Document

„Was bedeutet Evidenzbasierung
in der Therapie- und
Versorgungsforschung“
Dr. med. Anne Berghöfer
Ärztliches Qualitätsmanagement
Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie
und Gesundheitsökonomie
http://epidemiologie.charite.de
Agenda
• Was ist Evidenzbasierung?
• Warum wird EbM / werden Leitlinien von Versorgern
wenig im klinischen Alltag verwendet?
• Was sind die Limitationen von EbM?
• Welche Auswege gibt es?
Agenda
• Was ist Evidenzbasierung?
• Warum wird EbM / werden Leitlinien von Versorgern
wenig im klinischen Alltag verwendet?
• Was sind die Limitationen von EbM?
• Welche Auswege gibt es?
Evidenzhierarchie
Grad
1a
1b
2a
2b
Evidenz aufgrund:
Meta-Analyse von randomisierten, kontrollierten
Studien
Mindestens eine gutangelegte randomisierte,
kontrollierte Studie
Meta-Analyse von Kohortenstudien
4
Mindestens eine gut angelegte, nicht-randomisierte
kontrollierte Studie, oder ein weniger guter RCT
Mindestens eine gutangelegte, nicht-randomisierte und
nicht-kontrollierte Studie (z.B. Kohortenstudie)
Mindestens eine gut angelegte, deskriptive Studien, wie
Fall-Kontroll-Studie
Fallserien, schlechte Kohorten und Fall-Kontrollstudien
5
Expertenmeinungen
2c
3
Oxford Centre for Evidence-based Medicine Levels of Evidence (May 2001)
Evidenzhierarchie
1 ++
Randomisierte kontrollierte Studie (RCT) oder Meta-Analyse / systematische
Übersichtsarbeit von RCTs
- von hoher methodischer Qualität, mit einem geringen Risiko für Bias
1+
RCT oder Meta-Analyse / systematische Übersichtsarbeit von RCTs
mit einem geringen Risiko für Bias
1-
RCT oder Meta-Analyse / systematische Übersichtsarbeit von RCTs
mit einem erheblichen Risiko für Bias
2 ++
Fall-Kontroll-Studien oder Kohortenstudien:
- hochwertig,
- sehr geringes Risiko für Confounding oder Bias,
- große Wahrscheinlichkeit für Kausalität.
2+
Fall-Kontroll-Studien oder Kohortenstudien:
- gut durchgeführt,
- kleines Risiko für Confounding oder Bias,
- mittlere Wahrscheinlichkeit für Kausalität.
2-
Fall-Kontroll-Studien oder Kohortenstudien:
- hohes Risiko für Confounding oder Bias,
- hohes Risiko, dass die gefundenen Relationen nicht kausal bedingt sind.
3
Nicht analytische Studien, z.B. ohne Vergleichsgruppe wie Fallberichte / Fallserien
4
Expertenmeinung, Leitartikel, narratives Review im Prosastil
Scottish Intercollegiate Guidelines Network
Qualität von Evidenz
Interne Validität
„wird das gemessen, was gemessen werden soll?“
Externe Validität
„sind die Ergebnisse auf die Realität übertragbar?“
Was ist Bias?
Verzerrung des Studienergebnisses durch einen
systematischen Fehler
zufällige Fehler
systematische Fehler / Bias
Was ist Confounding?
Beeinflussung des Studienergebnisses durch eine Störgröße
eigentliche
Frage
Therapie:
Qualifizierte
Entzugsbehandl.
Ergebnis:
Alkoholabstinenzzeit
“begnadet
Confounder
charismatische
Therapeuten”
Der “Gold Standard”
Randomisiert-kontrollierte Studie
(Randomized Controlled Trial, RCT)
Randomisierung
Intervention
zufällig
zugeteilt
Studienabbrecher
(drop out)
Gruppe 1
Therapieergebnis
Gruppe 2
Therapieergebnis
Population
Selektion der
Teilnehmer
Verblindung?
