Eine medizinische Zusatzleistung - wir schreiben nicht nur Prüfungen. Ausgabe № 04 Charité WS1 4/1 5 Das nächste bitte. Das nächste bitte Editorial Liebe Neugierige, Ausgabe № 4 wurde wie die älteren Geschwister mit Mühe auf ihren Namen getauft: Das nächste bitte. Der Titel kann niemals den gesamten Inhalt unserer Campuszeitung widerspiegeln, denn auch diesmal haben wir uns bemüht, die ganze Bandbreite der Medizinstudierenden in Bild und Wort zusammenzutragen. Es gibt Unterhaltsames (Grimm's Anatomy; Finaler diagnostischer Test zur Quantifizierung des Erwachsenseins ), Gedichte (Erinnerung an den Sommer; Abendgebet; Erlkönig), Nachdenkliches (Arthur Schnitzler; Vom Helfer, der sich helfen lassen muss ), Kurzgeschichten (Kissenschlacht; Wächserne Masken ) und nicht zuletzt viele liebevolle Illustrationen. Gleichzeitig sind uns einige Artikel mit politischen und sozialen Themen zugeflogen, deren Wichtigkeit wir mit dem Titel betonen möchten. Das nächste bitte: Ist es wirklich alternativlos, Patient*innen wie am Fließband abzufertigen? (Mut zur Versorgungslücke) Ist eine Zukunft möglich, in der wir nicht resigniert auf den nächsten Krieg oder gar Genozid warten? (Arusha, shake hands with the Lt. Gen.; Banken und Atomwaffen ) Oder können wir auch einmal mit Nachdruck "Das nächste bitte" fordern, etwa in der Gleichstellungspolitik im universitären Gerangel, das von außen zu oft als festgefahren und überflüssig abgestempelt wird? (Gespräch mit der zentralen Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten der Charité) In diesem Sinne wünschen wir sowohl erhellendes als auch aufwühlendes Lese- vergnügen und freuen uns wie immer über Rückmeldungen und Anregungen, die Redaktion. Inhalt 01 — Banken und Atomwaffen — Frederik Holz 07 — Grimm's Anatomy — Markus Holstein 1 1 — Vom Helfer, der sich helfen lassen muss: Gedankengänge — Christine Zeides 1 2 — Gespräch mit der zentralen Frauen- und Gleichstellungbeauftragten der Charité — Paul Felsmann 1 5 — Kissenschlacht — Linda Polley 1 6 — Arthur Schnitzler: Im Reigen mit Psychoanalyse und Intuition — Anton Jacobshagen 1 8 — Erinnerung an den Sommer — Linda Polley 20 — Arusha: Shake hands with the Lt. Gen. 26 — Abendgebet — Johanna Nagel 27 — Wächserne Masken — Sofia Banzhoff 29 — Erlkönig — Christine Zeides 30 — Mut zur Versorgungslücke: Spielräume einer Medizin mit sozialer Verantwortung — Franziska Storbeck 34 — Finaler diagnostischer Test zur Quantifizierung des Erwachsenseins — Sofia Banzhoff Illustrationen 06 — Karikatur — Markus Holstein 1 0 — Sketch — Leonard Hillmann 1 4 — Fotokollage — Hannes Kutza 1 7 — Kollage — Franziska Storbeck 1 9 — Foto — Linda Polley 2 26 — Karikatur — Katharina Mindach 35 — Zeichnung — Sonja Radde Titelbild — Hannes Kutza Model — Johannes Bidmon Layout — Franziska Storbeck © Multiple Choice Redaktion: Die einzelnen Artikel geben nicht zwangsläufig die Meinung der gesamten Redaktion wieder. Für die Selbstdarstellung studentischer Initiativen ist die Redaktion nicht verantwortlich. Banken und Atomwaffen Frederik Holz Seit den frühen 60er Jahren gibt es in Europa die sogennanten Ostermärsche, bei denen die Zivilbevölkerung um Ostern herum in verschiedenen Städten unter anderem gegen Atomwaffen demonstriert. Angefangen hat diese Tradition mit der „Campaign for Nuclear Disarmanent“ (CND, der Organisation deren Logo sich als das „Peace“-Zeichen etabliert hat) in London und sie ist seitdem jährlich auch in Deutschland und anderen Ländern weitergeführt worden. Ich habe als deutscher Studierendensprecher der IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War) anlässlich des Ostermarsches eine Rede in Büchel gehalten, bei der es um die Finanzierung von Atomwaffen durch Großbanken ging. Büchel ist der letzte noch aktive AtomwaffenStützpunkt der US-Armee in Deutschland und Teil des sogenannten „Nuclear Umbrella“ der NATO. Dort befinden sich etwa 1 6-20 Atomraketen mit einer Sprengkraft, die Hiroshima oder Nagasaki um mehr als das 20-Fache übertrifft. Bei dem Ostermarsch wurde konkret ein Abzug dieser Waffen aus Deutschland gefordert: Die 1 0 größten Banken in Europa und Amerika haben in den vergangenen Jahren 235 Mrd. Dollar für unzählige Fehlverhalten aufbringen müssen. Die Höhe dieser Strafen entspricht mehr als der Hälfte des deutschen Bundeshaushalts. Normaler Weise nennen wir jemanden, der für so viele Vergehen vor Gericht zu so ungeheuer hohen Geldstrafen verurteilt wird, einen Verbrecher. Banken werden trotz dieser Vergehen immer noch als systemrelevant bezeichnet. Und in Notfällen können sie wohl wieder mit staatlichen Rettungsgeldern rechnen, so die Experten. Und es werden ständig neue Skandale aufgedeckt und weitere Ermittlungen eingeleitet: Der Liborzinsskandal, Betrügereien im Devisenhandel, Absprachen bei der Festlegung von Wechselkursen, Manipulationen, unangemessene Informationsaustausche, mannigfaltige Gerichtsurteile mit Strafen in Milliardenhöhe – Das alles sind Indizien für ein fehlendes Bewusstsein der Banken in Be- zug auf gesellschaftliche Normen und Prinzipien. Ethische Grundsätze spielen keine entscheidende Rolle und werden dem wirtschaftlichen Nutzen, dem Profit untergeordnet. Das zeigt uns, dass wir bei den Banken an der falschen Adresse sind, wenn wir als Bürger einen verantwortungsvollen Umgang mit unserem Geld suchen; von einem verantwortungsvollen Umgang mit unseren Mitmenschen und unserer Umwelt ganz zu schweigen. Auch die staatlichen Mechanismen, diese Straftaten und dieses Fehlverhalten der Banken einzudämmen, greifen nicht wirklich. So setzt sich attac bereits seit über 1 5 Jahren für eine Finanztransaktionssteuer ein – für mehr Kontrolle an den Finanzmärkten – doch selbst die Finanzkrise hat nicht merklich dazu beigetragen, eine solche Kontrolle herbeizuführen. Ähnlich verantwortungslos sind Banken und Regierungen, wenn es um die Finanzierung von Bereichen geht, durch die auf kurze oder lange Sicht große Probleme für den Menschen und seine Umwelt entstehen: Kleinfeuerwaffen, Atomenergie, rückschrittliche Energiesektoren, Nahrungsmittelspekulation, Steueroasen und, für Büchel ganz besonders wichtig, Atomwaffen. Die 1 90 Mitgliedsstaaten des Atomwaffensperrvertrags oder Nichtverbreitungsvertrags von 1 970 verpflichten sich dazu, sich in redlicher Absicht um Abrüstung zu bemühen, um so die Verwüstung, die ein Atomkrieg über die ganze Menschheit bringen würde, abzuwenden. Die Vertragsstaaten stimmen überein, dass die Verbreitung von Kernwaffen die Gefahr eines Atomkrieges ernstlich erhöhen würde. Daher müssen frühestmögliche Maßnahmen zu einer effektiven nuklearen Abrüstung ergriffen werden. Im Artikel VI verpflichten sich alle Vertragsparteien, zur vollständigen nuklearen Abrüstung beizutragen. Leider findet man in der Praxis keine wirkliche Umsetzung dieser Vereinbarungen. Zwar wurde die Anzahl der Sprengköpfe seit Hochzeiten des kalten Krieges von 70.000 auf 1 7.000 reduziert, doch die einzelnen Waffen nehmen an Sprengkraft zu, die Arsenale werden ständig weiter modernisiert und technisch verbessert. 1 7.000 Banken und Atomwaffen 3 atomare Sprengköpfe auf unserem Planeten – immer noch genug für einen multiplen Overkill. 