Schule und Bildung: Ein Ausblick zu ebener Erde

ASM-Vollversammlung / 27.03.2015
Franz Tutzer
Bildung und Schule: Ein Ausblick, zu ebener Erde….
„Den größten Teil dessen, was wir wissen, haben wir alle außerhalb der Schule gelernt.
Schüler lernen das meiste ohne ihre Lehrer und häufig trotz dieser.“1 Mit dieser Aussage
rüttelte Ivan Illich, katholischer Priester und früher Warner vor einer „Verwestlichung“ der
Welt, Anfang der 70-iger Jahre ganz gehörig an den pädagogischen Selbstverständlichkeiten
seiner Zeit. Er war nicht der erste Kritiker der Schule und nicht der letzte, aber wohl einer der
radikalsten. Kritik an der Schule, am schulisch organisierten Lernen und die Frage nach dem
Beitrag schulischen Lernens für die Bildung junger Menschen ist auch 40 Jahre nach der
Provokation Illichs und jahrzehntelangen Reformbestrebungen nicht zu einem Ende
gekommen. Die Veränderungen in der Gesellschaft, in der Arbeitswelt, im kulturellen
Selbstverständnis ebenso wie die immer umfassendere digitale Durchdringung aller Bereiche
unserer Lebenswelt zwingen immer wieder neu zum Nachdenken über Bildung und Schule.
Ich werde einen Ausblick wagen auf besondere Herausforderungen, Themen oder auch nur
Fragen, denen wir unsere Aufmerksamkeit schenken sollten. „Zu ebener Erde…“ versuche
ich diesen Ausblick, also vom „Parterre“ eines Praktikers aus und nicht von den höheren
Stockwerken der Wissenschaft aus oder von den Versprechungen der pädagogischen
Hochglanzrhetorik her. In drei Richtungen will ich meine und Ihre Aufmerksamkeit lenken:
auf das Lernen, auf das Verständnis von Bildung und auf die Einrichtung, die ein Ort für das
Lernen und vielleicht auch der Bildung sein kann: auf die Schule.
Noch eine Vorbemerkung: Kratzte Ivan Illich mit dem eingangs erwähnten Satz und seiner
Streitschrift „Entschulung der Gesellschaft“ am Selbstverständnis der Schule, so bekommt
diese Aussage heute noch eine ganz andere Dimension: Was ist heute der „geheime
Lehrplan“ der Gesellschaft, was also „lernen“ Heranwachsende außerhalb der Schule? Ich
habe den Eindruck, dass unsere Gesellschaft für die Heranwachsenden vor allem folgende
„Lernangebote“ bereithält:
• „Die Gesellschaft braucht euch nicht, es gibt kaum lohnende Arbeit, wenn überhaupt
gibt es prekäre Arbeitsverhältnisse…“ oder:
•
„Unbeschränkter Konsum ist wünschenswert und für die Wirtschaft notwendig…“ oder
•
„Wert ist, was mit Geldwert bemessen werden kann…“ oder
•
„sucht möglichst viel Spaß zu haben…“ oder
•
„Die digitale Welt ist ein guter Ersatz für die Wirklichkeit…“
Vor einem solchen gesellschaftlichen Hintergrund über Schule und Bildung nachzudenken ist
die Herausforderung, vor der wir stehen.
1
Illich, Ivan: Entschulung der Gesellschaft, München 1971
Ein erster Ausblick: Was und wie sollen unsere Kinder und Jugendlichen lernen? oder
Muss Lernen Spaß machen?
Unsere Schulen haben inzwischen bis in die Oberschule hinauf Rahmenrichtlinien und die
auf deren Grundlage erarbeiteten Schulcurricula. Die darin angeführten Kompetenzen, die
inhaltlichen und methodischen Hinweise füllen Hunderte von Seiten. Die Fülle und der
Umfang dessen, was als Output am Ende eines Curriculums in den Köpfen, vielleicht auch
Herzen und Händen der Schüler/innen überprüfbar und verfügbar sein soll, sind
überwältigend und lösen zunehmend kritische Fragen aus.