Kontrolle
Placebo oder
Vergleichssubstanz
Zeit
Bekannte und überraschende RCTs
• RCT zur OP bei Kniegelenksarthrose
Moseley JB, O’Malley K, Petersen NJ, et al. A controlled trial of arthroscopic
surgery for osteoarthritis of the knee. N Engl J Med. 2002;347:81-88.
Kirkley et al (2008)A Randomized Trial of Arthroscopic Surgery for Osteoarthritis
of the Knee N Engl J Med; 359:1097-1107
• RCT zu Hormonen bei postmenopausalen Frauen (WHI)
Writing Group for the Women's Health Initiative Investigators (2002). "Risks and
Benefits of Estrogen Plus Progestin in Healthy Postmenopausal Women: Principal
Results From the Women's Health Initiative Randomized Controlled Trial". JAMA
288 (3): 321–333.
9
RCT zur OP bei Kniegelenksarthrose
Moseley JB, O’Malley K, Petersen NJ, et al. A controlled trial of arthroscopic
surgery for osteoarthritis of the knee. N Engl J Med. 2002;347:81-88.
10
Agenda
• Was ist Evidenzbasierung?
• Warum wird EbM / werden Leitlinien von Versorgern
wenig im klinischen Alltag verwendet?
• Was sind die Limitationen von EbM?
• Welche Auswege gibt es?
Compliant
Einverstanden
Verwendet
In der Lage
Anwendbar
Akzeptiert
Bekannt
Der Weg von der Leitlinie zum Patienten
Glasziou & Haynes. ACP 2005
Häufige Kritik an Evidenzbasierter Medizin
• Zeitraubender „Kochbuch-Ansatz“, der Werte und
Wünsche von Patienten ignoriert
• Theoretisch-akademischer Ansatz, der sich nicht in
die klinische Anwendung übersetzen lässt
• Forschung an selektionierten Patientengruppen
• Ignorieren und Diskreditieren von klinischer
Erfahrung
Barrieren der Leitlinienanwendung
• Nicht informiert über Existenz der Leitlinie
• Keine Kenntnis der Leitlinie im Detail
Information
• Nicht einverstanden mit Interpretation der Evidenz
und Generierung von Empfehlungen durch die
Entwickler
• Ablehnung, weil eigene Autonomie eingeschränkt
• Misstrauen, ob Leitlinie Behandlungsergebnis
verbessert
• Fehlende Motivation, langjährige Schemata zu
ändern
Einstellung
• Unvereinbarkeit mit Patientenpräferenzen
• Unvereinbarkeit mit gesundheitssystembedingten
finanziellen, zeitlichen, organisatorischen
Vorgaben
Externe
Barrieren
Cabana et al.JAMA 1999; 282:1458-1465
Agenda
• Was ist Evidenzbasierung?
• Warum wird EbM / werden Leitlinien von Versorgern
wenig im klinischen Alltag verwendet?
• Was sind die Limitationen von EbM?
• Welche Auswege gibt es?
Unterschiede bei Selektion und Teilnahme
Benefit
Potential
Patient lehnt
Teilnahme ab
Patient nicht zur
Teilnahme eingeladen
Nichtteilnahme des
Zentrums/Doktors
Teilnehmer
Nicht geeignet
Intervention A
Nach: McKee M et al. BMJ 1999;319:312-315
Intervention B
Studienteilnahme als Placebo
Adaptiert aus Kaptchuk, J Clin Epidemiol (2001)
Einschränkungen von RCTs
Einschränkungen von randomisierten kontrollierten
Arzneimittelstudien (RCTs) vor Marktzulassung:
Rogers‘ five „toos“
too few
too simple
too median-aged
too narrow
too brief
ca. 2000 Patienten in Phase III
keine Komorbidität / Ko-Medikation
keine Kinder, keine sehr Alten
exakt definierte Indikation
zu kurze Behandlungsdauer
Rogers AS, In: Pharmacoepidemiology: An Introduction. Cincinnati, 1991.