2.000 der Waffen befinden sich in hoher Alarmbereitschaft und sind innerhalb weniger Minuten einsetzbar. Das sind immer noch äußerst beunruhigende Zahlen, wenn man bedenkt, dass jede Atombombe in einem Augenblick mehrere hunderttausend, ja sogar Millionen Menschenleben auslöschen kann. Eine anhaltende Finanzierung von Atomwaffentechnologien und Atomwaffenherstellern steht damit im Widerspruch zu dem Ziel einer weltweiten Abrüstung. Deutschland spricht sich in seiner Abrüstungspolitik für das Ziel „Global Zero“ aus. Dann sollten auch Schritte folgen für militärische Stützpunkte, wie dem hier in Büchel, und auch für die Finanzierung dieser NuklearwaffenTechnologien. Jährlich werden von den Atomwaffenstaaten dieser Welt über 1 00 Mrd. Dollar für Atomwaffen ausgegeben, das sind über 200 Mio. Euro pro Tag. Die USA allein investieren jedes Jahr über 60 Mrd. Dollar – das wäre genug, um die international vereinbarten MillenniumEntwicklungsziele in der Armutsbekämpfung zu erreichen. Trotz eines immer wieder erneuerten Bekenntnisses zu einer atomwaffenfreien Welt investieren alle Atommächte weiterhin enorme Summen in diese völkerrechtswidrigen Waffen – Waffen, deren Einsatz illegal ist und auf dessen Abschaffung sich die internationale Staatengemeinschaft bereits geeinigt hat. Das Geld könnte genutzt werden, um transparentere und effektivere Kontrollmechanismen zur Abrüstung ins Leben zu rufen, um Bildung, Sozialleistungen, Gesundheitswesen und Katastrophenschutz auszubauen. Das Budget für nationale Abrüstungsbestrebungen ist dagegen winzig. Das verantwortliche Hauptorgan der UN, das Office for Disarmament Affairs, hat ein jährliches Bugdet von gerade einmal 1 0 Mio. Dollar. Die Summe für die Abrüstungsbemühungen der Weltgemeinschaft ist also ein Zehntausendstel verglichen mit den Ausgaben für Atomwaffen allein – die übrigen Rüstungsausgaben nicht mit eingerechnet. UNGeneralsekretär Ban KiMoon brachte es auf den Punkt: „Die Welt ist überbewaffnet und Frieden ist unterfinanziert.“ Die Studie „Don't Bank on the Bomb“ von Pax Christi und ICAN zeigt: Auch die meisten großen Banken in Deutschland haben Geschäftsbeziehungen mit Unternehmen, die Atomwaffentechnolo- 4 Banken und Atomwaffen gie herstellen, entwickeln oder warten; von Atomsprengköpfen und Trägersystemen über Raketen und Bombern bis hin zu atomwaffenfähigen UBooten. Und fast alle bekannten Banken sind dabei: Allen voran die Deutsche Bank mit insgesamt 3,6 Mrd. Euro, die Commerzbank mit 1 ,8 Mrd. Euro, Allianz Versicherungen mit 1 ,1 Mrd. Euro, das staatliche Kreditinstitut für Wiederaufbau (KfW), die Landesbanken von Bayern und Hessen, und auch die Sparkassen und die Volksbanken. Insgesamt sind das fast 7,6 Mrd. Euro, mit denen deutsche Banken durch Aktien, Kredite oder Anleihen Atomwaffenproduzenten unterstützen. Im globalen Geschäft mit Massenvernichtungswaffen nimmt Deutschland den vierten Platz ein. Sparkassen und Volksbanken sind mit jeweils ca. 80 Mio. Euro mit weitaus geringeren Summen beteiligt als beispielsweise die Deutsche Bank oder die Commerzbank. Dennoch: jeder Euro, der in diese todbringende Technologie investiert wird, ist ein Euro zu viel. Viele Banken haben interne Rüstungsrichtlinien. Diese verbieten ihnen zwar eine Finanzierung von direkten Transaktionen im Zusammenhang mit sogenannten „kontroversen Waffen“, wie Atomwaffen oder Streumunition. RüstungsMischkonzerne, die nur einen Teil ihres Umsatzes im Bereich Atomwaffen machen, scheinen jedoch nicht darunter zu fallen. Auch gibt es keine Firma, die ausschließlich Atomwaffen produziert. Anstatt abzurüsten wird also weiter in Waffen investiert. Anstatt die Atomraketen abzuziehen, sollen sie in Europa erneuert und modernisiert werden. B61 1 2 heißen die neuen Atombomben, die hier in Büchel stationiert werden sollen. Mit dem Trägerflugzeug, dem sog. Tornado, üben deutsche Soldaten hier weiterhin die Einsätze der Waffen. Einer dieser Jagdbomber ist noch vor wenigen Wochen hier in der Umgebung abgestürzt – menschliches oder technisches Versagen? Beides hätte katastrophale Folgen gehabt, wären Nuklearwaffen an Bord gewesen! Die neuen Bomben, die bis 2050 bestehen bleiben sollen, werden laut Schätzung ca. 51 0 Mrd. Dollar kosten – ein teures nukleares Erbe für die nachfolgenden Generationen. Für eine bessere Sicherung der Nuklearwaffenlager, für die Trägerflugzeuge, die Lagerung, erforderliche Modernisierung und Bewachung kommen erhebliche Kosten auf die Stationierungsländer, also auch auf uns hier in Deutschland, zu. Die genaue Höhe der Summen ist jedoch geheim und verbirgt sich im Verteidigungsetat. Gerade jetzt befinden wir uns wieder in einer brenzligen Situation, die deutlich macht, wie schnell Konflikte außer Kontrolle geraten. Das Geschehen in der Ukraine zeigt, wie Aufrüstungsspiralen auch in Europa in Gang kommen können und wie schnell der Frieden auf unserem Kontinent bedroht sein kann. Umso wichtiger ist es, klar zu stellen, dass Atomwaffen keine Sicherheit garantieren. Im Gegenteil: Notwendig ist ein Verbot und die Abrüstung aller Atomwaffen, damit in zukünftigen Krisen niemand mehr auf die nukleare Bedrohung setzen kann. Unser Bundespräsidenten Gauck, unsere Verteidigungsministerin von der Leyen und unser Außenminister Steinmeier haben im Kanon gefordert, dass Deutschland international mehr Verantwortung übernehmen soll: für eine Welt, von der Deutschland in besonderem Maße profitiert. In ihren Reden wurde klar, dass sich diese Verantwortung auch auf die Bereitschaft zu militärischer Unterstützung der Bündnispartner bezieht. Zu dieser Forderung will ich zwei Sachen sagen: Zum einen sollte sich die Art und Weise ändern, wie Deutschland von der aktuellen Weltordnung profitiert. Denn Deutschland ist der drittgrößte Waffenexporteur der Welt und trägt somit massiv zu einem Ungleichgewicht durch Waffengewalt auf unserem Planeten bei! Zum anderen sollte Deutschland vielmehr in der Weise Verantwortung auf dem internationalen Parkett übernehmen, dass es friedliche Konfliktlösungen mit aller Kraft anstrebt. Wir sollten uns bemühen, global die friedenspolitischen Prozesse in Form von Dialog und Völkerverständigung voranzutreiben. Anstatt dass wir uns an bewaffneten Konflikten beteiligen, Teil eines nuklearen Abwehrschirms sind und Waffen in Staaten exportieren, in denen massivste Menschenrechtsverletzungen begangen werden und in denen es keinerlei politische Stabilität gibt. Wir exportieren Waffen und ihre Lizenzen in alle möglichen Länder der Welt, in Diktaturen, in Monarchien und in Krisen und Konfliktgebiete. Diese Waffen werden unter anderem genutzt, um mit Gewalt, also unrechtmäßig und undemokratisch, Interessen durchzusetzen und Strukturen zu stärken, die den Menschen dort großes Leid und Schrecken bringen. Wenn sich die Menschen in diesen Regionen dann dazu entscheiden, vor Gewalt und Konflikten zu fliehen, dann werden sie zu Flüchtlingen. Als drittgrößter Waffenexporteur ist Deutschland also maßgeblich an den Flüchtlingsströmen dieser Welt beteiligt und dafür mitverantwortlich. Wo bleibt aber hier die Verantwortung, wenn es darum geht, den Menschen, die vor den Waffen aus Europa und der von ihnen erzeugten Gewalt fliehen, hier ein sicheres zu Hause zu bieten und ihnen Asyl zu gewähren? Ich erwarte mehr Verantwortung, wenn es darum geht, in internationalen Konflikten die Rolle des Vermittlers einzunehmen und sich für Frieden in Europa und der Welt einzusetzen und nicht für Krieg! Wir müssen uns endlich lösen von dem Blockdenken aus längst vergangenen Zeiten! Wann fangen wir an, alle Seiten kritisch zu hinterfragen und mit Ost und West gleichsam in Dialog zu treten? Es ist also offensichtlich, dass weder von den Banken, noch von staatlicher Seite initiale Veränderungen ausgehen. Das hat uns die anhaltende Finanzkrise gelehrt und das zeigen uns Rüstungsausgaben und exporte, und die neuen Töne unserer Regierung in puncto Verantwortung. Der Allianz-Global-Investors-Sprecher Stefan Lutz hat gesagt: „Solange von Seiten der Politik keine klare Gesetzgebung erfolgt, ist es nicht Aufgabe der Wirtschaft, gegen Firmen zu intervenieren, die an der Herstellung von Atomwaffen beteiligt sind.“ Damit solche lahmen Ausreden nicht länger durchgehen, sollten wir unsere Verantwortung nicht weiter abgeben und darauf warten, dass etwas passiert, sondern selbst die Initiative ergreifen! Wenn wir tatsächlich etwas verändern wollen, dürfen wir weder den Banken und Konzernen noch der Regierung die moralischen Entscheidungen überlassen. Denn sie sind offenbar nicht in der Lage, sie richtig zu treffen. Daher müssen wir, die Zivilbevölkerung, diese Aufgabe selbst in die Hand nehmen und die nötigen Schritte gehen: ICAN, die International Campaign to Abolish Nuclear Weapons, hat im März 201 3 eine Konferenz in Oslo über die humanitären Folgen von Atomwaffen veranstaltet. 