Die Kritik an der übermäßigen Stofffülle hat in der schulischen Diskussion eine lange
Tradition. Vollständigkeit in der Vermittlung des Wissensstands eines Fachgebiets ist immer
weniger möglich und auch nicht zielführend. Die Verständigung über Kriterien für die
Auswahl der Inhalte der jeweiligen Fächer wird deshalb eine entscheidende Rolle für das
zukünftige Lernen spielen. Die „Brauchbarkeit“ und zukünftige „Anwendbarkeit“ schulischen
Lernens kann dabei nicht das einzige Kriterium sein. Wesentlich ist die Frage nach der
Bildungswirksamkeit der schulischen Inhalte: als Erschließungswerkzeuge für den Zugang
zur Welt, als Anschlussmöglichkeiten für zukünftiges Lernen, als Werkzeuge zur Förderung
des Urteilsvermögens und Wertempfindens. Die Überfülle an fertigen Ergebnissen der
verschiedenen Wissenschaften, mit der Schüler/innen überhäuft werden, auch wenn die
mediale Aufbereitung noch so gut ist, lähmt das eigenständige Nachdenken.
Die vertiefte Erarbeitung exemplarisch ausgewählter und für einen Fachbereich zentraler
Inhalte und Themen wird für das Lernen in einer Schule der Zukunft ein wesentliches
Kennzeichen sein.
Ein tragfähiges Lernverständnis muss auch die einseitig lehrergesteuerte Vermittlung von
fertig abgepackten „Wissenspaketen“ überwinden und vielfältige Wege des Lernens
aufschließen und zulassen. Lernwege, die Eigeninitiative, Kooperation und Selbständigkeit
erfordern, Lernwege, die für unterschiedliche Schülergruppen in Inhalt und Vertiefung
differenziert sind, vor allem praktisches und handlungsorientiertes Lernen in seinen
verschiedensten Ausformungen bieten den heranwachsenden Jugendlichen reale
Herausforderungen und die Möglichkeit, eigene Fähigkeiten zu erkennen, Freude am
eigenen Tun zu entwickeln und sich in der Zusammenarbeit mit anderen zu bewähren.
Dabei geht es nicht um ein Lernen, das „Spaß machen muss“, im Gegenteil:
„Was wir den Jüngeren am sträflichsten vorenthalten, ist nicht der Lebensspaß, sondern die
Teilhabe am Lebensernst, die Erfahrung, dass es auf sie wirklich ankommt“ mahnte
Marianne Gronemeyer.2
In diesem Zusammenhang können eine verstärkte Öffnung der Schulen, die Einbeziehung
außerschulischer Lernorte und das Lernen an realen Aufgaben ein Schritt sein auf dem Weg
zu tätiger Erfahrung und zu einem Lernen, das „vom Handeln zum Wissen“3 führt.
2
Gronemeyer, Marianne: Wie wäre es, Schule zu machen?, Vortrag an der Fachhochschule Nordwest-Schweiz,
Brugg, 2012
3
Das Thema der letzten Toblacher Gespräche war diesem Aspekt gewidmet.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Schulisches Lernen wird weiterhin ein privilegierter Ort für
ein systematisches, aufbauendes Lernen, ein Ort des Übens und Wiederholens und des
Festigens von Erreichtem sein. Aber das Lernen in der Schule darf dabei nicht stehen
bleiben. Es geht auch darum, dass die Heranwachsenden „sich kraft ihrer Neugier und ihres
Erfahrungshungers aufmachen, um ein Stück Welt, ein Stück Kultur, ein Stück Wissenschaft
kennen, berühren und verstehen zu lernen“ 4
Noch etwas: Schulisches Lernen muss offen bleiben für Unvorhergesehenes. Trotz der
detaillierten Formulierung von zu erreichenden Kompetenzen muss der Lernweg des
einzelnen Jugendlichen offen bleiben für Überraschungen. Es gibt Lernergebnisse, die nicht
überprüfbar und nicht bewertbar sind: das Weiterdenken, das Zweifeln, das Staunen, auch
das Widersprechen. Wenn die Lernwege allzu sehr nur an den vorgegebenen Kompetenzen
orientiert sind, besteht die Gefahr, dass die Offenheit für Überraschendes und für
Unvorhergesehenes nicht mehr zum Tragen kommt.
