schlag undiplomatisch heftig kritiVerbot führen können.
siert, gibt er den "bösen Bullen",
gegenüber dem sich die EU-KomDamit war natürlich nicht zu rech- mission mit ihrem vermeintlich
nen. Bekanntlich befürwortet die "guten" Vorschlag profilieren kann.
EU-Kommission die grüne Gen- Dem widerspricht nicht, daß die
technik und beruft sich dabei auf USA eine uneingeschränkte Freigadie Expertise der als wirtschafts- be von GVO anstreben. Doch wenn
freundlich geltenden Europäischen Mullaneys Aussage dazu beiträgt,
Lebensmittelsicherheitsbehörde von einigen "Sonderbarkeiten" der
(EFSA - European Food Safety Au- Opt-out-Regelung abzulenken, hätthority), wohingegen im EU-Rat te sie ihre Funktion erfüllt.
bislang keine Mehrheit für die
GVO-Zulassung zusammenkam Denn die Möglichkeiten der EU(und auch nicht dagegen). Mit Mitgliedstaaten, die Verwendung
Blick auf die Verhandlungen mit von GVO zu verbieten, werden draden USA über das Freihandelsab- stisch eingeschränkt. So heißt es in
kommen TTIP (Transatlantic Trade der Pressemitteilung der EU-Komand Investment Partnership) wächst mission zum Opt-out:
der Druck auf die Europäische Union, die von der US-Regierung so- "Die Mitgliedstaaten müssen dabei
wieso als bloße wirtschaftspolitisch belegen, dass ihre Opt-out-MaßSeite 14
www.schattenblick.de
nahmen mit dem EU-Recht, einschließlich der Grundsätze des
Binnenmarkts, und mit den internationalen Verpflichtungen der EU
(unter anderem den WTO-Regeln)
vereinbar sind. Opt-outs müssen
auf legitimen Gründen beruhen, die
nicht mit denen identisch sein dürfen, die bereits auf EU-Ebene bewertet wurden, also Risiken für die
Gesundheit von Mensch oder Tier
oder für die Umwelt." [1]
Wenn ein Mitgliedstaat die "Risiken für die Gesundheit von Mensch
oder Tier oder für die Umwelt" anders bewertet als die EU-Administration, darf er damit nicht das
Opt-out begründen. Das ist eine bemerkenswerte Regelung, wenn man
bedenkt, daß im Laufe der letzten
Jahre innerhalb des EU-Rats über
die Bewertung der Gefährlichkeit
von GVO Dissens bestand. Jetzt auf
einmal wird der Knoten zugunsten
der GVO-Befürworter gelöst. Die
Fachminister im EU-Rat könnten in
Zukunft aber um so eher geneigt
sein, einen GVO-Zulassungsantrag
abzunicken, wenn sie noch die Optout-Regelung in der Hinterhand
wissen. Wenn diese dann aus rechtlichen Gründen nicht durchkommt,
kann ein Ratsmitglied gegenüber
der eigenen, gentechnik-kritischen
Bevölkerung den Standpunkt vertreten, man habe alles versucht,
aber es habe nicht geklappt, weil
die Brüsseler Betonköpfe das Sagen haben ...
Im Anschluß an Mullaneys Kritik
auf der Pressekonferenz in New
York versicherte EU-Verhandlungsführer Ignacio Garcia Bercero, daß alle Maßnahmen, die von
einem EU-Mitgliedstaat ergriffen
werden, auf einer "nicht-diskriminierenden" Grundlage beruhen
müßten. "In keiner Weise" unterminiere der Vorschlag der EU-Kommission "unsere Verhandlungen mit
den Vereinigten Staaten". Wenn es
zutrifft, was Bercero hier sagt, dann
ist das ein weitgehendes Entgegenkommen, denn die USA betrachten
Di, 28. April 2015
Elektronische Zeitung Schattenblick
jedes Gentech-Verbot als "Diskriminierung".
UMWELT / REPORT / INTERVIEW
Fazit: Die EU-Kommission hört
Trümmertief - der Griff daneben ...
auf ihre erfahrungsgemäß wirtDr. Werner Zittel im Gespräch
schaftsnahe EFSA und erteilt
GVO grünes Licht; die gentechFracking versus Klimaziele
nik-ablehnenden Mitgliedstaaten
werden auf die Zuschauerbank ab- Vorstellung der neuen Studie "Fracking ­ eine Zwischenbilanz"
geschoben. Der zukünftige
von Dr. Werner Zittel im Auftrag der Energy Watch Group
Flickenteppich an GVO-Bestimam 19. März 2015 in Berlin
mungen innerhalb der EU dürfte
sich allein schon aufgrund der
Dr. Werner Zittel dazu, warum ein Paradigmenwechsel
enormen Schwierigkeiten, eine
unseres energetischen Weltbildes unabdingbar ist.
Trennung aufrechtzuerhalten, tendenziell in Richtung Zulassung
der umstrittenen Technologie auf- Seit mehr als fünf Jahren warnt Dr. sen mit dem Thema Fracking in den
Werner Zittel in Studien und Vorträ- USA und Deutschland auseinanderlösen.
gen vor einem noch ungelösten Wi- gesetzt. Seine jüngste Studie
Am Freitag hat die EU-Kommis- derspruch unserer Gesellschaft: Das "Fracking - eine Zwischenbilanz"
sion zum Abschluß eines zehnjäh- für das Wirtschaftswachstum not- stellte die Energy Watch Group am
rigen Genehmigungsprozesses 19 wendige "Weiter so wie bisher" führt 19. März 2015 in Berlin vor. [1] Im
GVO-Produkte zugelassen. Elf geradewegs in den Klimakollaps, der Anschluß an die Pressekonferenz im
davon stammen vom US-Konzern nur durch gewaltige Emissionsein- Hotel Albrechtshof ergab sich das
Monsanto, zu den weiteren An- sparungen noch zu verhindern wäre. folgende Gespräch.
tragstellen gehören DuPont, Bayer Dr. Zittel ist Vorstand der Ludwigund BASF. [3] Wenn das kein Bölkow Stiftung, studierte Physik an
Dammbruch für GVO-Produkte der Ludwig-Maximilians-Universität in München und promovierte an
ist ...
der Technischen Universität Darmstadt. Er war Mitbegründer der Friedensinitiative "Garchinger NaturAnmerkungen:
wissenschaftler" und von 1987 bis
[1] http://europa.eu/rapid/press-re- 1989 in der Forschung am Institut für
Thermodynamik der DFVLR (heute
lease_IP-15-4777_de.htm
DLR) in Stuttgart sowie dem Fraun[2] https://ustr.gov/about-us/policy- hofer Institut für Festkörpertechnooffices/press-office/speechestrans- logie tätig. Seit 1989 arbeitet er bei
cripts/2015/april/opening-remarks- der Ludwig-Bölkow-Systemtechnik
GmbH (LBST) in Ottous-and-eu-chief
brunn/Deutschland, einem Beratungsunternehmen für Energie und
[3] http://www.seeddaily.com/reUmwelt, mit den Schwerpunkten:
ports/US_says_new_EU_plan_Umweltaspekte der Energieversorfor_GMO_imports_is_no_solugung, energiewirtschaftliche Grundtion_999.html
satzfragen und die Analyse von Dr. Werner Zittel
Energieversorgungssystemen. Dar- Foto: © 2015 by Schattenblick
http://www.schattenblick.de/
über hinaus sitzt er im Vorstand der
infopool/umwelt/redakt/
Association for the Study ofPeak Oil Schattenblick (SB): Ottmar Edenhoumge­302.html
and Gas (ASPO) in Deutschland.
fer, Co-Vorsitzender der Arbeitsgruppe III des Weltklimarates (IPSeit mehreren Jahren widmet sich CC), faßte in einem Symposium zu
der Ressourcenexperte der Energy Hartmut Graßls Geburtstag die zum
Watch Group, insbesondere der Zu- Einhalten der 2-Grad Grenze notkunft fossiler Energieträger, und hat wendigsten Maßnahmen wie folgt
sich in mehreren gründlichen Analy- zusammen: 80 Prozent der KohlereDi, 28. April 2015
www.schattenblick.de
Seite 15
Elektronische Zeitung Schattenblick
serven, 40 Prozent an Gas und 40
Prozent Öl müssen im Boden bleiben, damit sie gar nicht erst zu Kohlenstoffdioxid verbrannt werden und
den Treibhauseffekt weiter anheizen.
Warum macht man sich dann eigentlich noch Gedanken darüber, wie
sinnvoll es ist, den letzten Rest dieser fossilen Energieträger mit ungeheurem, ebenfalls energiekostenden
Aufwand aus der Erde zu holen?
hängigkeit, zum anderen verschiebt
man den Zeitpunkt und verkürzt den
Zeitraum zum eigentlichen Handeln.