1 27 Staaten haben teilgenommen und das Fazit war: Die Auswirkungen eines Atomwaffeneinsatzes sind so unmenschlich und inakzeptabel, dass diese Waffen international geächtet werden müssen. Eine Folgekonferenz im Februar diesen Jahres in Mexiko, an der bereits 1 46 Regierungsvertreter Banken und Atomwaffen 5 teilgenommen haben, bestätigte diese Haltung und leitete einen Prozess ein, der nun nicht mehr aufgehalten werden kann: Die dritte Konferenz wird noch dieses Jahr in Wien stattfinden und dort werden konkrete Schritte zur Ächtung von Atomwaffen geplant. Ein Konventionsentwurf mit realistischen und durchführbaren Abrüstungsmechanismen wurde bereits als offizielles UNDokument veröffentlicht. Ein weiterer Schritt wird sein, öffentlichen Druck zu erzeugen und so eine Ächtung von Atomwaffen herbeizuführen. Bei Streumunition und Landminen war dieser Prozess schon erfolgreich! Die Banken sind aus diesen Geschäften ausgestiegen, weil es ihrem Image schadet. Aus Angst, Kunden zu verlieren, haben einige bereits ihre Geschäfte mit der Nahrungsmittelspekulation beendet. Indem wir Banken und Regierungen klar machen, dass wir die grausamen Folgen eines Atomwaffeneinsatzes und die Kosten für Bau und Instandhaltung dieser Waffen nicht länger akzeptieren, können wir etwas bewegen. ICAN, atomwaffenfrei.jetzt, (wir) die IPPNW und andere Friedensorganisationen starten zu diesem Zweck gerade eine DivestmentKampagne, mit dem Ziel, die Investition in Atomwaffentechnologien gesetzlich zu verbieten. Das hat in der Schweiz schon geklappt. Genau wie andere kontroverse Waffen darf auch die grausamste und zerstörerischste aller Waffen nicht mehr länger als eine ertragreiche Investition dienen. Der südafrikanische Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu sagt: „Banken Karikatur: Markus Holstein 6 Banken und Atomwaffen und andere Finanzinstitute sollten genötigt werden, das Richtige zu tun: Nämlich zu einem Kapitalabzug von der unmoralischen Atomwaffenindustrie beizutragen.“ Er berichtet, dass „Divestment“ eine entscheidende Rolle gespielt hat, um die Apartheid in Südafrika zu beenden. Heutzutage könne und müsse die gleiche Taktik eingesetzt werden, um die schlimmste Erfindung des Menschen herauszufordern: die Atombombe. Deswegen: Lasst mit eurem Geld nicht unwissend Dinge entstehen, die ihr unter keinen Umständen dulden würdet! Geht auf www.bankwech seljetzt.de oder www.atombombengeschäft.de und informiert euch. Schreibt einen Brief an eure Bank, macht euren Unmut klar und wechselt die Bank. Unterstützt ICAN und unsere Divestment Kampagne. Verbreitet das Wissen über die unschönen und rücksichtslosen Praktiken der Banken und Regierungen. „Ihr seid Multiplikatoren!“ Wir müssen Freunde, Kinder, Eltern, Kollegen und die Menschen in unserem Umfeld über die Verhältnisse aufklären und ein Umdenken anregen, den Samen des Zweifels sähen und die gangbaren Alternativen verbreiten. Wir müssen aus Minderheiten Mehrheiten bilden und die Verantwortung selbst in die Hand nehmen! Hinweis: Die Daten über die Investitionen beziehen sich auf die Studie "Don't Bank on the Bomb" und haben sich seither ein wenig geändert. Die aktuelle Studie ist einzusehen auf: www.dontbankonthebomb.com Grimm's Anatomy Markus Holstein Ein Medizinstudent zu sein ist eine feine Sache, hat aber auch ein paar unerwartete Schattenseiten: Zum Beispiel fällt es schwer, seine Umwelt von einem anderen Standpunkt aus als dem medizinischen zu betrachten. Du kannst kein Stück Seife sehen, ohne daran zu denken, dass es mit mehr Bakterien bedeckt ist als ein durchschnittlicher Toilettensitz, du kannst dich auf keinen Bürosessel setzen, ohne daran zu denken, dass dieses Ding das pure Gift für deine Wirbelsäule ist. Du kannst ja noch nicht mal die guten alten Grimm’schen Märchen lesen: Rotkäppchen Sprechender Canide schickt kleines Mädchen, anstatt sie sofort zu fressen, auf einen Umweg zum Blumenpflücken, verspeist anschließend deren Großmutter, verkleidet sich als diese und lockt so die nichtsahnende Enkelin in seine „so großen Hände“. Entgegen der üblichen Gepflogenheiten hundeartiger Raubtiere verschlingt unser Wolf seine Beute en bloc. Nehmen wir an, dass Rotkäppchen mindestens sieben Jahre alt ist (ein noch jüngeres Kind würde hoffentlich niemand allein in einen Wald voller Wölfe schicken). Selbst wenn sie auf der dritten Perzentile läge und an der Grenze zu Minderwuchs und Untergewicht schlingern würde, wäre eine Größe von 1 1 3 cm und ein Gewicht von 1 7 kg zu erwarten. Bei ihrer Großmutter, die sich offenbar vornehmlich von Kuchen und Wein ernährt, sind noch höhere Werte zu erwarten. Infolgedessen ist zumindest mit einer Magenruptur und Läsionen des Ösophagus, wahrscheinlicher jedoch mit hochgradigen Lazerationen sämtlicher Hals- und Bauchorgane zu rechnen. Anschließend wird an unserem bedauernswerten Carnivoren von einem Forstarbeiter ohne medizinische Vorkenntnisse ein abdomineller Eingriff unter sehr unzureichenden hygienischen Bedingungen und ohne Narkose vorgenommen. Im Rahmen dieser martialischen Prozedur werden ihm mehrere Wackersteine in den Magen eingenäht. Was die zwei zappelnden Frauen in seinem Bauch bisher nicht an inneren Verletzungen ange- richtet haben, erfolgt spätestens jetzt. Das allerdings macht auch keinen Unterschied mehr, da der Wolf anschließend in einem Brunnen ertrinkt. Dies alles sei aber den Veterinären überlassen. Beschäftigen wir uns lieber mit den menschlichen Opfern: Rotkäppchen und ihre Großmutter werden über einen nicht spezifizierten Zeitraum im Magen des Wolfes eingeschlossen, unter Ausschluss von Sauerstoff und dem säurehaltigen Magensaft mit einem pH von 1 ,5–3,5 ausgesetzt. Obschon sie diese Tortur (irgendwie) überleben, dürfte dies ein traumatisierendes Erlebnis darstellen. Für beide werden Monate oder Jahre mit regelmäßigen Therapiesitzungen folgen. Außerdem wäre bei Rotkäppchen mal ein Besuch beim Ophthalmologen fällig. Schließlich hat sie auf kürzeste Distanz einen Wolf mit ihrer Großmutter verwechselt. Hänsel und Gretel Verzweifelte Eltern aus dem sozialen Brennpunkt setzen ihre Kinder zum Sterben im Wald aus. Sie geraten an eine böse Hexe in einem Pfefferkuchenhaus, die sie gefangen nimmt, den einen als Braten mästet, die andere als illegale Putzhilfe versklavt. Den offensichtlichen medizinischen Schaden in dieser Geschichte erleidet die Hexe, als sie von ihrer Haushaltshilfe und ihrem Mittagessen lebendig verbrannt wird. Dies führt zu einem akuten Verbrennungstod durch Hitzeschock, was relativ schnell geht (aber in einem Ofen ist „relativ schnell“ wohl relativ). Häufig übersehen im Zusammenhang mit dieser Geschichte wird der Schaden, den die Kinder erleiden: Hänsel wird von der Hexe über einen nicht näher bestimmten Zeitraum mit Süßigkeiten gemästet. Adipositas mit diabetischer Diathese, höheres Risiko für cardiovaskuläre Erkrankungen, Gelenkprobleme und ein erhöhtes Krebsrisiko sind die Langzeitfolgen. Nicht zu vergessen der durch einseitige Ernährung verursachte Mangel an Vitaminen und Mikronährstoffen und die Karies durch übermäßige Zufuhr simpler Kohlenhydrate! In Verbindung mit der mangelhaften Mundhygiene, die ich bei Gefangenen kannibalischer Hexen in Grimm's Anatomy 7 einer entwicklungstechnisch irgendwo zwischen dem Mittelalter und dem frühen 1 9. Jahrhundert anzusiedelnden Märchenwelt als gegeben voraussetzen möchte, führt dies rasch zu einer Caries penetrans mit konsekutiver Bakteriämie und Tod durch septischen Schock. Und dies sind nur die körperlichen Leiden. Vergessen wir nicht, dass beide Kinder von ihren Eltern in einem gruseligen Wald ausgesetzt und von einer Hexe gefangen gehalten wurden, mit der erklärten Absicht, sie zu verspeisen. Anschließend mussten sie den qualvollen Feuertod nämlicher Hexe miterleben. Für sowohl Hänsel als auch Gretel müssen wir eine schwere posttraumatische Belastungsstörung annehmen. Gerade bei Kindern wird hierbei ein erhöhtes Risiko für eine Borderline-Persönlichkeitsstörung diskutiert sowie für Depression, Angststörung, Drogen-Abhängigkeitssyndrome und Suizidalität. Man ist versucht, zu fragen, ob da die Hexe nicht vielleicht besser dran sei. Die Frage nach möglichen Wirbelsäulenproblemen bei der Ente, die die beiden Kinder (eines davon massiv überernährt) über einen Fluss getragen