Für Lehrpersonen bedeutet dies, dass im Bereich des Lernens nicht alles planbar ist. Dies
kann bescheiden, aber auch gelassen machen.
Es gilt – wie es Johannes Beck, Professor für Pädagogik in Bremen, einmal bezüglich der
Aufgabe von Lehrern gesagt hat -: „Einander Aufmerksamkeit entgegenbringen, um sich
erkennen und verstehen zu können, sich lehrend mitzuteilen und die Dinge klärend zur
Sprache bringen statt nur zu belehren oder zu moderieren.“5
Ein zweiter Ausblick: Bildung oder Von der Unmöglichkeit, Bildung zu vermitteln
Immer wenn ein gesellschaftliches Problem, sei es im Bereich der Umwelt, der Gesundheit,
in den letzten Jahren verstärkt im Bereich der Ökonomie, ins Zentrum der öffentlichen
Aufmerksamkeit tritt, aus einer echten Notwendigkeit heraus oder auch nur medial gesteuert
und inszeniert, ergeht bald der Ruf nach einer dementsprechenden pädagogischen Aufgabe
an Schulen und Einrichtungen der Erwachsenenbildung. Umweltpädagogik, „Bildung für
nachhaltige Entwicklung“ (UN- Dekade 2005-2014), Gesundheitserziehung,
Verkehrserziehung u. a. Bindestrichpädagogiken bzw. Erziehungsprogramme der letzten
Jahrzehnte sind Ausdruck dafür.
Bei aller Bedeutung, die solchen Programmen auch zukommen mag, bleibt der Zweifel
berechtigt, ob Bildung das Ergebnis eines zweckrationalen Vorgangs sein kann, ob Bildung
überhaupt „vermittelt“ oder über „Maßnahmen“ erreicht werden kann oder ob Bildung so wie
Erziehung nicht vielmehr eher als „Nebenprodukt“, als mögliche Folge eines sorgfältig
bedachten Umgangs von Erwachsenen mit Kindern und Jugendlichen zu verstehen ist, einer
bewussten Auseinandersetzung mit - verkürzt ausgedrückt - „Sachen“ und Personen. Seit
Humboldt meint Bildung im Wesentlichen ein „Sich-Bilden“ der Persönlichkeit. Bildung ist so
verstanden also nicht ein auf ein bestimmtes „Ziel“ hin fertig abgepacktes Produkt, das die
Schule oder eine andere Institution vermitteln könnte, sondern ist stark verknüpft mit eigener
Aktivität, Selbstformung und Selbstständigkeit. „Ausbilden können uns andere, bilden kann
sich jeder nur selbst“ sagt Peter Bieri, und „Wenn wir uns bilden, arbeiten wir daran, etwas
zu werden - wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein.“ 6
4
Rumpf, Horst: Diesseits der Belehrungswut,, Weinheim und München 2004, S. 17
Beck, Johannes: Für eine Pädagogik zur Entfaltung des Reichtums der Bildung, Bremen 2004
6
Bieri, Peter: Festrede an der Pädagogischen Hochschule Bern, 2005
5
Woran können wir uns orientieren, wenn es uns darum geht, schulisches Lernen offen für
Bildung zu halten?
Nach einem Diktum von Ernst Ulrich von Weizsäcker bedeutet Bildung „Bewusstsein,
Urteilskraft, zwischenmenschliche Fähigkeiten und technisches Wissen“7.
Das bewusste Wahrnehmen der Wirklichkeit, so wie sie sich durch den Blick aus den
verschiedenen „Fächerfenstern“ zeigt, ist eine entscheidende Leistung der Lernenden. Den
Lernenden dabei behilflich zu sein, sie darin zu unterstützen, ihren Blick zu öffnen, sehen zu
lernen, die Wirklichkeit bewusst wahrzunehmen, wird in unserer zunehmend medial
vermittelten Realität eine der bedeutendsten Aufgaben der Lehrpersonen in der Schule sein.