Nachteile von RCTs in der Versorgung
• Externe Validität (= Übertragbarkeit auf den
Behandlungsalltag) häufig durch strenge Ein- und
Ausschlusskriterien sehr eingeschränkt!
• Randomisierung ist nicht immer möglich.
• Verblindung ist nicht immer möglich.
• Ethische Hindernisse.
• RCTs sind i.d.R. aufwändig und teuer.
Evidenzmenge unüberschaubar
Anzahl der in MEDLINE publizierter RCTs pro Jahr
Jahr
Publik.
Med.
Journale
1954
17.000/Jahr
300
1979
2 Mio./Jahr
10.000
1965
2001
6.000/Tag
24.000
39
RCTs
2008: 26.017
RCTs
Centre for Evidence-Based Medicine in Oxford, UK (CEBM)
Krankenhausalltag:
Akute Aufnahmen in 24 Stunden:
18 Pat. mit 44 Diagnosen
3.679 Seiten nationale Leitlinien identifiziert
Lesedauer 122 Stunden
Quelle: Allen D, Harkins K. Too much guidance? Lancet 2005
EbM – ein Qualitätssiegel?
•
•
•
•
•
Finanzierung der Studien durch Hersteller
Definition von „krank“ / „behandlungsbedürftig“
Entscheidung über Forschungsfragen
Entscheidung über Endpunkte (Surrogatendpunkte)
Über-Powern von Studien (Signifikanz kleiner
Unterschiede)
• Patientenselektion durch Ein-und
Ausschlusskriterien (Enrichment)
• Festlegung der Dosierungen von Studien-und
Kontrollmedikation
• Entscheidung über Publikation (Publikations-Bias)
Greenhalghet al. BMJ 2014
Publikationsbias
Nachverfolgung von Studien über 10 Jahre, nachdem sie von der
Ethikkommission ein positives Votum bekamen:
Studien mit stat. sign.
Ergebnis (dicke
schwarze Linie):
15% nicht
veröffentlicht n. 10 J.
Studien ohne Effekt
(„Null“; dicke graue
Linie):
42% nicht
veröffentlicht
Stern BMJ 1997
Beziehung zwischen Industriesponsoring und
Studienergebnis (8 Reviews über 1140 Originalartikel)
Quelle
Studientyp
Kein Pro-IndustrieErgebnis
Pro-Industrie-Ergebnis
Bekelman et al. Scope and impact of financial conflicts of interest in biomedical research. JAMA 2003; 289(4):454-465
Bias…
non-respondent bias
self referral bias
… usw. …
… usw. …
giving consent bias
sampling bias
withdrawal bias
missing data bias
Selektionsbias
lost to follow up bias
Informationsbias
measurement bias
detection bias
recall bias
… usw. …
observer bias
… usw. …
Outcome reporting bias: nur das
signifikante Teilergebnis wird berichtet
reporting bias
interviewer bias
Karrierebias: Publikationen wichtig
für Drittmitteleinwerbung, Grundlage
für finanzielle Ausstattung (LOM)
Language bias: englische
Publikationen werden bevorzugt,
haben höhere Reichweite in
Literaturdatenbanken
Time lag bias: Signifikant
positive Ergebnisse werden
am schnellsten publiziert
Externe Validität
Grundgesamtheit
• Wie repräsentativ ist die
Stichprobe?
• Wie repräsentativ ist die
Untersuchungssituation?
• Kann ich die Studienergebnisse auf
den Versorgungsalltag übertragen?
Studienpopulation
Gruppe A
Gruppe B
Ergebnis
• Frauen
• alte Patienten
? • Multimorbide Patienten
• Therapieverfahren in
komplexen Therapiesettings
Agenda
• Was ist Evidenzbasierung?