hat, übergeben wir hiermit an einen Kollegen aus der Veterinärmedizin. Rapunzel Verantwortungslose Eltern (schon wieder) tauschen erstgeborene Tochter gegen Feldsalat ein. Gut, der enthält Folsäure, Magnesium, Eisen und Betacarotin, aber trotzdem … Eine böse Hexe zieht die Kleine fernab der Zivilisation in einem hohen Turmgemach auf. Es gibt keine Treppe (von einem Aufzug ganz zu schweigen. Merke: Märchen sind nicht barrierefrei), also führt nur ein Weg hinauf: die unglaublich langen Haare der Bewohnerin. Der Autor möchte sich an dieser Stelle nicht darüber auslassen, dass die Maximallänge von Haaren von der Dauer des Haarzyklus begrenzt wird. Die längsten jemals bei einem Menschen gemessenen Haare maßen 1 6,8 m und es dauerte 25 Jahre, bis sie diese Länge erreichten. Das wäre doch schon mal eine ganz stattliche Höhe für einen Turm. Ich will mich auch nicht fragen, wie die Hexe die Kleine, die sie als Neugeborenes an sich gebracht hat, überhaupt auf diesen Turm hinaufbekommen hat. Auch will ich mich nicht lange aufhalten mit Nackenproblemen, die das Mädchen im Laufe der Zeit sicher entwickeln müsste, da ihre enorme Haarpracht mehrere Kilogramm schwer wäre. Ich springe lieber gleich zu dem spannenden, da blutigen Teil der Geschichte: Der stattliche Prinz (wer auch sonst? Nicht-königliche Typen sind soooo gewöhnlich), der zu Rapunzel hinaufgeklettert ist, wird von der bösen Hexe von dem Turm gestoßen, landet in einem Dornengestrüpp und zersticht sich beide Augen. Das ist aber gar nicht schlimm, denn diese werden auf durch evidenzbasierte Medizin nicht hinreichend geklärte Art und Weise durch Rapunzels Tränen geheilt (Wann bringt die Deutsche Homöopathische Union wohl „Mädchentränen D30“ heraus?) – bedauerlicherweise nicht seine multiplen Trümmerbrüche und inneren Verletzungen nach dem Sturz. Doch nehmen wir einmal an, unser Held kommt auch damit zurecht und reitet mit seiner neuen Flamme in den Sonnenuntergang. Glücklich bis ans Ende aller Tage? Wohl kaum! Bedenken wir, dass Rapunzel in fast völliger Isolation außerhalb der menschlichen Gesellschaft aufgewachsen ist. Ihre einzige Bezugsperson, die ihr soziale Normen hätte beibringen können, war eine Schwarzmagierin und Kinderhändlerin. Wahrscheinlich würde Rapunzel ihrem Prinzen die frisch geheilten Augen gleich wieder auskratzen, einfach nur, weil sie nicht weiß, dass man das nicht tun darf. Dornröschen Monarch lädt anlässlich der Geburt seiner ersten Tochter zwölf Feen ein. Für die dreizehnte ist kein güldenes Tellerchen mehr übrig, also muss sie draußen bleiben. Frustriert hält sie es für eine angemessene Reaktion, den blaublütigen Säugling mit einem Fluch zu belegen: An ihrem fünfzehnten Geburtstag 8 Grimm's Anatomy solle sie sich mit einer Spindel in den Finger stechen und sterben (Und ihr dachtet, die Zicken auf eurer Geburtstagsparty würden Stress machen). Durch eine der anderen anwesenden Feen kann der Fluch in einen 1 00-jährigen Schlaf umgewandelt werden. Ich ignoriere jetzt einmal bewusst den Umstand, dass die soporöse Protagonistin innerhalb der 1 00 Jahre einfach an Altersschwäche versterben müsste. Auch übergehe ich, dass sie ohne Flüssigkeitszufuhr abhängig vom Klima binnen einer Woche bis maximal zehn Tagen terminal exsikkieren würde. Selbst wenn der Fluch sie auf magische Weise die ganze Zeit mit Wasser und Nährstoffen versorgen sollte, hätte sie nach nur wenigen Monaten regungslosen Herumliegens einige ernste Probleme, angefangen bei ausgeprägter Muskelatrophie über Sehnenkontrakturen bis zu schwerem Dekubitus. Bei hochgradigen Dekubitalgeschwüren in Kombination mit schlechter Hygiene (selbst wenn Dornröschen während ihres hundertjährigen Schlafes keinerlei Nahrung zu sich nimmt, schilfern sich pro Tag 200 g ihrer Darmepithelzellen ab; sie muss daher immer noch defäzieren – und es ist keiner da, um sie sauber zu machen) entwickeln sich schnell schwere Wundinfektionen. Diese können generalisieren – es droht der Tod durch schwere Sepsis. Mit anderen Worten: Dornröschen steht prototypisch für das Vollbild des Pflegenotstandes im Märchenland. Nach 1 00 Jahren schließlich wird unsere Prinzessin von ihrem stattlichen Prinzen (von wem auch sonst? S. o.) wachgeküsst. Es ist eine einfachere Welt, in der das unaufgeforderte Küssen schlafender Frauen nicht als sexuelle Belästigung betrachtet und mit plötzlichem Aufkreischen und schallenden Ohrfeigen beantwortet wird, sondern einem die ewige Liebe der betreffenden Dame einbringt. Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage? Ich möchte es bezweifeln. Vergessen wir bitte nicht, dass Dornröschen inzwischen 1 1 5 ist. Nun ich habe wirklich nichts gegen Paare mit hohem Altersunterschied, aber irgendwo muss man eine Grenze setzen … Brunnen. Ein Frosch erbietet sich, ihn wieder heraufzuholen, allerdings nur im Austausch gegen Intimitäten. Kerle denken halt alle nur an das Eine, egal, ob gleich- oder wechselwarm. Natürlich verweigert die Prinzessin sich ihm. Als die geprellte Amphibie ihr aber hinterhergehüpft kommt, nötigt ihr Vater sie, ihren Teil der Vereinbarung einzuhalten. Je nach Variante des Märchens küsst sie ihn daraufhin oder wirft ihn an die Wand, woraufhin er sich in einen schneidigen Königssohn verwandelt. Medizinisch gesehen ist beides bedenklich: Im Falle eines Kusses würde unsere Prinzessin eine Infektion mit Chlamydia psittaci riskieren, mit Leptospirose oder Salmonellen. Von oralen Kontakten mit Amphibien jeglicher Art ist generell abzuraten. Noch übler trifft es der Froschkönig in der zweiten Variante: Die Hochzeit mit der schönen Prinzessin scheitert hier an seinem massiven Polytrauma, da seine Zukünftige ihn volle Möhre an die Wand geworfen hat. Frau Holle Zwei ungleiche Halbgeschwister (die beide Marie heißen) gelangen beide nacheinander durch einen Brunnen zu der geheimnisvollen Frau Holle, die sie für Kost und Logis als Haushaltshilfen ausbeutet (die Parallele zur Knusperhexe ist einleuchtend). Die Goldmarie, die sich das willig gefallen lässt, wird mit Kleingeld überschüttet und abermals durch den Brunnen geschickt, zurück zu ihrer bösen Stiefmutter. Die Pechmarie allerdings, die Rebellischere der beiden, wird zum Abschied mit flüssigem Pech übergossen. Nun, der Softening-Point von Pech liegt zwischen 1 08,4 °C und 1 1 2,3°C, flüssig ist es bei noch höheren Temperaturen. Die Pechmarie würde also schwerste Verbrühungen am Großteil ihrer Körperoberflache erleiden. Je 1 0 % KOF gibt es einen Punkt im Abbreviated Burn Severity Index (ABSI); wurde der Patient vollständig überschüttet, ist seine Prognose schlecht. Darüber hinaus steht Pech im Verdacht, kanzerogen zu sein. Und so was lesen wir unseren Kindern vor. Der Froschkönig Einer Prinzessin fällt ihr goldener Ball in einen Grimm's Anatomy 9 Um die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu stärken, expandiert die Charité nun auch ins SuperheldenFilmgeschäft. 