Und wenn die Menge an Klimagasen
in der Atmosphäre in einer immer
kürzer werdenden Frist reduziert
werden muß, wird es wesentlich
komplizierter. Das heißt, je länger
man dieses Spiel treibt, umso schwerer wird es, und das kann sich dann
als durchaus katastrophal erweisen.
Dr. Werner Zittel (WZ): Das ist eine
berechtigte Frage, denn wir haben
schon jetzt viel zu viel Kohlenstoffdioxid in der Luft. Hartmut Graßl ist
dafür die beste Referenz. Viel wichtiger ist mir, was ich bereits in meinem Vortrag vorhin andeutete: Wir
haben uns mit unserer Politik dazu
bekannt, daß wir bis zum Jahr 2050
von mindestens 80 bis 95 Prozent der
Emissionen gegenüber 1990 reduzieren wollen, innerhalb von 35 Jahren. Das ist nicht viel Zeit. Deshalb
sollten wir, wenn wir uns darüber
klar sind, daß wir CO2 einsparen
müssen, zu dieser Entscheidung stehen und vernünftigerweise neue Investitionen dafür verwenden und
nicht - jetzt sag ich's mal bösartig einer sterbenden Industrie Geld in
den Rachen schmeißen, damit sie ein
paar Jahre länger lebt. Das ist kontraproduktiv und leider zeigen historische Beispiele, daß das Kliff, das
wir zu bewältigen haben, immer steiler werden wird, wenn sich die
Menschheit so benimmt.
SB: Könnte man sagen, die Bundesregierung gefährdet ihre Klimaziele? SB: Erdölunternehmen aus Kanada
und den Vereinigten Staaten haben
WZ: Ja. Sie nimmt sie nicht ernst.
sich bereits in verschiedenen Ländern von der Förderung der unkonSB: Wäre Wasserstoffaus Ihrer Sicht ventionellen Lagerstätten zurückgeeine Alternative?
zogen, weil der Ölpreis drastisch abgesunken ist. Ist langfristig mit eiWZ: Ja und nein. Er ist kein alternati- nem erneuten Anstieg des Ölpreises
ver Brennstoff, weil Wasserstoffkein zu rechnen?
Primärenergieträger ist. Bei der Energiewende geht es darum, Primärener- WZ: Da fragen Sie mich nach Kafgie erneuerbar zu machen. Und Was- feesatzlesen, ich will es mal anders
serstoff hat für sich allein keinen Wert, formulieren: Der Preis generell hat
sondern nur im Kontext einer um- die Funktion, Angebot und Nachfrastrukturierten Energieversorgungsge- ge in Einklang zu bringen. Wenn alsellschaft, in welcher der Anteil der so die Nachfrage da ist, aber die BeVersorgung durch Erneuerbare sehr reitstellung und Förderung nicht
hoch ist und in der wir es mit einer vorhanden sind, dann geht natürlich
Umkehr unseres energiewirtschaftli- der Preis hoch. Wenn aber umgechen Weltbildes zu tun haben. In der kehrt, wie in den letzten Jahren bei
Vergangenheit hatten wir als 'Base- Erdgas der Fall, die Förderung in
load' [Grundlast] immer fossile Ener- Europa zurückgeht und gleichzeitig
gieträger. Die haben wir irgendwo ge- auch der Verbrauch, dann entsteht
lagert und wenn Energiebedarf da war, keine Notwendigkeit dafür, daß der
schürte man das Kraftwerk an und Preis ansteigt. Es kann also auch
produzierte auf diese Weise Strom mit sein, daß die Ölförderung geologisch
relativ kleinen Fluktuationen.
bedingt zurückgeht und trotzdem der
Preis niedrig bleibt. Das macht den
Im "Erneuerbaren"-Weltbild ist es Öl- und Gasfirmen auch große Angst
genau umgekehrt. Da sind wir von und deshalb wehren sie sich so gedem Angebot an Sonne und Wind ab- gen wissenschaftliche Erkenntnisse
hängig. Wenn etwas da ist, müssen über "Peak Oil" und den Rückgang
wir das ernten, unabhängig von der der Ressourcen. Denn wenn ihnen
potentiellen Nachfrage. Schlauer- die Kunden aufgrund dieser Inforweise sollte man die Nachfrage er- mationen schneller wegbleiben als
stens an die neuen Gegebenheiten notwendig, wäre das natürlich aus
anpassen, was durchaus möglich wä- ihrer Sicht der "GAU".
re. Und zweitens sollte man eine den
Bedarf übersteigende größere Ener- SB: Gäbe es denn Voraussetzungen,
gieernte natürlich speichern, bis man unter denen sich Fracking dann
sie braucht. Genau da hat Wasser- überhaupt noch lohnen könnte?
stoff dann eine Funktion als Spei- Würde es eventuell wieder rentabel
chermedium.
werden?
Die ursprüngliche Intention der Enquete-Kommissionen war, eine klare Strategie zu der Frage zu entwickeln: Wie können wir die Wende
von den fossilen Energieträgern zu
erneuerbarer Energiegewinnung
schaffen? Wie könnte so ein Umbau
aussehen? An solche Pläne müßte
man sich dann allerdings halten und
nicht jedes Jahr erneut sagen: 'Jetzt
verschieben wir das alles noch ein
bißchen. Erst muß es der Wirtschaft
gut gehen, damit sie ausreichend
Geld hat, um dann auch mal so etwas
zu machen ...' Damit begibt man sich
zum einen in eine noch größere AbSeite 16
www.schattenblick.de
Das heißt, im Gesamtkontext der
Umstrukturierung macht Wasserstoff
sehr wohl Sinn und erlaubt insbesondere eine Kopplung mit dem Verkehrssektor. Das ist aus Sicht der
Naturwissenschaftler natürlich sehr
attraktiv, zumal die begrenzte Ressource Erdöl hier immer mehr zum
Problem werden wird. Brennstoffzellen-Antriebe könnten in diesem
Sektor in Zukunft eine größere Gesamteffizienz erzielen.
Di, 28. April 2015
Elektronische Zeitung Schattenblick
WZ: Wenn die Anleger hoffen, daß
der Preis hoch genug steigt, ja. Das
ist genau in den letzten Jahren in
Amerika passiert. Durch die Spekulation der Anleger, die Geld in
Fracking-Projekte investiert haben.
Andere spekulieren mit Gold oder
sogar mit "Google". Man gibt Geld
und hofft, damit in zehn Jahren dicke
Gewinne einzufahren.
versuche, in welchen wissenschaftlichen Publikationen bereits etwas
zum Thema nachgewiesen worden
ist, ob die US Umweltbehörde EPA
oder entsprechende Homepages davon berichtet haben, um bestimmte
Zusammenhänge - ein Großteil meiner Studie befaßt sich mit den Umweltauswirkungen - nochmal zu verdeutlichen.
giegeschäft vergleichen: Schweine
sind regenerativ, die wachsen immer
wieder nach, Gasfelder aber nicht.
Die werden kleiner. Übertragen auf
die Schweinezucht würde das bedeuten, daß man im nächsten Zyklus
kleinere Schweine hätte, die mehr
fressen, die somit mehr kosten, so
daß sich der Erfolg der ersten Phase
nicht wiederholen läßt.
Sie stellt genaugenommen eine
schwerpunktmäßige Zusammenfassung unter der Fragestellung dar:
Was waren die bisherigen Erfolge
der unkonventionellen Förderung
WZ: Natürlich, aber massiv würde und welche Probleme waren damit
ich diese noch nicht nennen. Die Erd- verbunden?
ölbranche ist in Hinblick auf die Anzahl der Arbeitsplätze gar nicht mal Die Anzahl von drei Jahren war keiso groß und vom Anteil der Eigener- ne exakte Prognose. Sie basiert allerzeugung ebenfalls nicht. Aber sie hat dings nicht nur auf meinen eigenen
eine lange Tradition und ist eng mit Analysen, sondern auch auf Berechden entsprechenden Kreisen verbun- nungen von J. David Hughes oder
den. Das müssen sich die Erneuerba- Arthur E. Berman. [2] Das sind proren erst erkämpfen. Natürlich ma- minente amerikanische Kritiker der
chen die teilweise mit schwächeren Branche, welche die einzelnen FelKräften bereits Lobbyarbeit und sind der mit großer Sachkenntnis danach
durchaus schon stärker geworden. abgeklopft haben, wie weitläufig die
Das sind keine Anfänger mehr.
sogenannten "Sweet Spots", die besonders ertragreichen Gebiete innerDie wichtigsten Phasen mit den er- halb der Shale-Formationen, sind,
sten Windenergieprojekten und der wie groß insgesamt die Bohrdichte
Einspeisevergütung hat man etwa ist und wie viel man davon noch erum das Jahr 2000 hinter sich gelas- warten kann. Entsprechende Hochsen. Das heißt, man kann nur die rechnungen können somit ein bißnächsten Schritte des Umbaus verzö- chen daneben liegen oder durch Zugern, aber die Entwicklung nicht fall vielleicht auch stimmen. Aber sie
mehr aufhalten.
laufen alle mehr oder weniger auf
drei Jahre hinaus.