Die Befähigung junger Menschen, sich zu strittigen Sachverhalten in den verschiedensten
Bereichen ein begründetes Urteil zu bilden und die Befähigung zu werten sind wohl
entscheidende Kennzeichen von Bildung. Und: „Eine Schule hat ihren Sinn als
Bildungseinrichtung verloren, wenn sie nur noch beantwortbare Fragen stellt und
behandelt.“8 Orientierung in diesem Terrain können dabei wohl nur die großen „Erzählungen“
aus der Literatur, aus den Religionen, aus den Wissenschaften, der Kunst und Philosophie
bieten. Diese „Erzählungen“ nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, bleibt eine der
wertvollsten und herausforderndsten Aufgaben in Schule und Unterricht.
Die Vermittlung von Kenntnissen, fachlichem Wissen und grundlegenden Fertigkeiten ist
nach wie vor unbestrittener Auftrag von schulischem Unterricht. Damit diese Vermittlung
aber bildungswirksam werden kann, müssen mehrere Rahmenbedingungen zum Tragen
kommen: die Sachinhalte müssen in ihrem Umfang begrenzt sein, sie müssen strukturiert
und in ihrem Zusammenhang untereinander erkennbar sein. Und vor allem: sie müssen
bedeutsam sein. Fachliches Wissen ist dabei ebenso unerlässlich wie handlungspraktische
Kompetenz. Da Bildung wesentlich das Ergebnis eigenständiger Aktivitäten der Lernenden
ist, kommt es gerade auch auf der Ebene des Wissens darauf an, im Unterricht
Zugangsweisen zu suchen, die wohl bei den bereits vorhandenen Interessen, Kenntnissen
und Fertigkeiten der Lernenden anknüpfen, dabei aber nicht stehen bleiben.
Und wenn es zutrifft, dass –wie oben gesagt – Bildung erst aus einer bewussten
Auseinandersetzung mit „Sachen“ und Personen möglich wird, dann wird auch die
Bedeutung der Person der Lehrenden klar. Nach Emmanuel Lévinas ist es das „Antlitz“9 des
Anderen, das uns in die Verantwortung ruft. Der „Andere“ in seiner Besonderheit, in seiner
radikalen Andersheit, ruft nach pädagogischer Zurückhaltung, nach Verzicht auf vorschnelle
Klassifizierung und Vereinnahmung in den eigenen Verstehenshorizont oder- wie es Lévinas
ausdrückt- nach Verzicht auf „Verselbigung“. Genauso brauchen die Jugendlichen die
„Andersheit“, das besondere „Antlitz“ der Lehrpersonen, um sich damit auseinandersetzen
zu können und sich entlang auch dieser Andersheit zu bilden. Hartmut von Hentig brachte
das so zum Ausdruck: „Das wichtigste Curriculum des Lehrers ist seine Person“10
7
Grußwort von E. U. von Weizsäcker in: Herz, Seybold, Strobl (Hrsg.): Bildung für nachhaltige Entwicklung,
Opladen 2001
8
Steffensky, Fulbert: Die Schule unserer Enkel, in: Erziehungskunst 3/2009
9
Vgl. Lévinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen, München 1983
10
Hentig, Hartmut von: Vom Verkäufer zum Darsteller, in: Neue Sammlung 21 (1981), S. 110
Ein dritter Ausblick: Die Schule als Organisation oder Effizienz ruft nach Suffizienz
Seit dem Jahr 2000 sind Schulen in unserem Land autonome Körperschaften. Autonome
Schulen sind nach dem Subsidiaritätsprinzip in der Lage, die eigenen Angelegenheiten
besser zu regeln als es durch eine zentrale Steuerung geschehen könnte. Ich hatte damals
bei der Einführung der Schulautonomie allerdings nicht den Eindruck, dass sich die Schulen
darum besonders bemüht oder sie sogar irgendwie „erkämpft“ hätten. Trotzdem hat sich in
diesen 15 Jahren einiges an den Schulen bewegt. Wir sollten die Möglichkeiten der
autonomen Gestaltung – bei allen gegebenen Einschränkungen – auch nicht gering achten.