10 Vom Helfer, der sich helfen lassen muss Gedankengänge Christine Zeides Die Götter sind unsterblich – sie besitzen die himmlische Immunität. Für den Arzt als „Halbgott in Weiß“ gilt dieses Prinzip in gewisser Weise auch. Seine Rolle ist klar auf der gegnerischen Seite von Krankheit positioniert, er ist der unverletzliche Helfer und Heiler – der, der berührt und selbst unberührt bleibt. Der schillernde Hoffnungsträger seiner Patienten. Was aber, wenn der Arzt selbst zum Patienten wird? Wenn der Körper, den er als Student bis in die kleinste Kapillare studiert, seziert, verstanden hat, eben diese Existenz bedroht? Die Konfrontation mit der eigenen Verletzlichkeit hat einen drastischen und unfreiwilligen Perspektivwechsel zur Folge – Arztrolle und Patientenrolle kollidieren und sind nahezu unvereinbar. Während vom Arzt Universalismus, Kollektivitätsorientierung, affektive Neutralität und funktionale Spezifität erwartet werden, wird der Kranke von der beruflichen und privaten Rollenverpflichtung entbunden, um seine Bemühungen um die eigene Wiederherstellung mit aller Kraft und in Kooperation mit Ärzten konzentriert zu bündeln. Sicherlich geben Lehrbücher sinnvolle Hinweise zum Umgang mit Schwerkranken, beispielsweise Krebspatienten: Dass man die Hilflosigkeit des Patienten verstehen und ihm im Umgang mit seinen Ängsten Beistand leisten soll – dass man sich nicht zurückziehen, sondern helfen soll, die Lebensqualität in der Zeit nach der Diagnosestellung noch zu verbessern – dass man die Gefühle des Patienten ernst nehmen und respektieren soll, ohne dabei von eigener Betroffenheit oder Mitleid abgelenkt zu werden. Inwiefern diese Techniken aber bei Personalunion von Arzt und Patient möglich und wirksam sind, scheint doch eher fragwürdig. Manchem Arzt wird es nicht leicht fallen, die eigene Schwäche zuzugeben oder über- Sketch: Leonard Hillmann haupt erst ernst zu nehmen – er ist es gewohnt, Stärke und Rationalität nach außen hin zu zeigen, um den Schützlingen Kraft und Mut in schweren Situationen zu geben. Wenn er dies aber tut, so fehlen ihm noch andere Schutzmechanismen, die dem normalen Patienten ganz automatisch zur Verfügung stehen. Dem Arzt fehlt der Schutz des Nichtwissens. Welcher „normale“ Patient überblickt schon, unter welcher Anstrengung und mit welchen Risiken eine schwierige Operation vor sich geht? Das Vertrauen in den behandelnden Arzt ist das Einzige, was dem Patienten bleibt. Wie aber empfindet ein passionierter Chirurg diese Situation, der einen selbst so häufig durchgeführten Eingriff nun in die Hände eines Kollegen legen muss? Wie erlebt ein Neurologe die schleichende Demenz, nachdem er die Schicksale vieler anderen mitverfolgt und aufs Bestmögliche verzögert hat? Und wie handelt ein Mediziner, der sich selbst die gefürchtete „schlechte Nachricht“ überbringen muss? Der Arzt bleibt Kollege seines Arztes. Auch dem behandelnden Arzt fällt es zumeist schwer, richtig mit dem ungewohnten Patienten umzugehen. Einerseits möchte er sich besonders gut zeigen (weil der Kollege doch sicherlich jeden Behandlungsfehler erkennen müsste) – andererseits dichtet er dem Hilfesuchenden mehr Wissen an, als dieser eigentlich in seiner Situation besitzt. Dass die Behandlung so zum Arzt-Patienten-Gespräch und nicht zum Plausch unter Kollegen wird könnte sich als schwieriger Balanceakt für beide erweisen. Der Arzt kennt die andere Seite der Narkose. Er hat selbst die Abläufe viele Male erfolgreich durchgespielt. Er kennt alle Handgriffe, er kennt die Anspannung hinter den Kulissen, er könnte handeln – wenn er zum Handeln fähig wäre und nicht tatenlos zusehen müsste, wie ihm geholfen wird. Der Arzt ist sicherlich der bessere Patient – wenn er erst einmal in dieser Rolle angekommen ist. Vom Helfer, der sich helfen lassen muss 11 „Wir können nicht davon ausgehen, wir hätten die Gleichstellung irgendwo auch nur ansatzweise erreicht.“ Gespräch mit der zentralen Frauen- und Gleichstellungbeauftragten der Charité, Dr. Christiane Kurmeyer und Nachdenken über einen angemessenen Geschlechterbegriff Paul Felsmann Die Welt ist ungerecht. Soweit nichts Neues. Aber das Streben nach „Gleichberechtigung“ scheint seit einigen Jahren ein relativ fixer Bestandteil des politischen Konsenses zu sein. Und das ist auch gut so. Befinden wir uns als Gesellschaft also auf dem Weg der Besserung? Mitnichten. In den Kommentarspalten des Internets, sowie am heimischen Stammtisch werden uns die Augen geöffnet. Aus unseren Bemühungen sind nur neue Probleme erwachsen: Der GenderWahnsinn hat die deutsche Hochschullandschaft fest im Griff. Uns allen droht die Indoktrination mit der Genderismus-Ideologie. Selten habe ich ein Thema erlebt, über das so ausdauernd, emotional und gleichzeitig auf so niedrigem Informationsniveau gestritten wird, wie über Gender-Mainstreaming und die Gleichstellung der Geschlechter. Aber wie kann Gleichstellungsarbeit in einem Universitätsklinikum konkret aussehen? Um eine Vorstellung davon zu bekommen, habe ich ein Gespräch mit Dr. Christiane Kurmeyer, der zentralen Frauen- und Gleichstellungbeauftragten der Charité, geführt. Grundsätzlich ist ein Blick auf die Geschlechterverhältnisse in den verschiedenen Statusgruppen im Umfeld der Charité interessant. So ist inzwischen die Mehrzahl aller Student*innen weiblich – ähnliches gilt bei der Promotion. Mit der Habilitation ändert sich dieses Verhältnis jedoch. Etwa 80 % aller Professuren sind männlich besetzt. In der Pflege hingegen sind zu 80 % Frauen beschäftigt. Das hat sicher vielfältige Gründe. Zentral ist auf jeden Fall aber ein festgefahrenes Verständnis davon, was die Instanz des Geschlechts für uns bedeutet. Das bildet den Nährboden, auf dem 12 sich strukturelle Ungerechtigkeiten entwickeln können. Darunter leiden, je nach Situation, sowohl Frauen als auch Männer, sowie natürlich auch alle Menschen, deren Identität sich außerhalb unseres überholten binären Geschlechterbild findet. Eine rein auf Frauen fokussierte Arbeit erklärt Christiane Kurmeyer in diesem Sinne für unzureichend. Frauen müssten keine Nachhilfe in Form spezieller Förderung erhalten, um wettbewerbsfähig gemacht zu werden. „Die Frauen haben gesagt: Wir wollen nicht gefördert werden, weil wir Frauen sind, sondern weil wir gut sind. Und das finde ich einen durchaus berechtigten Anspruch.“ Gleichstellungsarbeit betrachtet sich dabei als einen ganzheitlicheren Ansatz. So nutzen Väter die Möglichkeiten zur Elternzeit meist in deutlich geringerem Umfang als Mütter. Seit einigen Jahren gibt es daher an der Charité die sogenannten Väterbeauftragten. Diese bieten Hilfestellung und Beratung rund um die Vereinbarkeit von Kind und Beruf für Männer. „Wenn wir Frauen in Führungspositionen bringen wollen, ist es sinnvoll, Väter in die Familien zurückzuholen.“ Allerdings bleibt festzustellen, dass Frauen in größerem Umfang von geschlechtsbezogener Diskriminierung betroffen sind. Laut Frau Kurmeyer wird dies insbesondere in der Konkurrenz um besser vergütete Stellen deutlich. „Frauen können studieren, was sie wollen – bis sie schwarz und schimmelig werden – in dem Moment wo es um die Fleischtöpfe geht, alles was in Richtung Karriere geht und schon ein bisschen mit Geld behaftet ist, da wird es eng.“ Hier setzen auch viele Projekte der Charité an. So gibt es etwa ein Mentoring-Programm für Gespräch mit der zentralen Frauen- und Gleichstellungbeauftragten der Charité Wissenschaftlerinnen, aber auch Formate zum informellen Austausch und Aufbau von Netzwerken. In der Rotunda Habilis können habilitierte Wissenschaftlerinnen und solche, die sich mit der Professur als Berufsziel beschäftigen zusammen kommen. Die ProMotiona hingegen ist eine offene Veranstaltungsreihe für alle Promovendinnen und Studentinnen, die eine Doktorarbeit planen. Zudem werden verschiedene Stipendien vergeben. Ebenfalls zur Gleichstellungsarbeit gehört das Familienbüro, das an der Familienfreundlichkeit der Charité als Arbeitgeber und als Hochschule arbeitet. Auch der Beschäftigung mit dem Thema der sexuellen Belästigung wurde in letzter Zeit viel Raum gegeben. Die Medizin ist aus ihrem Wesen heraus eine Disziplin, die Grenzen überschreitet. Um eine Therapie zu ermöglichen, dringt sie mitunter in die körperliche oder psychische Privatsphäre der Patient*innen ein. Hier ist große Sensibilität gefordert – insbesondere im Hinblick auf Geschlechterdynamiken, die eng mit unserem Verständnis von Sexualität verflochten sind. „Wir leben in einem Wandelprozess – weg von den Ursprüngen der Frauenbewegung, mit brennenden Fahnen auf den Barrikaden. Das hat uns den Weg geebnet, das will ich nicht kleinreden. Aber das ist nicht mehr das, was wir tun wollen und müssen. Wir müssen jetzt gucken, wie können wir das, was aufgebrochen ist, was zur Bearbeitung bereit liegt, nicht weiter verbrennen, sondern bearbeiten und für alle fruchtbar machen.