• Warum wird EbM / werden Leitlinien von Versorgern
wenig im klinischen Alltag verwendet?
• Was sind die Limitationen von EbM?
• Welche Auswege gibt es?
Studientypen in der Medizin
Studientypen in der medizinischen Forschung. Röhrig et al. Dtsch Arztebl Int 2009; 106(15): 262–8
Längsschnitt-Beobachtungsstudien
Beobachtungszeitraum
retrospektiv
Studienbeginn
prospektiv
Exponiert
(Risikofaktor)
Fall-KontrollStudie
Fälle
Nicht
exponiert
(krank)
Exponiert
Kontrollen
(Risikofaktor)
(nicht krank)
Nicht
exponiert
Response
Therapieverfahren
Nonresponse
Response
Kohorten-Studie
Kontrolle
Nonresponse
Grundcharakteristika
RCT versus Versorgungsforschung
Randomisierte
kontrollierte Studie
Versorgungsstudie
Ziel
Experimentell
Naturalistisch
Design
Wirksamkeit
Wirkung
Patientenselektion
Hoch
Niedrig
Ärzteselektion
Hoch
Niedrig
Standardisierung
Hoch
Niedrig
Endpunkte
Hart
Weich
Primäre Relevanz
Therapieprinzip
Versorgung
Willich SN, Dt. Ärztebl 2006;103(39):2006
Therapie 1 besser
Therapie 2 besser
Ergebnisse von
Beobachtungsstudien und RCTs
Benson K, Hartz AJ.
N Engl J Med 2000;342:
1878-1886
Der Weg zur „Medizin-basierten Evidenz“
Konzept der „comparative effectiveness research“
hierarchische vertikale Anordnung
von Studientypen der klassischen
Evidenzhierarchie
http://library.downstate.edu/EBM2/2100.htm
wertfreie Einordnung von Studien auf einem
horizontalen Kontinuum zwischen
• Experiment und Beobachtung
• engem und weit gefasstem
Patientenklientel
• hoher interner und hoher externer Validität
Witt et al. Dt Ärzteblatt 2011
Strategien zur Überwindung der Limitationen
• Nutzer-konzentrierte Forschung
• unabhängige Forschungsfinanzierung
• Einbindung von Patientengruppen (z.B.
Selbsthilfegruppen, Beratungsgruppen,
Interessenvertretungen)
• „Übersetzen“ von Evidenz für Nutzer (Research
explained)
• breitere Forschungsagenda
Forschungsagenda verbreitern
•
•
•
•
•
•
RCTs
Pragmatische kontrollierte Studien
große Kohortenstudien
Qualitative Studien
Sekundäranalysen von Routineleistungsdaten
Untersuchung komplexer Versorgungskonzepte
Es geht auch umgekehrt –
Evidenzgenerierung alternativer Heilverfahren
Konventionelle
Medizin
Komplementärmedizin
Biologische Plausibilität/
Menschenbild
Klinische Praxis
Randomisierte Studien
Versorgungsforschung
Versorgungsforschung
Randomisierte Studien
Klinische Praxis
Biologische Plausibilität/
Menschenbild
Wie sollte EbM verstanden werden?
Patient
(Präferenz des
Patienten)
Forschung
(beste aktuell
verfügbare
externe
Evidenz)
Klinik
(individuelle
klinische
Expertise)
EbM
Zusammenfassung
• Randomisierte, kontrollierte Studien keine allein
ausreichende Basis für Versorgungsentscheidungen
• Studien in naturalistischem Setting, mit patientenzentrierten
Endpunkten erforderlich
• Evidenzgrad methodisch anspruchsvoller
Versorgungsforschung den RCTs vergleichbar
• Modernes Studienkonzepte:
– Pragmatische kontrollierte Studien (comparative effectiveness
research)
– Kombination unterschiedlicher Datenquellen (mixed method Ansatz)
• Methodisch hochwertige Studien auch für komplexe
Versorgungsmodelle