SB: 2013 haben Sie eine Studie herausgegeben, in der Sie dem Erdöl- Vielleicht war die Prognose 'bis 2017
boom in Amerika nur noch drei Jah- geht das gut' aus heutiger Sicht ein
re gegeben haben. Unterscheidet sich bißchen vorsichtig, aber ich würde
Ihre aktuelle Studie von den damali- noch immer dazu stehen. Der Zugen Berechnungen und wieso konn- sammenbruch der Energiepreise beten sich die US-Erdölexperten derart schleunigt den Verfall der Branche,
verrechnen?
weil neue Investitionen künftig fehlen werden.
WZ: Nein, verrechnet hat man sich
nicht (lacht). Die wissen schon, was Sicher werden hierzu manche wieder
sie machen. Zu Ihrer Frage: Die heu- das Argument von den Schweinezytige Studie unterscheidet sich von klen [3] in die Diskussion einbrinder alten dadurch, daß ich hier keine gen, damit weiteres Geld investiert
Szenarien entwerfe, sondern zu- wird. Doch läßt sich diese Wirtnächst möglichst genau zu belegen schaftstheorie nicht mit dem Ener-
SB: Bei früheren Studien wurde immer kritisiert, daß bei der Debatte um
die Zukunftsfähigkeit der erneuerbaren Energien der gern erwähnte kumulierte Energieaufwand für die Berechnung des Erntefaktors [4] nicht
weit genug greift.
SB: Gibt es nicht auch, abgesehen
von den Erdölinteressen, eine ganz
massive Lobby der regenerativen
Energien?
Di, 28. April 2015
www.schattenblick.de
WZ: Der Erntefaktor ist nur ein Detailaspekt, aber ein wichtiger. Wenn
Sie Energie mit Hilfe der Sonne erzeugen, ist der Erntefaktor in der Regel größer als eins, das heißt, es wird
zweifellos mehr Energie gewonnen
als reingesteckt. Das ist übrigens bei
keinem fossilen Energieträger der
Fall. Dort ist der Erntefaktor immer
negativ, weil Sie immer mehr Energie investieren müssen, als Sie hinterher rausbekommen, da es sich um
eine begrenzte Ressource handelt.
Bei den Erneuerbaren wird die Effizienz deshalb wichtig, weil es natürlich auch um die spezifischen Kosten
und um den Flächenertrag geht. Damit wird berechnet, wie viel Verlust
an Landschaft in Kauf genommen
werden muß, um den entsprechenden
Ertrag zu erhalten. Insofern spielt der
Erntefaktor hier für den Vergleich
einzelner Technologien eine Rolle.
Es macht allerdings wenig Sinn,
Fossile mit Erneuerbaren auf dieser
Basis zu vergleichen.
SB: Was geht beim Fracking an aufgewendeter Energie in den Erntefaktor ein? Wo zieht man die Grenze?
Sie erwähnten bereits die erforderliche Infrastruktur, die Baumaßnahmen für ein solches Vorhaben oder
auch die Anzahl der Lastwagenfuhren, die das nötige Material heranschaffen für einen Fracking-Vorgang. Die Lastwagen müssen aber
Seite 17
Elektronische Zeitung Schattenblick
auch gebaut werden, die Rohstoffe wa 90 Tonnen Stahl und noch einmal
dafür gewonnen werden - wo hört das Zwei-bis Dreifache an Zement
man auf, den erforderlichen Energie- und Beton im Boden zurückgelassen.
aufwand mit einzubeziehen?
SB: Weiß man, wie sich das auf die
WZ: In der Regel gehen Lastwagen Bodenumwelt auswirkt? Gibt es damit in die Rechnung ein. Nicht der für spezielle UmweltverträglichEnergiewert, der beim Produzieren keitsprüfungen?
der Lkws entsteht, aber der Energiewert des ganzen Materials, das durch WZ: Nein, etwas in der Art gibt es
sie herangeschafft wird wie Geräte, dazu nicht. Auch keine UntersuchunGestänge, Rohre und sonstige Ver- gen dazu, ob die alten Bohrungen
brauchsmaterialien, wird mit einbe- überhaupt noch dicht sind. Letzteres
rechnet. Auch der Energieverbrauch ist einer der Verdachtsmomente in
der Lastwagen ist in der Regel noch den USA. Dort soll es über eine MilBestandteil dieser Kalkulation. Aber lion alte, vergessene Bohrungen geSie können die Grenze nie exakt zie- ben, deren genaue Standorte unbehen, weil - und das ist das Problem - kannt sind. An diesen Stellen könnSie es immer mit Koppelproduktio- ten durch eventuelle Undichtigkeiten
nen und -nutzungen zu tun haben und Schadstoffe in den Boden austreten.
deshalb mit der Frage, welcher An- Das ist ein äußerst kritischer Faktor,
teil des Energieaufwandes diesem der bislang an keiner Stelle überprüft
Produkt oder dieser Nutzung zuge- wurde.
schlagen wird. Nehmen wir ein Beispiel aus dem Bergbau, wenn Kupfer Deep Water Horizon ist ein Mustermit Silber, Zinn oder Zink vergesell- beispiel dafür, daß oft auch schlamschaftet vorkommt, welchem Ele- pig gearbeitet wird. Da wurde gement lasten Sie den durch die Förde- pfuscht, weil man zu schnell bauen
rung entstandenen Energieaufwand wollte und hatte es dann mit Luftblajetzt an? Üblicherweise wird es dem sen und dergleichen zu tun. Im Lauf
ökonomischen Wert entsprechend der Zeit verschiebt sich das Erdreich,
aufgeteilt. Eine weitere Möglichkeit der Zement altert, wird mürbe und
wäre anteilig zum Ertrag: Wenn bei- zerbröselt möglicherweise. Das
spielsweise eine Tonne Erz einige heißt, man hat keine Garantie dafür,
Prozent an Kupfer ergibt, aber nur daß diese alten Bohrungen da drauwenige Promille Gold, dann würde ßen noch dicht sind. Man sollte beder aufgewendete Energiebetrag im reits bei der Planung über Jahrzehngleichen Verhältnis aufgeteilt.. Das te hinaus weiter denken, nicht bloß
läßt sich nicht scharf trennen. Aus über die nächsten Jahre.
gutem Grund strebt man in der Chemie solche Koppelproduktionen an, SB: Das heißt, um feststellen zu könum eine möglichst gute Gesamtener- nen, ob eine alte Bohrung undicht ist,
gie- und Kostenbilanz zu erreichen. müßte man eine neue Bohrung ansetzen und dann Bodenproben nehmen,
SB: Noch einmal zurück zum das Grundwasser analysieren oder
Fracking, wo bleibt eigentlich die etwas in der Art?
komplette Ausrüstung, wenn das
Bohrloch aufgegeben wird?
WZ: Ja oder noch mal die alte Bohrung aufmachen und dann mit einem
WZ: Im Boden.
sogenannten Cement-Bond-Log
(CBL) die Qualität und Konsistenz
SB: ... also auch die Rohre, die in den der Zementierung mit Ultraschall
Boden gerammt wurden?
überprüfen, der durch die ganze Hülle dringen kann. Das ist eigentlich
WZ: In der Bakken-Formation in Pflicht bei jeder Bohrung, aber erst
Norddakota werden pro Bohrung et- nach dem abgeschlossenen BohrvorSeite 18
www.schattenblick.de
gang. Nach einer Hydraulischen
Fraktionierung müßte man das allerdings unbedingt machen, denn dabei
entsteht ein gewaltiger Druck ...
SB: ... den das Material halten muß.
Das heißt aber doch, nach dem
Fracking läßt sich nur überprüfen,
wie weit der Schaden reicht, der bereits angerichtet worden ist. Davor
wird nicht geprüft, ob ein potentieller Schaden vorausgesehen werden
kann?
WZ: Genau so wird es gemacht.
SB: Gibt es denn im Verlauf der
Bohrung auch keine Verpflichtung
zu einem breit angelegten "Monitoring", also einer den Prozeß begleitenden laufenden Kontrolle?
WZ: Nein, nicht im notwendigen
Umfang.
SB: Oder gibt es vergleichende Beobachtungen von Erschließungsgebieten oder Fracking-Feldern, meinetwegen in den USA, wo man so etwas schon gemacht hat und Daten
existieren, aus denen sich der Schaden im Vorfeld abschätzen ließe?