“ Wenn wir uns aber außerhalb des Rahmens der institutionalisierten Gleichstellungsarbeit bewegen, welche Rolle können wir als Student*innen in diesem Prozess annehmen? Mir persönlich scheint dabei die Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Geschlechts der zentrale Aspekt zu sein. Wir erklären uns viele Aspekte der Welt über unser Verständnis von Geschlecht. Davon hängt ab, wie wir Gespräche interpretieren oder andere Menschen einschätzen. Welches Geschlecht uns zugeschrieben wird bestimmt, wie wir sozialisiert wurden und werden, wie Menschen sich uns gegenüber verhalten und welche Erwartungen sie an uns stellen. Gleichzeitig ist es mir wichtig, darüber zu sprechen, dass es wenig hilfreich ist, über unser Geschlecht als eine Art fixer Determinante zu sprechen, von der in der Nachfolge zahlreiche Einflüsse ausgehen. Geschlecht kann viel passender als soziales Konstrukt gedeutet werden. Zahlreiche Einflüsse kommen zusammen, und erzeugen so erst, was wir mit den Geschlechtern assoziieren. Vorstellungen davon, was zum Beispiel eine Frau ausmacht, unterscheiden sich zwischen den Kulturen gewaltig. Und im Zentrum dieser aktiven Konstruktion stehen wir selbst. Unsere Handlungen erzeugen nicht nur unser individuelles Geschlecht in der Wahrnehmung von außen, sondern auf einer gesellschaftlichen Ebene auch die Kategorien der Geschlechter als Ganzes. Diese Ansätze sollten aber nicht als ein Versuch missverstanden werden, die Kategorien der Geschlechter zu relativieren und in der Folge aus unserer Gesellschaft zu beseitigen. Unser aller Geschlecht ist eng mit unserer Identität verbunden. Das Geschlecht als soziale Kategorie zu verneinen würde bedeuten diese Identitäten pauschal abzuwerten. Gleichberechtigung bedeutet also nicht die Augen vor dem Faktor Geschlecht zu verschließen, sondern im Gegenteil sie für neue Facetten dieser Kategorie zu öffnen. Nur so sind moderne Diskurse über Mann und Frau, aber zum Beispiel auch über Homosexualität und Trans*identität möglich. Das Geschlecht ist und bleibt also ein zentraler Faktor in der Medizin. Zum einen als biologisch-physiologischer Aspekt unserer Existenz, aber ebenso als gesellschaftliches Konzept, dessen Einfluss sich über alle Aspekte unseres Lebens erstreckt. Gespräch mit der zentralen Frauen- und Gleichstellungbeauftragten der Charité 13 14 Kissenschlacht Linda Polley Fotokollage: Hannes Kutza Es ist einer dieser Tage, an denen die Sonne ab und zu silbern durch die grau melierten Wolkentürme bricht und einem dabei leicht das Gesicht wärmt. Im Lichtspiel der Strahlen gleitet eine weiße kleine Feder in der Flugbahn eines aufgedröselten Wollfadens zu Boden. Zu meinen Füßen berührt sie den trockenen Staub, der jedoch nicht an ihr kleben bleibt. Bald folgt ihr eine weitere Feder und noch eine, bis es schließlich Daunen regnet, die die ausgestorbenen Ruinen der Straße, die ich hinunterschreite, mit einem schneeweißen Tuch bedecken. Ich spüre, wie mir immer wohlig wärmer wird vor Freude und Berührtsein. Obgleich ich alles Schöne und Traurige auf einmal sehe, fühlt sich das so unglaublich tröstlich an. Ich wende meinen Blick ab vom Himmel und richte ihn auf mein Ziel: einen weiten leeren Platz, auf dem das sonnendurchflutete Federgestöber noch dichter zu sein scheint als drum herum. Inmitten des Platzes lässt sich ein menschlicher Schatten erahnen, der sich langsamen aber bestimmten Schrittes auf mich zu bewegt. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen, aber plötzlich weiß ich, dass ich angekommen bin. Unsere Köpfe berühren sich seicht, sodass sein weiches Haar meine Stirn kitzelt und ich seinen Atem einatme. Ich versinke in seinen Armen und für einen Augenblick bleibt die Zeit um uns herum stehen. Doch dann müssen wir fort, getrennt voneinander. Eine unbeschreibliche Traurigkeit macht sich bis in meine Zehenspitzen in mir breit und zugleich tut dies das größte Glücksgefühl, das ich je empfunden habe. Und auf einmal kann ich sehen, wie überall hinter den zerbröselten Häuserfassaden noch immer Krieg geführt wird. Wie Menschen aufeinander schießen, einstechen und drosseln mit Worten und Taten. Aber sobald es jemanden trifft, verwandelt sich dieser auf der Stelle in ein Daunenkissen, zerfetzend durch die Gewalteinwirkung, sodass der Inhalt zu mir hinabschneit. Trotz dieser Erkenntnis bin ich von diesem Tag an unerschütterlich. Denn ich habe ihn gefunden, mit dem ich keine Kissenschlacht führen muss. Wenn auch nur für einen Moment. Kissenschlacht 15 Arthur Schnitzler Im Reigen mit Psychoanalyse und Intuition Anton Jacobshagen Was würde man wohl von einem Schriftsteller denken, der wegen einer Kritik seines Theaterstückes in den Operationssaal seines Bruders stürmt? Und was würde man denken, wenn dieser Mann studierter Dr. med. ist? Im Wien der Jahrhundertwende, dieser überschwänglich mit barocken Formen ausgestatteten Brutstätte der Kunst, vermutlich nicht viel. Fraglich ob ein solcher Vorfall sich überhaupt in den Medien wiederfinden würde. Für Arthur Schnitzler, dem vielseitigsten Schriftsteller der Wiener Moderne, war es ganz einfach eine Notwendigkeit. 1 862 in Wien geboren studierte Schnitzler in seiner ersten und einzigen Heimatstadt Medizin, veröffentlichte allerdings schon mit 1 8 Jahren seine ersten Texte. Zunächst arbeitete er unter seinem Vater in der Klinik, nach dessen Tod 1 893 eröffnete er seine eigene Praxis. Geldsorgen hatte er nicht, berufliche Probleme bekam er auch keine und so fest er sich in die Wiener Gesellschaft einband und von ihr eingebunden wurde ist es kein Wunder, dass er Zeit seines Lebens in Wien blieb. Seine Liebe zur Sprache brachte er selbst in seine medizinischen Publikationen ein, die zum Großteil aus Rezensionen von Fachbüchern bestanden. Wissenschaftlich war nur eine einzige Veröffentlichung, in welcher sich der Autor der „Traumnovelle“ mit Hypnose und Suggestion befasste. Die wahre Berufung des Laryngologen war ohnehin die Literatur und alles, was er mit ihr verweben konnte. In den Kaffeehäusern und Restaurants Wiens traf er auf so inspirierende große Geister wie Sigmund Freud und Hugo von Hoffmannsthal. Um die Jahrhundertwende war er zudem einer der bedeutendsten Kritiker der österreichisch-ungarischen, kaiserlichen wie königlichen Gesellschaft. Allerdings ließ sich Schnitzler von keiner seiner beruflichen oder gesellschaftlichen Stellungen daran hindern, Missstände aufzuzeigen. 1 901 veröffentlichte er Leutnant Gustl, eine Erzählung aus einer unnachahmlichen Ich-Perspektive, die den Ehrenkodex des österreichi- 16 schen Militärs kritisierte und ihm prompt den Offiziersrang der Reserve kostete. Nachdem Schnitzlers Popularität wegen seiner ablehnenden Haltung dem ersten Weltkrieg gegenüber abnimmt, verursacht er doch mit seinem sexuell aufgeladenem Stück „Reigen“ einen Skandal. Ihm wird der Prozess gemacht und er zieht seine Aufführungsgenehmigung zurück. Dabei ist der Kern des Stückes eine Entblätterung der gesellschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisse, eine scharfe Zeichnung psychischer Mechanismen in ihren sozialen Ausdrücken. Denn in fast jedem Stück, in jeder Erzählung von Schnitzler geht es auch um Sex, um Betrug und Treue, aber immer ist ihm die Körperlichkeit ein Symbol für tiefer liegende Prozesse. Um diese erfassen zu können greift er zu Stilmitteln wie dem inneren Monolog oder regelrechten Bewusstseinsströmen. Immer wieder verblüfft Schnitzler auch mit Darstellungen schwelender gesellschaftlicher Stimmungen wie im Theaterstück „Professor Bernhardi“, welches die Gefahr des aufkommenden Antisemitismus thematisiert. Nicht umsonst wunderte Freud sich, woher Schnitzler Wissen nahm, dass der Autor der Traumdeutung sich erst durch mühsame Studien des Objekts Mensch erwerben musste. Der Selbstmord seiner Tochter Lili aber trifft Schnitzler völlig unvorbereitet. 1 3 Monate nach ihrer Heirat mit einem italienischen Offizier nimmt sie sich in Venedig das Leben. Das des Vaters wird nie mehr ganz erfüllt sein. Der Arzt zieht sich zurück. In seinen späteren Lebensjahren schreibt er über Einzelschicksale, wenig Werke bringt er wirklich zu Ende. Was Zensur, Ablehnung, Gerichtsprozesse nicht vermochten, hat der Tod der einzigen Tochter schließlich bewirkt. 