Eine autonome, eine für die Gestaltung der jeweiligen „Eigenart“ zuständige und sich selbst
verwaltende Schule, die nach demokratischen Prinzipien organisiert ist, mit Mitwirkungs- und
Mitgestaltungsmöglichkeiten durch Schüler/innen, Eltern, Lehrpersonen und Schulleitung
bleibt eine Aufgabe, an der alle im Schulbereich Tätigen arbeiten müssen.
Allerdings scheint mir, dass wir die Möglichkeiten, die das geltende Autonomiegesetz bietet,
bei weitem noch nicht ausgeschöpft haben. Es stimmt wohl, dass auch das geltende
Autonomiegesetz Lücken hat, mir scheint aber auch, dass wir in Bezug auf die
Gestaltungsspielräume auch eine gewisse Phantasielücke haben.
Aber Vorsicht: Wir beginnen auch zu begreifen, dass Autonomie, Zielorientierung, Planung
und Organisation nicht ausreichen, um eine Schule zu einem guten Ort für die dort lernenden
Kinder und Jugendliche und für die dort arbeitenden Erwachsenen zu machen.
Eine Schule als komplexes soziales Gebilde kann nicht nur nach rein zweckrational
ausgerichteten Mustern organisiert werden, mit vorgegebenen Zielen, einem
operationalisierten Curriculum, präzis austariertem Mitteleinsatz und abschließender
Kontrolle oder Evaluation. Es kann nicht nur um die Zielerreichung gleichsam als
„Endprodukt“ einer Produktionskette gehen.
In der Schule handeln Personen und sie interagieren miteinander. In diesem Sinne ist für
mich auch der Begriff „personelle Ressourcen“11 problematisch, da er im Grunde einem
zweckrationalen Verständnis entspricht. Personen und Sachen werden auf eine Ebene
gebracht, die möglichst optimal im „Produktionsprozess“ einzusetzen sind.
Um nicht missverstanden zu werden: Zielorientierung ist wichtig, ebenfalls eine geeignete
Form der Organisation, um die anvisierten Ziele zu erreichen, aber diese zielorientierten,
zweckrationalen Vorgänge müssen eingebettet sein in einen sinnvollen
Praxiszusammenhang. Oder anders ausgedrückt: jeder einzelne Tag muss in sich seinen
Sinn haben und die Erfahrung vermitteln, dass die Lebenszeit der Lernenden – und wohl
auch der Lehrenden - nicht einer fernen Zukunft geopfert wird.
Es soll und kann hier keine Utopie der zukünftigen „guten Schule“ entworfen werden, nur
einige Hinweise auf einige mögliche zuträgliche Bedingungen.
•
Eine gute Schule wird Verschiedenheit bejahen
„Ähnliche Menschen bringen keine Stadt zuwege“ sagte Aristoteles. Das könnte auch für die
Schule gelten. Unterschiedliche Begabungen, unterschiedliche Herkünfte und
Lebenshintergründe, unterschiedliche Leistungsmöglichkeiten der Schüler/innen bieten
11
Karl Marx verstand unter Ressourcen noch „Springquellen des Reichtums“.
besondere Lernmöglichkeiten. Die Herausforderung für die Schule besteht darin, diese
Verschiedenheit fruchtbar werden zu lassen, in dem Sinne, dass Jeder und Jede
seinen/ihren besonderen Beitrag zum gemeinsamen Lernen leisten kann und dass dies auch
anerkannt wird. Dies kann und darf genauso für die Ebene der an und mit der Schule tätigen
Erwachsenen – Lehrpersonen, Schulleitung, Mitarbeiter/innen, Eltern – buchstabiert werden.