WZ: Manchmal schon. Allerdings
hat man bereits im Vorfeld mit einem
besonderen Kunstgriff beim "Energy
Policy Act" dafür gesorgt, daß sämtliche Erdgas- und Erdölunternehmen
vom "Save Drinking Water Act"
[Trinkwasserschutzgesetz] ausgenommen wurden. Damit wurde der
Umweltbehörde jedwede Rechtfertigung genommen, ein Monitoring
durchzuführen, für das sie ein bestimmtes Budget benötigt, das mit
dem Haushaltsplan genehmigt werden muß.
Erst als dann später entsprechende
Proteste kamen und Henry Arnold
Waxman, einer der Oppositionsführer und einer der Engagiertesten in
dieser Sache, sehr viel Druck gemacht hat, wurde von der Umweltbehörde verlangt, etwas zu unternehmen. Die versprach dann 2010, eine
Di, 28. April 2015
Elektronische Zeitung Schattenblick
neue Studie zu erstellen, die 2013
veröffentlicht werden sollte. Grundlage sollten zahlreiche Proben und
eine gründliche Beobachtung der
verschiedenen Bohrsonden sein. Sie
ist bis heute noch nicht erschienen.
Solche Umweltuntersuchungen werden in den USA gewöhnlich von der
Industrie stark torpediert. Es gibt
dort eine ganz enge Verbindung zwischen Regierung und Erdöl-Industrie, aber einige Daten gibt es, das
ist erstmal richtig.
WZ: In den USA schwankt die Radioaktivität in den verschiedenen Lagerstätten stark. Ob sie im Barnett
Shale hoch ist, kann ich nicht sagen,
doch im Jahr 2006/2007 machte dort
eine Firma von sich reden, weil sie
allein vier Tonnen radioaktiven Müll
entsorgen mußte. Diese Menge hatte
sie angemeldet. Allerdings war es die
einzige von 67 Firmen im Barnett
Shale, die das getan hat. Da muß man
sich doch fragen, haben die anderen
wirklich keinen radioaktiven Müll
gehabt? Oder was haben die mit dem
ganzen Zeug eigentlich gemacht?
Das Marcellus Feld im US-Bundesstaat New York ist sogar für eine extrem hohe Radioaktivität bekannt ...
[5]
In dem deutschen Gesetzentwurf ist
ein solches Monitoring bereits enthalten. Fraglich ist derzeit noch, wie
umfangreich es werden soll. Will
man es bei jeder Bohrung oder nur
beim Fracken von Shalegas durchführen? Da gibt es noch viel zu tun. SB: Das Verpressen von Lagerstättenwasser in Versenkbohrungen ist
SB: Ein Thema in Ihrem Bericht sind zwar umstritten, aber derzeit noch
die sogenannten NORM-Teilchen, immer erlaubt, das Verpressen von
also die in tiefen Gesteinschichten Flowback und Fracking-Fluiden so
natürlich vorkommenden radioakti- nicht. Wie kann man das eigentlich
ven Elemente, die mit dem Lager- unterscheiden?
stättenwasser und Flowback zusammen ausgespült werden. Weiß man WZ: Das kann man nicht. Beides
von den deutschen Aufsuchungsge- vermischt sich natürlich, weil es zubieten her, inwiefern dort radioakti- sammen herauskommt. Man kann
ve Substanzen vorkommen? Das versuchen, die schädlichen chemikann ja durchaus von Lagerstätte zu schen Substanzen abzutrennen und
Lagerstätte verschieden sein. Wird das sollte eigentlich auch passieren.
das in Deutschland überprüft?
Dem Gesetz nach müßte man es zumindest überprüfen, aber ich denke,
WZ: Generell hat man überall mit damit wären die Behörden überforRadioaktivität zu tun. In der Erde dert.
kommen bestimmte Konstellationen
von Uran im Gestein vor und Uran SB: Also besteht grundsätzlich die
zersetzt sich, wobei seine radioakti- Gefahr, daß mit dem Lagerstättenven Zerfallsprodukte, Radon und wasser, das man versenkt, auch raRadium, entstehen. Wie stark sie im dioaktive Stoffe legal verpreßt werBoden vertreten sind, hängt von den den?
geologischen Verhältnissen ab. Für
Deutschland kann ich dazu keine WZ: Genau. Wesentlicher ist aber
konkrete Aussage machen, die Ra- die sogenannte Konkurrenznutzung.
dioaktivität ist hier vergleichsweise Das heißt, bei Versenkbohrungen
gering.
läßt sich der Boden nicht mehr anderweitig nutzen, da er zu viele
SB: Radon kommt in Deutschland Schadstoffe [6] enthält. Darüber hinvor allem im Schwarzwald, im Baye- aus kann der Druck beim Verpressen
rischen Wald, im Fichtelgebirge und oder Injizieren von LagerstättenwasErzgebirge natürlich vor. Dort gibt es ser seismische Aktivitäten auslösen,
teilweise schon Aufsuchungsgebiete. je nachdem wie die Vorspannung in
der Gegend ist. Letzteres ist eigentDi, 28. April 2015
www.schattenblick.de
lich schon seit über 20 Jahren in der
Branche bekannt und auch von den
Regierungsbehörden akzeptiert.
SB: Inwiefern akzeptiert?
WZ: Im Staat Arkansas hat beispielsweise die seismische Aktivität,
das heißt, die Erdbebenhäufigkeit
über die letzten 20, 30 Jahre um etwa den Faktor 100 zugenommen und
das korreliert schon ein bißchen mit
der Aktivität der Bohrungen. Es wird
aber nichts dagegen unternommen.
SB: Wieso wird das Fracking von
Tight Gas in dem neuen FrackingGesetzentwurf anders gewertet, als
das Fracken von Schiefergas? Auch
hier werden Flüssigkeiten in den
Erdgrund gepreßt und auch hier lassen sich fast überall Risse an Häusern nachweisen, wenn solche Aktivitäten stattgefunden haben. Ebenso
besteht ein Risiko von seismischen
Veränderungen. Woher leitet man die
Toleranz dafür ab?
WZ: Im Prinzip ist es das gleiche,
aber die Quantität ist eine andere.
Die Menge an Fluiden, die dabei
verpreßt werden müssen, ist um eine
Größenordnung geringer und ebenso
der Druck. Angesichts potentieller
Schädigungen und möglicher Begleitstoffe ist es eigentlich genau das
gleiche. Man hat nur lange Zeit gar
nicht über Tight Gas gesprochen. Es
wurde einfach gefrackt und hinterher
sagt man dann, 'was regt ihr euch eigentlich auf, das haben wir doch
schon immer gemacht.'
SB: So kann man es auch sehen.
WZ: De facto ist es so. Sie haben nie
ein homogenes Feld über 100 Quadratkilometern, sondern sie haben
ein konventionelles Feld. Das zeichnet sich durch hohe Fließfähigkeit
aus. Wenn sie dort irgendwo eine
Bohrung einbringen, dann strömt das
Gas oder Öl dorthin, beziehungsweise es drückt dorthin. Darüber hinaus
gibt es aber auch dichtere Bereiche.
Da lagert das Gas oder Öl in den PoSeite 19
Elektronische Zeitung Schattenblick
ren des Gesteins. Und um daran zu
kommen, muß man am Anfang gar
nicht viel nachhelfen. Aber je dichter das Gestein wird und je näher
man diesem Bereich kommt, umso
größer wird der Aufwand, die darin
enthaltenen Energieträger freizusetzen. Schiefergas ist dann noch mal
um Größenordnungen dichter, was
für das Fracking eine ganz neue Dimension ergibt.
chen Raum, die energiewirtschaftliche Umstrukturierung, mitzufinanzieren. Und vor kurzem wurden dort
Kohlekraftwerke aus Klimaschutzgründen verboten. Das wären deutliche Signale der Regierung, wenn
man die eigene Politik ernst nimmt.
BERICHT/097: Trümmertief - Wirtschaftswetten, Fehlerketten ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0097.html
Deshalb sollte die Politik hier ein
eindeutiges Signal setzten. Sie hat
Klimaschutzziele und die soll sie gefälligst verfolgen.
WZ: Genau, die Politik sollte das
große Ganze im Auge behalten und
mit ihrem Geld nicht etwas aufrecht
erhalten, das sich schon lange als
schlecht erwiesen hat.
Drilling Deeper, David Hughes, Post
Carbon Institut, 27. Oktober 2014,
siehe
http://www.postcarbon.org/publications/drillingdeeper/
Frankreich hat damit kein Problem.