1 931 stirbt Arthur Schnitzler an einer Gehirnblutung und wird auf dem Wiener Zentralfriedhof beerdigt. Doch auch noch heute sprühen seine Stücke und Erzählungen von der Lust an der Exploration des Bewusstseins, wie sie der Künstler, im Türrahmen der Psychiatrie stehend, empfunden haben muss. Arthur Schnitzler - Im Reigen mit Psychoanalyse und Intuition Kollage: Franziska Storbeck 17 Erinnerung an den Sommer Linda Polley Die Blätter des letzten Sommers sinken im Fluss, der sie in die Tiefe reißt und mit sich forttreibt Erinnerungen, die trüben und verschwinden, und ich frag mich, warum dieses Gefühl doch bleibt Es ist das Wasser, das durch meine Hände rinnt, Regentropfen auf dem gestern noch heißen Asphalt, die der Frost nun zu glitzernden Kristallen spinnt auf denen die Ruhe des Winters widerhallt Ich wandere durch meine weiße Welt, die ich so liebe und gleichzeitig nicht Bald ist Weihnachten, doch denk ich an nichts als an mein Glück in jenem Sommerlicht 18 19 Arusha - Shake hands with the Lt. Gen. Malte Schmieding Im September 201 4 absolvierte ich eine Famulatur in Nairobi, Kenia. Ich erfuhr zufällig, dass in Arusha, einer Stadt im Nachbarland Tansania, einer der letzten Urteilsverkündungen am Internationalen Straftribunal für Ruanda stattfinden wird während meiner Zeit in Ostafrika. Als ehemaliger Jurastudent wollte ich mir das nicht entgehen lassen, packte Hemd und Notizblock und zog los. Während der Busfahrt las ich Roméo Dallaires Autobiographie und Bericht über den Völkermord von Ruanda – zurück in Deutschland hatte ich das Glück Herrn Dallaire persönlich zu erleben. Von diesen Erfahrungen möchte ich berichten. Es sei darauf hingewiesen, dass ich den Völkermord und den ICTR weder umfassend noch objektiv darzustellen vermag. Vorgeschichte Die Geschichte des dicht besiedelten ostafrikanischen Landes Ruanda ist von dem Konflikt zwischen zwei Bevölkerungsgruppen, den Hutu und den Tutsi, geprägt. Ob der Konflikt erst durch die belgischen und britischen „Kolonialherren“ hervorgebracht oder verstärkt wurde, ist schwer zu ermitteln. Überhaupt ist schwer zu sagen, woher die Einteilung Hutu und Tutsi kommt; manche beschreiben die Hutu und Tutsi als verschiedene Ethnien, andere führen die Einteilung auf verschiedene „Kasten“ zurück, die Tutsi als die privilegierteren Viehzüchter und die Hutu als ärmere Landwirte. Auf jeden Fall bevorzugten die belgischen Kolonialisten gegen Ende der Kolonialzeit die „Zusammenarbeit“ mit den Hutu und schufen somit ein bleibendes Machtgefälle zwischen den Bevölkerungsgruppen. Nach Ruandas Unabhängigkeit behielten die Hutus eine Vormachtstellung: die Hutu-Partei MRDN war die Staatspartei und Habyarimana, ein Hutu, Präsident. Viele Tutsis wurden vertrieben oder flohen in die Nachbarländer; sie bildeten die Tutsi-Partei und Miliz RPF (Rwandan Patriotic Front). Die RPF führte ab 1 990 einen offenen Bürgerkrieg mit den Regierungs- 20 Arusha - Shake hands with the Lt. Gen. truppen Ruandas (RGF). Nur mit großer militärischer Unterstützung durch Frankreich und Belgien konnte die RGF die Angriffe abwehren. In Arusha, einer Stadt des Nachbarlandes Tansania, handelten die Konfliktparteien ein Friedensabkommen aus, welches die Bildung einer Einheitsregierung aus Hutu und Tutsi sowie den Zusammenschluss der Streitkräfte der RPF und der RGF vorsah. Der UN-Sicherheitsrat beschloss daraufhin eine Friedensmission zu entsenden (United Nations Assistance Mission for Ruanda, kurz UNAMIR), welche die Einhaltung des Friedensabkommens inklusive der Entmilitarisierung der ruandischen Hauptstadt Kigali beaufsichtigen sollte. Militärisch geführt wurde die Mission zu Beginn von dem kanadischen Lieutenant General Roméo Dallaire. Von seinen Erlebnissen berichtet Dallaire in dem Buch „Shake hands with the devil“. Statt einer Entmilitarisierung entdeckte er Anzeichen einer Vorbereitung auf einen Krieg auf beiden Seiten. Teil dieser Vorbereitung beinhaltete die Bildung von Hutu-Milizen, schwer zu kontrollierenden paramilitärische Einheiten, denen ein Hass auf Tutsis indoktriniert wurde. Auch die TutsiMiliz RPF begann in der entmilitarisierten Zone Kigalis eine Festung zu errichten und mobilisierte an den Landesgrenzen. Zahlreiche Versuche die nach langen Verhandlungen erkorene Einheitsregierung zu vereidigen misslangen, bedingt durch das gegenseitige Misstrauen der Konfliktparteien. Die angespannte Lage eskalierte Anfang April 1 994. Am 6. April wurde das Flugzeug des Präsidenten abgeschossen, wobei sowohl Habyarimana als auch der burundische Präsident ums Leben kamen. Bis heute ist nicht geklärt, wer die Maschine abgeschossen hat. Das dadurch entstandene Chaos nutzte die Präsidentengarde für Vergeltungsschläge gegen die Tutsi- Bevölkerung sowie Tutsi- und gemäßigte Politiker. Die verbliebenen Hutu-Politiker, allen voran das hohe Militär, erklärten sich zur Übergangsregierung. Gegenüber Dallaire versicherten sie zwar, so schnell wie möglich das Morden durch die Präsidentengarde und die Milizen stoppen zu wollen. Doch die RPF sah die Machtübernahme als Coup an und begann ihre letztlich erfolgreiche Offensive. Die UN Truppen hatten weder die Ausrüstung noch das Mandat dazu in den Konflikt einzugreifen; sie setzten ihre Beobachtungsmission fort und versuchten die Zivilbevölkerung aus Kigali zu evakuieren oder ihnen in den von den UN kontrollierten Positionen Unterschlupf zu gewähren, was leider nur mäßig erfolgreich war. Im Jahre 1 994 wütete in Ruanda ein Völkermord, dem fast eine Millionen Menschen zum Opfer fielen. Um diesen Völkermord juristisch aufzuarbeiten und damit zur Friedenskonsolidierung beizutragen wurde von den Vereinten Nationen 1 995 ein internationaler Strafgerichtshof (International Criminal Tribunal for Rwanda, ICTR) eingesetzt. Die Verfahren in der ersten Instanz sind bereits mit 55 Verurteilungen abgeschlossen. Ende September 201 4 wurde das wohl drittletzte Urteil der Berufungskammer verkündet. Der Gerichtshof ist der erste internationale Gerichtshof, der ein ehemaliges Staatsoberhaupt (Jean Kambanda) verurteilt und Urteile wegen Genozids verhängt hat. Bericht vom Besuch in Arusha Ohne Mühe gelingt es mir rechtzeitig aufzustehen. Wegen des Stromausfalls läuft der Generator des Hotels nun schon die ganze Nacht und der Betriebs- und Verkehrslärm ersetzt mir überpünktlich meinen Wecker. Ich mache mich zu Fuß auf den Weg durch eine staubige Stadt laut Hotelauskunft ist das Hotel und die angrenzende Grünfläche mit Kriegsheldenmonument das Stadtzentrum. In der Tat gibt es für Touristen in Arusha wenig zu sehen. Interessant ist Arusha nur für begüterte Safaritouristen als Zwischenstopp. Mit deutscher Pünktlichkeit erreiche ich das Arusha International Conference Centre, mit der Erwartung, dass bei der UN internationale Zeit Foto: „Der ICTR ist ein Gerichtshofohne eigenes Gerichtsgebäude. “ – Malte Schmieding Arusha - Shake hands with the Lt. Gen. 21 und nicht „afrikanische Zeit“ (je nach Belieben 1 5 Minuten bis mehrere Stunden verspätet) gilt. Ich werde nicht enttäuscht - nach nur zehn Minuten im Wartezimmer mit gut und traditionell gekleideten Ruandern darf ich meinen Pass gegen einen Besucherausweis (Nr. 250) tauschen, insgesamt werden es 39 Besucher aus den Reihen der Öffentlichkeit sein. Der ICTR ist ein Gerichtshof ohne eigenes Gerichtsgebäude. Einige Büros und der Gerichtssaal befinden sich im Arusha International Conference Centre. Unter den Firmenschildern vor dem Gebäude, ist das des ICTR das kleinste. Die freundlichen und blau uniformierten UN Sicherheitsoffiziere vor dem Gebäude, sowie die Sicherheitskontrolle erwecken den Eindruck, dass hier ein Ort internationaler Relevanz ist. Hinter der Sicherheitskontrolle verschwindet der Eindruck dann wieder. In Erdgeschoss befindet sich unter anderem eine normale Kantine, ein Büro für Safaris, eine DHL Paketannahmestelle und eine Geldwechselstube. Ohne den etwas gelangweilt herum sitzenden G4S Sicherheitswärter, hätte ich nicht erfahren, dass der Gerichtssaal im vierten Stock ist und man diesen nur per Fahrstuhl erreicht. Das Wartezimmer vor dem Gerichtssaal ist sehr klein, vielleicht 1 0qm, der Boden aus blauen Teppichquadraten schon etwas mitgenommen und es gibt nur einen Stuhl. Die Lage in Arusha, die Lage im Gebäude, das Gebäude selbst zusammen mit der Beobachtung, dass auf allen öffentlichen Toiletten das Klopapier fehlt, erweckt den Eindruck, dass das Gericht