•
Effizienz geht nicht ohne Suffizienz
Vielleicht brauchen wir auch ein neues Gespür für das rechte Maß. Ein ständig nach
Optimierung und Effizienz ausgerichtetes Streben in der Einzelschule wie auch im
Bildungssystem als Ganzem führt zu Fehlentwicklungen und zu Erschöpfung. Wie in der
Diskussion um das weitere Wirtschaftswachstum inzwischen deutlich geworden ist, muss
das Streben nach Effizienz ergänzt werden durch ein Streben nach Suffizienz, also nach
Genügsamkeit und Maßhalten. Ich frage mich, ob nicht auch der Schule, der Einzelschule
wie auch dem System Schule, eine neue Bescheidenheit Not tue. Schule kann und soll nicht
„alles“ tun. Zu oft hat man den Eindruck, dass das von der Gesellschaft selbstredend
erwartet wird. In dem Maße wie die „Lernallmende“, also die Lernmöglichkeiten für
Jugendliche durch das Mittun in alltäglichen und außerinstitutionellen Lebens- und
Arbeitszusammenhängen abgenommen haben, steigen die Erwartungen an die Schule.
Schule kann und soll also nicht „alles“ tun, sondern „etwas“ und dieses „Etwas“ gilt es zu
bedenken, zu reflektieren, auf Schulebene zu realisieren und gemeinsam zwischen
Schulleitung, Lehrpersonen, Eltern und in der Oberstufe auch Schülern zu vereinbaren. Nicht
alles ist machbar, nicht alle Ziele sind erreichbar. Perfektion gibt es in sozialen Systemen
nicht. Zur Perfektion neigende Systeme werden totalitär.
•
Die Schule mutet den Jugendlichen andere Erfahrungen als in ihrem Alltag zu
Der Erziehungswissenschaftler Thomas Ziehe sagt, „…Schule solle ein Platzhalter für
Erfahrungen sein, die man alleine nicht machen würde“12. Dazu brauchen Schulen Regeln,
Rituale und Strukturen. Schulen brauchen nicht die örtlichen Jugendtreffs nachzuahmen,
ebensowenig die Wellnesstempel oder Einkaufszentren unserer Gesellschaft. Das heißt
nicht, dass sich Schulen gegen die Gesellschaft abschotten sollten oder könnten. Im
Gegenteil: Schulen sollen in selbstbewusster Weise Offenheit pflegen und gestalten,
Begegnungen mit Personen von außerhalb der Schule ermöglichen oder Lernerfahrungen
außerhalb der Schulmauern in nicht pädagogisch arrangierten realen Situationen anregen
und befürworten. Wie dies gut gelingen kann, damit sich Heranwachsende auch
herausgefordert fühlen, Schritte über sich hinaus zu tun und auch in unbekanntes Terrain
hinein, darüber sollen und müssen sich die in der Schule tätigen Personen verständigen.
Schluss
„Wir leben in einer Zeit steigender Erwartungen und sinkender Hoffnung“ schreibt Ivan Illich.
Erwartungen richten sich an Institutionen, an Systeme, an Apparate, an die Belieferung mit
Waren und Dienstleistungen. Hoffnung richtet sich auf ein Du, ein Gegenüber, dem ich von
Angesicht zu Angesicht gegenübertreten kann. „Ich bin zutiefst überzeugt, dass derjenige,
der nie im Auge eines Anderen eine auf ihn gerichtete Hoffnung hat aufglimmen sehen,
12
Ziehe, Thomas: Wie sich das Verhältnis zur „Wirklichkeit“ ändert, Vortrag in Hannover am 28.11.2013
entweder verkümmert oder um sich schlägt“ führt Marianne Gronemeyer die Überlegung
Illichs weiter.13
Das scheint mir wohl die wichtigste Aufgabe zu sein: daran weiter zu arbeiten, dass Schulen
auch zukünftig Orte sein können, wo nicht nur Abläufe optimiert werden, sondern wo in der
Begegnung von Personen Hoffnung lebendig werden kann. Diese Aufgabe ist eine
Herausforderung für die Bildungspolitik, für die Verwaltung und natürlich für die
Lehrpersonen und Schulleitungen vor Ort. Dieser Aufgabe sich zu stellen, macht die Würde
der in der Schule und der für die Schule tätigen Personen aus.
13
Gronemeyer, Marianne: Wie wäre es, Schule zu machen?, Vortrag an der Fachhochschule Nordwest-Schweiz,
Brugg, 2012