Es hat zwar Schwierigkeiten gegeben, aber dort darf nicht mehr gefrackt werden. Es geht also. Als in
den Siebzigern der Ölpreis hoch war
und dann zusammenbrach, hat die
Regierung in Dänemark beispielsweise einfach den Ölpreis gehalten,
um die Diversifizierung im ländli-
SB: Herr Zittel, haben Sie herzlichen [3] Schweinezyklus ist ein in der
Dank für das ausführliche Gespräch. Wirtschaftswissenschaft verbreiteter
Begriff, der ursprünglich aus der
Agrarwissenschaft stammt und eine
Anmerkungen:
periodische Schwankung auf der
Angebotsseite bezeichnet, wie sie
[1] Einen weiteren Bericht sowie ein exemplarisch ursprünglich auf dem
Interview zu dieser Veranstaltung Markt für Schweinefleisch von Arfinden Sie hier:
thur Hanau in seiner Dissertation
SB: Wenn ein weniger dichtes Gestein, Sandstein oder Tight Gestein,
leichter zu fracken ist, dann heißt das
doch auch, daß es leichter nachgibt
und sich leichter durch den aufgewendeten Druck bewegen läßt. Müßte dann nicht der Schaden entsprechend sein?
WZ: Das ist schon richtig, ja. Die
Dichtigkeit ist nicht so hoch und der
Aufwand entsprechend geringer.
Aber wie gesagt, von der Sache ist es
genau der gleiche Vorgang, nur mit
anderen Mengen.
SB: Was erhoffen Sie sich von Ihrer
Studie?
WZ: Die Risiken der Technologie
sind bekannt. Man kann natürlich
viel Aufwand treiben, um zu versuchen, sie möglichst klein zu halten.
Das macht man bestenfalls bei der
ersten Probebohrung. Wenn es dann
aber kommerziell werden soll, wird
in der Regel alles darangesetzt möglichst schnell, möglichst viel und
möglichst billig zu produzieren.
Seite 20
INTERVIEW/176: Trümmertief Widerstand auf gutem Grund ..., Andy Gheorghiu im Gespräch (SB)
SB: Wie sollte denn eine ernst ge- http://www.schattenblick.de/infomeinte staatliche Intervention ausse- pool/umwelt/report/umri0176.html
hen? Hierzulande herrscht doch eher
eine neoliberale oder wirtschaftliche [2] Arthur E. Berman,
Orientierung in der Politik vor ...
http://www.resilience.org/author-detail/1150928-arthur-e-berman
WZ: Für mich ist das schönste Beispiel eigentlich die Autoindustrie mit Die Studie verweist auf das Interihren Klimaschutzzielen. Wie hat sie view: Why Today's Shale Era Is The
sich dagegen gewehrt, Autos zu pro- Retirement Party For Oil Production,
duzieren, die nur noch 95 Gramm Adam Taggart, 7.2.2015, siehe
Kohlenstoffdioxid pro Kilometer http://www.peakprosperiausstoßen. Doch selbst wenn sich das ty.com/podcast/91722/arthur-berdurchsetzt, hat man überhaupt nichts man-why-todays-shale-eraretiregewonnen, denn die Autoindustrie ment-party-oil-production
will ihre Verkaufszahlen steigern.
J.David Hughes
Das heißt, die Politik müßte neben http://www.postcarbon.org/our-peoden Grenzwerten auch ein Mengen- ple/david-hughes/
ziel festlegen. Es dürften also nur eine begrenzte Anzahl von Fahrzeugen die Studie verweist auf zwei seiner
auf den Markt, die gemäß dem heu- Bücher:
tigen Fahrverhalten eine entspre- http://www.postcarchend geringe Menge CO2 emittie- bon.org/books_and_reports/
ren. Darauf wird sich die Industrie
nie einlassen, weil das gegen ihr Drill, Baby, Drill: Can UnconventioGrundverständnis geht. Und das nal Fuels Usher in a New Era of
müßte sich ändern, das Grundver- Energy Abundance? David Hughes,
ständnis!
Post Carbon Institut, 19. Februar
2013, siehe
SB: ... von einem Erneuerbaren- http://www.postcarbon.org/publicaWeltbild?
tions/drill-baby-drill/
www.schattenblick.de
Di, 28. April 2015
Elektronische Zeitung Schattenblick
über Schweinepreise 1927 dargestellt wurde: Bei hohen Marktpreisen kommt es zu verstärkten Investitionen, die sich wegen der Aufzuchtzeit erst mit einem Verzögerungseffekt ("Time Lag") auf das
Angebot auswirken, dann aber zu
einem Überangebot und Preisverfall führen. Infolgedessen kommt es
zur Reduzierung der Produktion,
die sich ebenfalls erst zeitverzögert
auswirkt - und dann wiederum zu
einem relativen Überschuß der
Nachfrage (Angebotslücke) und
dadurch steigenden Preisen führt.
Ebenso könnten sich auch bei der
Förderung von Rohstoffen wie etwa
Erdöl Märkte nach dem Schweinezyklus verhalten.
[4] Der Erntefaktor (englisch Energy Returned on Energy Invested,
ERoEI, manchmal auch EROI) ist
eine Kennziffer für die Effizienz eines Kraftwerks oder die Ausbeutung von Energiequellen. Der Erntefaktor beschreibt das Verhältnis
der genutzten Energie zur investierten Energie. Unklar ist hier oft, welche Voraussetzungen in diesen "kumulierten Energieaufwand" einberechnet werden.
[5] http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/redakt/umre-173.html
[6] Je nach Förderstelle und Gesteinsbeschaffenheit können in diesem Lagerstättenwasser neben stark
salzhaltigen Lösungen, Kohlenwasserstoffen wie Benzol, Toluol, Ethylbenzol und Xylol (kurz BTEX) auch
andere Stoffe wie Quecksilber, Blei
oder natürliche, schwach radioaktive
Stoffe, sogenannte NORM-Teilchen,
enthalten sein.
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0141.html
http://www.schattenblick.de/
infopool/umwelt/report/
umri0178.html
Di, 28. April 2015
UMWELT / INTERNATIONALES / PROTEST
Brasilien: Widerstand gegen geplanten
Mega-Hafenkomplex in Bahia
IPS­Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS­Tagesdienst vom 27. April 2015
von Fabiola Ortiz
Die Stadt Ilhéus im nordostbrasilia­
nischen Bundesstaat Bahia
Bild: © 'Instituto Nossa Ilhéus'
Rio de Janeiro, 27. April (IPS) ­ Mit
Protesten und Gerichtsverfahren ziehen Umweltschützer und Anrainer
derzeit gegen den geplanten Bau eines fast 50 Quadratkilometer großen
Hafenterminals im nordostbrasilianischen Bundesstaat Bahia zu Felde.
'Porto Sul' soll zu Kosten von 2,2
Milliarden US-Dollar in Aratiguá am
Stadtrand von Ilhéus gebaut werden.
In der Nähe verläuft die so genannte
Kakaoküste mit ihren langen Traumstränden. Die Bewohner der Region
leben seit jeher vom Tourismus und
von der Kakaoproduktion.
Die Gerichte haben bereits vier Vorsorgemaßnahmen angeordnet. Doch
Gegner aus den Reihen der Zivilgesellschaft sind fest entschlossen, mit
www.schattenblick.de
allen zur Verfügung stehenden
Rechtsmitteln den Mega-Hafen aufzuhalten.
Der Porto-Sul-Komplex wird mit öffentlichen Mitteln aus einem staatlichen Programn zur Beschleunigung
des Wirtschaftswachstums finanziert. Der Bau des Tiefseehafens und
des Terminals soll in Spitzenzeiten
etwa 2.500 Jobs in der wirtschaftlich
schwachen Region schaffen.
Umweltfolgen von ungekanntem
Ausmaß erwartet
Anwohner und Sozialverbände leisten jedoch entschiedenen Widerstand, weil sie ökologische Auswirkungen von einem bislang beispiellosen Ausmaß befürchten. Kritiker
nennen das Projekt in Anspielung auf
einen riesigen Staudamm, der am
Xingú-Fluss im nordbrasilianischen
Seite 21
Elektronische Zeitung Schattenblick
Amazonasstaat Pará entsteht, 'Belo
Monte von Bahia'. Das Kraftwerk
soll nach seiner Fertigstellung die
weltweit dritthöchste Stromproduktionskapazität haben.
Küstengemeinde Vila Juerana, die
durch das Projekt zum Umzug gezwungen werden. "Die Bodenerosion wird sich auch hier, rund zehn Kilometer von dem Terminal entfernt,
bemerkbar machen. Das Meer wird
Laut den Umweltaktivisten in Bahia bis zu 100 Meter landeinwärts vorgefährdet der Hafenterminal einen dringen", sagt er.
ökologischen Korridor, der zwei Naturschutzgebiete miteinander verbin- Abéde zufolge war der Hafenkomdet. In dem 93 Quadratkilometer plex als Teil von 'Pedra de Ferro'
großen Nationalpark 'Sierra de Con- geplant, einem gemeinsamen
duru' ist eine Vielzahl von Tier- und Bergbauprojekt von 'Bahia MinePflanzenarten heimisch. Auch der raçao' (Bamin), einer Niederlas4,4 Quadratkilometer große Stadt- sung des brasilianischen Unternehpark 'Boa Esperança' in Ilhéus ist ein mens 'Eurasian Natural Resources
Refugium für zahlreiche, auch selte- Corporation' (ENRC), und von der
ne Spezies.
afrikanischen Firma 'Zamin Ferrous'.
"Die Terminalbaupläne sind Ausdruck einer gravierenden Respektlosigkeit gegenüber dem regionalen
Tourismus und Umweltschutz", protestiert die Aktivistin Maria Mendonça, Vorsitzende des 'Instituto
Nossa Ilhéus' ('Institut Unser Ilhéus').
Nahe der Stadt mit rund 180.000 Einwohnern verläuft die längste Küste
von Bahia, die unter anderem Schauplatz vieler Romane des brasilianischen Schriftstellers Jorge Amado ist.
Eine im Jahr 2013 durchgeführte
Umweltverträglichkeitsstudie hat 36
mögliche Negativfolgen, die in 42
Prozent der Fälle nicht verhindert
werden können, aufgezeigt. Unter
anderem werden die Bauarbeiten
Wale und Delphine vertreiben und
Lebewesen vernichten, die auf dem
Meeresgrund leben.
Aratiguá, das Zentrum des künftigen
Hafens, sei reich an Fischbeständen,
berichtet Mendonça. Im Umkreis
lebten mehr als 10.000 kleine Fischer
davon, an einer etwa zehn Kilometer
langen Küste ihre Netze auszuwerfen. Im Zuge des Bauprojekts sollen
geschätzte 100 Millionen Tonnen Erde in die ökologisch fragile Region
gebracht werden.
Ein Teil des künftigen Hafens
von Porto Sul in Aratiguá in
der Stadt Ilhéus
Bild: © Regierung des Bundesstaa­
tes Bahia
In der Mine soll bis zur Fertigstellung des Megahafens in der Kleinstadt Caetité im Landesinnern jährlich eine Million Tonnen Eisen produziert werden. Danach sollen etwa
20 Millionen Tonnen Eisen jährlich
gefördert werden, die auf einer neuen 400 Kilometer langen Eisenbahnstrecke zwischen Caetité und
Der Umweltaktivist Ismail Abéde ist Ilhéus zum neuen Hafen transporeiner von etwa 800 Einwohnern der tiert werden.
Seite 22
www.schattenblick.de
'Pedra de Ferro' wird nach Aussagen
von 'Bahia Mineraçao' 6.600 Arbeitsplätze schaffen. Die gesamten
Investitionen des Unternehmens in
das Bergwerk und den Hafenkomplex werden mit etwa drei Milliarden
Dollar veranschlagt.
Die Behörden hatten das Bergbauprojekt 2012 für ökologisch unbedenklich erklärt. Eine Betriebslizenz
wurde im Juni 2014 vergeben. Die
Baugenehmigung für das Hafenprojekt 'Porto Sul' liegt seit 19. September vergangenen Jahres vor. Spätestens im kommenden September sollen die Bauarbeiten beginnen. Ende
2019 soll dann der drittgrößte Hafen
Brasiliens seinen Betrieb aufneh-
men. Das Umschlagvolumen in den
ersten zehn Jahren wird mit 60 Millionen Tonnen angegeben.
Waren sollen den Hafen hauptsächlich auf dem Schienenweg erreichen.
Geplant sind außerdem ein nahegelegener internationaler Flughafen,
neue Straßen und eine Gaspipeline.
Das mit dem Hafen verbundene Projekt 'Pedra de Ferro' erfordert Investitionen im Umfang von 1,5 Milliarden Dollar. Die Eisenerzvorkommen in der Mine werden mit 398
Millionen Tonnen veranschlagt. Diese Menge reicht aus, um das Bergwerk 20 Jahre lang zu betreiben.
Di, 28. April 2015
Elektronische Zeitung Schattenblick
"Die Mine ist nicht nachhaltig, und
die Eisenbahnlinie verläuft durch
Schutz- und Wohngebiete", kritisiert
Mendonça. Andere Aktivisten warnen vor einem gewaltigen Staubaufkommen durch die Transporte auf
der gesamten Strecke vom Bergwerk
bis zum Hafen - mit negativen Folgen für Natur, Kakaopflanzungen
und Flüsse.
Enteignungen zugunsten von
Privatunternehmen
Abéde kritisiert zudem die Art und
Weise, wie die von den Projekten betroffenen Familien informiert wurden. Weder das Unternehmen noch
die Behörden hätten einen Dialog mit
den Anwohnern gesucht. "Der Staat
darf Enteignungen vornehmen, wenn
diese dem Wohl der Allgemeinheit
dienen, nicht aber zugunsten eines in- demnach im ersten Quartal dieses
ternationalen Privatkonzernes."
Jahres begonnen.
(Ende/IPS/ck/2015)
ENRC, ein kasachischer Konzern
mit Sitz in Astana und London, wurde im November 2013 nach Betrugs- Links:
und Korruptionsvorwürfen vom http://www.ipsnoticiHandel an der Londoner Börse aus- as.net/2015/04/megaproyecto-porgeschlossen. "Wir arbeiten an Be- tuario-en-brasil-amenaza-rica-regirichten für Banken, um diese davon on-ecologica/
abzuhalten, die Projekte zu finanzie- http://www.ipsren", erläutert Abéde.
news.net/2015/04/planned-megaport-in-brazil-threatens-rich-ecoloBehördenvertreter in Bahia teilten gical-region/
mit, dass das Umweltamt bereits
zehn öffentliche Anhörungen zum © IPS-Inter Press Service DeutschThema abgehalten habe. Eine Fläche land GmbH
von etwa 17 Quadratkilometern soll
zu einem Naturschutzgebiet erklärt Quelle:
werden. Alle betroffenen Familien IPS-Tagesdienst vom 27. April 2015
werden angeblich von einem Umsiedlungsprogramm profitieren. Mit http://www.schattenblick.de/info­
Entschädigungszahlungen wurde pool/umwelt/internat/uipt0095.html
SPORT / BOXEN / MELDUNG
Tyson Fury hat wieder einmal Oberwasser
Klitschkos durchwachsener Auftritt läßt den Briten hoffen
(SB) ­ Wie nicht anders zu erwarten,
versichert Tyson Fury, Wladimir
Klitschkos Sieg im Kampf gegen
Bryant Jennings habe ihn überhaupt
nicht beeindruckt. Wenngleich der
Brite, dessen großes Mundwerk seine imposante Statur noch übertrifft,
auch im Falle einer glanzvollen Titelverteidigung des Ukrainers kaum
anders argumentiert hätte, war der
mühsame Auftritt des Weltmeisters
im Madison Square Garden natürlich
Wasser auf die Mühlen des mutmaßlich nächsten Herausforderers.
Wie der in 24 Profikämpfen ungeschlagene Fury versicherte, habe
Klitschko nichts zuwege gebracht,
was ihn beunruhigen könnte. Der
Ukrainer ging bei seinem ungefährdeten Punktsieg kein Risiko ein und
Di, 28. April 2015
kontrollierte Jennings weitgehend
mit dem Jab. Hingegen kam seine
Rechte eher selten ins Spiel, was
nicht zuletzt darauf zurückzuführen
war, daß sich der körperlich unterlegene Herausforderer weitgehend auf
die Defensive beschränkte, so daß er
dem Champion kaum ein Ziel für
einen Volltreffer bot.
Sollte Klitschko seine Meinung nicht
ändern, wird er im Herbst entweder
in Deutschland oder England vor
zweifellos ausverkauftem Haus gegen den 2,06 m großen Hünen antreten. Man werde ja sehen, wie es dem
Weltmeister ergeht, wenn er auf
einen körperlich ebenbürtigen, formstarken, schnelleren und schlaggewaltigen Kontrahenten - nämlich Tyson Fury trifft, stellte der Brite sein
www.schattenblick.de
Licht einmal mehr nicht unter den
Scheffel. Er sei höchst zuversichtlich, die Ära Klitschko zu beenden
und seine eigene zu eröffnen. [1]
Klitschkos Manager Bernd Bönte hat
bereits angekündigt, daß er die Verhandlungen mit dem Lager des Briten umgehend aufnehmen werde.
Während der Ukrainer erst einmal in
Urlaub geht, bleibt es Bönte vorbehalten, Fury am Verhandlungstisch
auf beiderseits akzeptable Konditionen einzuschwören, was nicht einfach sein dürfte. Für Wladimir
Klitschko ist der Pflichtherausforderer beim Verband WBO lediglich eine weitere Zwischenstation vor einem möglichen Duell mit Deontay
Wilder, der zu Recht als seit Jahren
gefährlichster Kandidat einzuschätSeite 23
Elektronische Zeitung Schattenblick
zen ist, den der Ukrainer vor die Fäu- kämpfe, entbehren bislang einer fundierten Begründung. Der Brite bietet
ste bekommen könnte.
dem Ukrainer ein leichteres Ziel als
Der unbesiegte US-Amerikaner ist der kleinere und ständig auspendelnWeltmeister nach Version des Ver- de Jennings. Zudem verfügt Fury
bands WBC und hat damit weit mehr trotz seiner imposanten Statur nur
erreicht als Tyson Fury, der sich bis- über eine vergleichsweise geringe
lang nur gegen eine vergleichsweise Schlagwirkung und dürfte Klitschko
schwache Konkurrenz durchsetzen auch in technischer Hinsicht klar unkonnte. Sollte Klitschko gegen den terlegen sein. Daß sich der WeltmeiBriten verlieren, müßten die Karten ster dabei verausgaben und seinen 39
natürlich neu gemischt werden. Ob Jahren Tribut zollen müßte, ist eine
Wilder dem Briten in diesem Fall eine bloße Mutmaßung, für die es kaum
Chance eröffnen würde, um den WBC- Anhaltspunkte in den letzten AuftritTitel zu kämpfen, hinge dann nicht zu- ten Klitschkos gibt.
letzt von seinem Berater Al Haymon
ab, der für die bei ihm unter Vertrag Wenngleich der Ukrainer erklärterstehenden Boxer nach strategischen maßen unzufrieden war, sich eine
Gesichtspunkten die Fäden zieht, in- triumphale Rückkehr in die USA
dem er vor allem seinen eigenen Ein- verbaut zu haben, hatte er doch das
Erforderliche getan, um seine Gürfluß Zug um Zug weiter ausbaut.
tel sicher zu verteidigen. Man könnSpekulationen, Wladimir Klitschko te wie immer einige Schwergewichtwerde gegen Tyson Fury verlieren, ler wie Lucas Browne, Chris Arreowenn er dabei nicht besser als gegen la, Andy Ruiz oder Carlos Takam
Kubrat Pulew und Bryant Jennings nennen, gegen die der Weltmeister
noch nicht gekämpft hat. Daraus abzuleiten, er gehe gefährlichen Kontrahenten aus dem Weg, hat jedoch
weder Hand noch Fuß. Klitschkos
Sicherheitsboxen ist nicht schön anzusehen, wenig riskant und mithin
kein ausgesprochenes Ruhmesblatt
des zeitgenössischen Boxsports.
Seine inzwischen neun Jahre währende Regentschaft läßt jedoch darauf schließen, daß der Konkurrenz
außer großen Worten im Vorfeld des
Kampfs nichts einfällt, wie diese
Dominanz zu brechen sei.
Anmerkung:
[1] http://www.boxingnews24.com/2015/04/fury-unimpressedwith-klitschkos-win-over-jennings/#more-191613
http://www.schattenblick.de/
infopool/sport/boxen/
sbxm1694.html
SPORT / MEINUNGEN / KOMMENTAR
Zinkerspiele
Von wegen Chancengleichheit: IAAF verscherbelt Leichtathletik­WM 2021
ohne Bewerberverfahren an die USA
(SB) ­ Schweigen kann auch ein State-
ment sein, nur noch aggressiver. "Zu
dieser Entscheidung gebe ich keinen
Kommentar ab", zitiert die Süddeutsche Zeitung (online) Helmut Digel,
seit 1995 Mitglied im Council des
Leichtathletik-Weltverbandes IAAF
und dort für das Ressort Marketing
und Fernsehen zuständig. [1]
Der IAAF-Rat hatte gerade der
150.000-Einwohner-Stadt Eugene in
den USA den Zuschlag für die Austragung der Leichtathletik-WM 2021 gegeben. Wie schon bei der umstrittenen
Vergabe der Leichtathletik-WM 2019
vor wenigen Monaten an Katar waren
Seite 24
"wirtschaftliche Gründe" entscheidend, wie der IAAF-Präsident Lamine Diack nach der Sitzung in Peking
einräumte, was unterstellt, daß ansonsten andere Gründe Vorrang hätten.
Demnach sind im Gesamtpaket garantierte öffentliche Gelder des Bundesstaates Oregon, finanzielle Unterstützung durch das NOK der Vereinigten
Staaten sowie ein lukrativer TV-Vertrag einschließlich landesweiter Übertragung durch den Fernsehsender
NBC enthalten. So wenig wie die
IAAF-Funktionäre interessierte, daß
die feudalen Bauwerke und Sportarenen, die im Emirat Katar aus dem Wüstenboden gestampft werden, mit dem
www.schattenblick.de
Blut der wie Sklaven behandelten Arbeitsmigranten bezahlt werden, so
wenig scherte es sie, daß die USA unter anderem wegen ihrer extralegalen
Drohnenhinrichtungen, brutalen Folterpraktiken, rassistischen Polizeigewalt, Massenüberwachungen oder
Kriegstreibereien in der internationalen Kritik stehen.
Es geht ums Geschäft, um Märkte,
Profite und Produktplazierung. Das ist
die einzige "Glaubwürdigkeit", die das
Sportbusiness bei allen moralischen
Spiegelfechtereien um die "Werte des
Sports" noch hat. Zum ersten Mal findet eine Leichtathletik-WM in den
Di, 28. April 2015
Elektronische Zeitung Schattenblick
USA statt. Rein zufällig ist Eugene
auch die Heimat des Sportartikelkonzerns "Nike", der seine Produkte vornehmlich in asiatischen Billiglohnländern unter ausbeuterischen Arbeitsbedingungen herstellen läßt. "Nike" ist
seit 2005 auch der Generalausrüster
des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), dessen Präsident Clemens
Prokop die Wahl Eugenes ausdrücklich begrüßte, weil die Stadt ein "Tempel der Leichtathletik" sei.
Als Doha im November vergangenen
Jahres die WM 2019 an Land zog,
nachdem den IAAF-Ratsmitgliedern
wenige Minuten vor der Wahl eine
schriftliche Bestätigung des Premierministers von Katar über einen 30 Millionen US-Dollar schweren "Incentive" (Extraanreiz) ausgehändigt worden war, wurde noch so getan, als gäbe es so etwas wie einen "fairen" oder
"gerechten" Wettbewerb unter den
Bietern - mag das Zuschlagsverfahren
auf den letzten Drücker auch großes
Befremden ausgelöst haben. Die Praxis der "Incentives" soll von keinem
geringeren als dem skandalumtosten
IAAF-Präsidenten Primo Nebiolo
(1981-1999) eingeführt worden sein.
Der für seine feudalen Auftritte berüchtigte Italiener, der als Spießgeselle von Horst Dassler (Adidas) und Juan Antonio Samaranch (IOC-Präsident) die Kommerzialisierung der
Leichtathletik maßgeblich vorangetrieben hatte, soll den WM-Bewerbern
erlaubt haben, sich mit finanziellen
Argumenten gegenseitig zu überbieten, indem sie sogenannte Incentives
einbringen, berichtete die NZZ. [2]
Doch selbst diese anrüchige Praxis
kann noch übertroffen werden, zumal
der Ruf der IAAF inzwischen so ruiniert ist, daß nicht einmal mehr der
Anschein eines offiziellen Wettbewerbs aufrechterhalten werden muß.
So wurde die WM direkt in die USA
verhökert, ohne daß es ein vorheriges
Bewerberverfahren gegeben hätte.
"Ich weiß, dass diese Entscheidung
von dem üblichen Prozedere einer
WM-Vergabe abweicht. Aber ich freue
mich, dass meine Council-Kollegen
Di, 28. April 2015
diese außergewöhnliche Gelegenheit
erkannt haben", verwies IAAF-Präsident Lamine Diack aufdie vielleicht
nie wiederkommende Chance, einen
"Schlüsselmarkt" zu erschließen. [3]
Der Senegalese ist seit dem Tod von
Nebiolo im Amt und kennt das Geschäft des Eine-Hand-wäscht-die-andere aus dem Effeff. Mit einer Reihe
von internationalen Spitzenfunktionären war er in die Schmiergeldaffäre
um die ehemalige Sportvermarktungsgruppe ISL/ISMM verwickelt und
wurde dafür vom IOC milde sanktioniert. Seine Familie hat zudem ein vetternwirtschaftliches System um die
Leichtathletik aufgebaut und betreibt
auf internationalem Parkett einen
schwunghaften Marketinghandel.
Daß die IAAF die europäischen
Leichtathletik-Nationen vollständig
ausmanövriert hat, konnte auch beim
europäischen Dachverband EAA nicht
ohne Reklamation bleiben. Göteborg,
das ebenfalls mit der WM liebäugelte,
habe noch nicht einmal die Chance gehabt, sich für dieses Event zu bewerben, beklagte sich Svein Arne (Norwegen), neuer Präsident der EAA,
über das völlige Fehlen eines ordentlichen Bewerbungsverfahrens. Die
schwedische Stadt feiert 2021 ihr
400jähriges Bestehen - doch anders als
in Doha oder Eugene gibt es in Göteborg für die Global Player der IAAF
offenbar nicht so viel zu holen. Das hat
allerdings auch mit der Stellung der
Europäer im Weltverband zu tun, die
im Council nur noch 10 von 27 Stimmen und im Kongreß 50 von 219 Sitzen haben.
Vor kurzem hatte sich der DLV-Ehrenpräsident und Sportsoziologe Helmut
Digel noch damit hervorgetan, daß er
in einem offenen Brief die verhaltenen, aber in vielen Aspekten durchaus
begründeten Sorgen des DOSB und
seiner Athletenkommission um die
Auswirkungen des geplanten AntiDoping-Gesetzes unter Niveau abbürstete. Mit dem Gesetz würde die
"Chancengleichheit" von sauberen
Athleten "bei nach wie vor sehr chancenungleichen Wettkämpfen" erhöht,
www.schattenblick.de
erging sich der emeritierte Professor
in der Quadratur des Kreises und malte sich eine Ethik schön, wonach für
einen sauberen Athleten auch nicht der
Grundsatz gelte, "dass alles was nicht
ausdrücklich verboten ist, im Hochleistungssport erlaubt sein soll. Er sucht
sich nicht jene Lücken und Schlupflöcher in der Liste der verbotenen Substanzen aus, um sich daraus einen
Wettbewerbsvorteil gegenüber seinen
Gegnern zu verschaffen. Er setzt sich
viel mehr ausdrücklich für einen fairen Wettkampfein". [4]
Heißen die Wettbewerbsvorteile jedoch "Incentives" und wird die vermeintliche "Chancengleichheit" dadurch ausgehebelt, daß man einen
"fairen Wettkampf" in einem "chancenungleichen" Bewerbungsverfahren
gar nicht erst zuläßt, dann müssen die
Leichtathletik-Funktionäre wohl
"Lücken und Schlupflöcher" auf der
Liste "nicht ausdrücklich" verbotener
Geschäftspraktiken genutzt haben.
Einen Brandbrief Digels an die IAAFMitglieder, die dieses Verfahren gerechtfertigt haben, hat es indessen nie
gegeben und wird es vermutlich auch
niemals geben. Dann schon lieber das
schwächste Glied der Kette an die
Wand stellen und die Kriminalisierung
des sündigen Athleten fordern ...
Das macht eben die Profession von
Sportfunktionären aus: Sie schlagen
bei ausgesuchten Gelegenheiten mit
Fairneß-, Moral-, Ethikkeulen so aggressiv um sich, daß kein Athlet wagt,
ihr hegemoniales Deutungsmonopol,
was denn "chancengerechter Wettbewerb" sei, in Frage zu stellen. Die
Teilhaberschaft der "sauberen" Athleten besteht darin, daß sie die fremdnützigen Verwertungsbedingungen ihrer Leidenschaft als die eigenen verinnerlicht haben - so sehr, daß insbesondere der Profi- und Spitzenathlet nur
noch als fleischgewordene Personifizierung der ökonomischen Verhältnisse in Erscheinung tritt, geradezu darum bettelnd, im Sinne der Verwertungsordnung reglementiert zu werden
(siehe Leistungs- und Anti-DopingRegime). Dieser modernen SklavenSeite 25
Elektronische Zeitung Schattenblick
form des Sportheroismus ist die
Selbstgerechtigkeit einer Funktionärskaste äquivalent, die sich nicht nur mit
Haut und Haaren der Kommerzialisierung des Sports verschrieben hat, sondern diese auch mit Zähnen und Klauen zu Lasten anderer Möglichkeiten
menschlichen Agierens verteidigt.
Wenn IAAF-Chef Lamine Diack nach
dem WM-Verkaufin die USA meint,
seiner Sportart solle damit der Zugang
zu einer der erfolgreichsten Leichtathletik-Nationen und einer der größten
Wirtschaftsmächte der Welt ermöglicht werden, dann spricht daraus das
Kalkül jedweden Marketenders, seine
Geschäfte am besten im Schutz der
stärksten Militärmaschinerie auf Erden zu verrichten. Was könnte die
Lohnsklaverei und Baustellentoten in
Katar besser relativieren als zwei Jahre später eine Kriegs-Dollar-WM beim
SupersheriffUSA, der die größte Gefangenenbevölkerung der Welt hat und
dennoch als Herold der Freiheit gefeiert wird? Hatten Medien sowie Menschenrechtsorganisationen die PetroDollar-WM in Doha aus naheliegenden Gründen noch scharf kritisiert,
herrscht im Falle Eugenes aufeinmal
Schweigen im Wald. Wie die Kommentarlosigkeit von Helmut Digel
spricht auch das eine beredte Sprache.
__I n h a l t__________Ausgabe 1446 / Dienstag, den 28. April 2015__
1 POLITIK - REPORT: Die andere Türkei ... Metin Kaya im Gespräch
5 POLITIK - AUSLAND: El Salvador - Rückkehr der Todesschwadronen (IPS)
7 MEINUNGEN: "Peak Plutocracy" - Grenze des Erträglichen ist erreicht (IPS)
9 REDAKTION: Steht Großbritannien eine Verfassungskrise bevor?
10 SCHACH-SPHINX: Renaissance oder Fraktur?
11 KUNST - REPORT: ... Franziska Schnoor im Gespräch
13 UMWELT: EU-Kommission spielt Konzernen in die Hände
15 UMWELT - REPORT: Trümmertief ... Dr. Werner Zittel im Gespräch
21 UMWELT: Widerstand gegen geplanten Hafenkomplex in Bahia (IPS)
23 SPORT - BOXEN: Tyson Fury hat wieder einmal Oberwasser
24 SPORT - MEINUNGEN: Zinkerspiele
26 DIENSTE - WETTER: Und morgen, den 28. April 2015
DIENSTE / WETTER / AUSSICHTEN
Und morgen, den 28. April 2015
+++ Vorhersage für den 28.04.2015 bis zum 29.04.2015 +++
Gemischter Tisch,
Jean-Luc gereizt,
verhuschter Fisch,
die Sonne geizt.
© 2014 by Schattenblick
Anmerkungen:
[1] http://www.sueddeutsche.de/sport/leichtathletik-ausserkonkurrenz-1.2439012. 16.04.2015.
[2] http://www.nzz.ch/sport/dasjahrzehnt-des-golfstaats1.18441460. 10.12.2014.
[3] http://www.sueddeutsche.de/news/sport/leichtathletikvergabe-ohne-bewerbung-wm2021erstmals-in-den-usa-dpa.urnnewsml-dpa-com-20090101150416-99-04302. 16.04.2015.
[4] https://www.leichtathletik.de/fileadmin/user_upload/11_Verband/DOSB_Offener_Brief.pdf.
02.03.2015.
http://www.schattenblick.de/info­
pool/sport/meinung/spmek229.html
Seite 26
IMPRESSUM
Elektronische Zeitung Schattenblick
Diensteanbieter: MA-Verlag Helmut Barthel, e.K.
Verantwortlicher Ansprechpartner:
Helmut Barthel, Dorfstraße 41, 25795 Stelle-Wittenwurth
Elektronische Postadresse: [email protected]
Telefonnummer: 04837/90 26 98
Registergericht: Amtsgericht Pinneberg / HRA 1221 ME
Journalistisch-redaktionelle Verantwortung (V.i.S.d.P.):
Helmut Barthel, Dorfstraße 41, 25795 Stelle-Wittenwurth
Inhaltlich Verantwortlicher gemäß § 10 Absatz 3 MDStV:
Helmut Barthel, Dorfstraße 41, 25795 Stelle-Wittenwurth
ISSN 2190-6963
Urheberschutz und Nutzung: Der Urheber räumt Ihnen ganz konkret das Nutzungsrecht
ein, sich eine private Kopie für persönliche Zwecke anzufertigen. Nicht berechtigt sind
Sie dagegen, die Materialien zu verändern und / oder weiter zu geben oder gar selbst
zu veröffentlichen. Nachdruck und Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit
ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Wenn nicht ausdrücklich anders vermerkt,
liegen die Urheberrechte für Bild und Text bei: Helmut Barthel
Haftung: Die Inhalte dieses Newsletters wurden sorgfältig geprüft und nach bestem
Wissen erstellt. Bei der Wiedergabe und Verarbeitung der publizierten Informationen
können jedoch Fehler nie mit hundertprozentiger Sicherheit ausgeschlossen werden.
www.schattenblick.de
Di, 28. April 2015