nicht dafür eingerichtet ist, viele interessierte Bürgerinnen und Bürger zu empfangen. Die Besucherebene des Gerichtssaals (auf gleicher Höhe und durch eine Glaswand getrennt) bietet hingegen viel mehr Zuschauern Platz als der Warteraum. Geschätzt sind 65% der Anwesenden Mitarbeiter oder Ehemalige des ICTR und weitere 5% tansanianische Gefängniswärter. Sowohl der Besucherraum als auch der Gerichtssaal sind sehr breit und eher kurz, was dazu führt, dass Staatsanwalt und Verteidiger sehr weit auseinander sitzen, dennoch alles sehr eng erscheint. Hinter den zwei Reihen für die sechs Vertreter des Staatsanwalts auf der rechten Seite sieht man die Boxen für die Dolmetscher, die in Kinyarwanda, Französisch und Englisch übersetzen. Auf jedem Besucherstuhl liegen dazu- 22 Arusha - Shake hands with the Lt. Gen. gehörige Kopfhörer und Empfangsgerät. Die Mitarbeiter auf der anderen Seite der Glaswand sind bereits in ihren offiziellen Gewändern. Rechtspfleger, Staatsanwalt und Verteidiger tragen schwarze Roben mit weißem Lätzchen, einer der sechs Staatsanwälte hat sich sogar eine blond-weiße Lockenperücke aufgesetzt. Ohne eine Ankündigung zu benötigen stehen alle auf, als die fünf Richter den Saal betreten: vier Richter und eine Richterin, gekleidet in rot-schwarzen Gewändern. Für heute sind drei Urteilsverkündungen in Berufungsverfahren angekündigt. Der erste Prozess betrifft zwei Angeklagte: Mathieu Ngirumpatse und Éd ouard Karemera. Beide waren hochrangige Mitglieder der extremistischen anti-Tutsi MRND Partei; Ngirumpatse war während des Genozids Vorsitzender und Édouard Karemera war zeitweilig Minister in der allein aus Extremisten bestehenden Interim-Regierung nach der Ermordung des Präsidenten Habyarimana im Frühjahr 1 994. Roméo Dallaire erwähnt Ngirumpatse in seinem Buch und beschuldigt ihn, die Bewaffnung der Miliz „Interahamwe“ und Hutu Zivilisten organisiert zu haben. Die Miliz wurde vor April 1 994 dazu genutzt, die politische Lage weiter zu destabilisieren und ab April 1 994 konnten die bewaffneten Zivilisten und die Interahamwe durch Straßensperren und gezielte “Hausdurchsuchungen” nahezu alle Tutsis in Kigali ermorden. Meinem Verständnis nach ist die Sitzung in fünf Tagesordnungspunkte gegliedert. Zunächst werden die Angeklagten gefragt, ob sie dem Prozess in einer ihnen verständlichen Sprache folgen können. Die Angeklagten antworten höflich, vergessen nicht das “Monsieur le President”, wenn sie den vorsitzenden Richter ansprechen. Danach wird das Wort dem führenden Verteidiger und Staatsanwalt erteilt, die sich und ihre Kollegen vorstellen. Als drittes kommt der Hauptteil: Der vorsitzende Richter liest das Urteil vor, betont jedoch vorher, dass nur auf wesentliche Urteilsgründe eingegangen werden kann. Die sind im ersten Verfahren immer noch eine ganze Menge. So wird in den Unterpunkten A bis M auf die Einsprüche des Angeklagten und in den Punkten O bis S auf die Einwände des Staatsanwaltes einge- gangen. Ich kann nicht sagen, wie viele Einsprüche insgesamt eingereicht wurden, aber es müssen über 50 allein von der Verteidigung gewesen sein. Es wird in den Erwägungen auf viele Morde bzw. Massaker eingegangen, die den Angeklagten zur Last gelegt werden. In einigen werden sie freige- Foto: „Unter den Firmenschildern vor dem Gebäude, ist das des ICTR das kleinste. “ – Malte Schmieding Arusha - Shake hands with the Lt. Gen. 23 sprochen, da hier keine direkte Verantwortung nachgewiesen werden konnte. Die hochrangige Mitgliedschaft in der MRDN alleine reiche nicht aus, um davon auszugehen, dass die Angeklagten an einer Verschwörung zum Genozid teilgenommen haben, wie noch die erste Instanz urteilte. In der anschließenden Urteilsverkündung wird jedoch das Urteil der Vorinstanz bestätigt: „Trotz mehrerer Revisionen blieben beide Angeklagten sehr ernster Verbrechen überführt“. Der vorsitzende Richter verkündet auch, dass die Verurteilten zunächst ihre lebenslängliche Haftstrafe in UN Gewahrsam verbringen werden, wahrscheinlich bis sich ein Mitgliedsstaat gefunden hat, der eine Zelle zur Verfügung stellt. Der finale Akt besteht darin, dass der Rechtspfleger dem Staatsanwalt und den Verurteilten das ausgedruckte und vollständige Urteil überreicht. Und damit endet ein zwanzigjähriger Weg hin zur Gerechtigkeit. Die Taten wurden etwa im April 1 994 begangen, die Verhaftungen gelangen 1 998, die berichtigte Anklage wurde 2005 erhoben, das erstinstanzliche Urteil erging 201 2, das Berufungsverfahren wurde 201 4 abgeschlossen. Von den ursprünglich drei gemeinsam Angeklagten ist zwischenzeitlich einer verstorben. Das Publikum steht noch als die schwarz-roten Richter an den Verurteilten vorbeigehen und den Saal verlassen. Ngirumpatse und Karemera lächeln mit perfekt weißen Zähnen. Das Publikum auf der linken Seite (der Seite der Angeklagten) steht ebenfalls und winkt. Ich schlussfolgere, dass die Ruander alle Angehörige der Verurteilten sind. Mit Winken und Lächeln verlassen die Angeklagten den Saal. Nach einer kleinen Mittagspause kommt die zweite Urteilsverkündigung des Tages. Auf der Anklageseite steht Nizeyimana, ein Offizier einer Militärschule, der erst 2009 festgenommen werden konnte. Einige aus dem Publikum sind schon gegangen, die Richterbank und die Staatsanwälte haben eine leicht andere Zusammensetzung. Mit zwei abweichenden Meinungen wird das Urteil verkündet: Einige Ausführungen der erstinstanzlichen Kammer, die das lebenslängliche Strafmaß begründen, werden aufgehoben, das Strafmaß neu auf 35 Jahre festgelegt. Die Verurteilung aufgrund von Morden an Straßenblocka- 24 Arusha - Shake hands with the Lt. Gen. den und die Ermordung der ehemaligen Königin Ruandas (bis 1 961 war Ruanda noch eine Monarchie) wurden bestätigt. Im dritten und letzten Fall sitzt Nzabonimana auf der Anklagebank. Ihm wird vorgeworfen in öffentlichen, hetzerischen Reden zum Völkermord aufgerufen und angestiftet zu haben. Er bestreitet die Öffentlichkeit seiner Reden und zweifelt die Kausalität zwischen seinen Reden und dem Völkermord an. Das Urteil der Vorinstanz wird dennoch bestätigt. Für Juristen sind die Auslegung des Begriffes der Öffentlichkeit und die Feststellung der Kausalität interessante Probleme, für das Völkerrecht mag hier eine Präzedenzentscheidung gefallen sein. Mit dem Urteil ging das drittletzte Verfahren vor dem ICTR zu Ende. Im Dezember 201 4 fand die vorletzte Urteilsverkündung statt – allerdings nicht mehr in einem Gericht des ICTR, sondern einer Kammer des „Residualmechanismus“ (residual mechanism). Für den ICTR und das jugoslavische Äquivalent ICTY wurde bereits ein „Residualmechanismus“ eingerichtet, eine Behörde, die das Beweismaterial archiviert und eine Kammer aufrechterhalten wird, sollte es zu Einsprüchen kommen oder Untergetauchte endlich aufgespürt werden. Diese Kammer ist zuständig für Berufungen sowohl aus den ruandischen als auch den jugoslawischen Prozessen. Zurück im Hotel schalte ich das einzige Nachrichtenprogramm ein. In Hong Kong besetzen Studenten die Stadt und der Botschafter von Assads Syrien hält eine Rede vor der Generalversammlung der UN. Der ICTR wird nicht erwähnt. Wie auch, es war ja kein Reporter da. Ein Taxifahrer, ein kenianischer Freund und ein tansanischer Polizist bestätigen mir, dass man den ICTR schon kennt. Man weiß, dass er da ist. Mehr aber auch nicht. Immerhin bekannter als der internationale Strafgerichtshof (ICC): Eine kenianische Zeitung verballhornt die Vorladung des kenianischen Präsidenten Uhuru Kenyatta vor dem ICC: “What does the International Cricket Committee want from our Uhuru?”. Epilog Eine Woche später bin ich zurück in Berlin auf dem Humanitären Kongress Berlin. Zu meinem Glück hält Lt. Gen. Roméo Dallaire die Eröffnungsrede. Er spricht über Schutz („protection“), über die Hoffnung, dass das neue Jahrtausend humaner wird, über die neue Ära der Friedenswahrung, die mit dem Ende des Kalten Krieges begann und auf die sich die UN und die internationale Gemeinschaft lange nicht eingestellt hatte: „We are still stumbling into the new era of conflict resolution through prevention, but exceptionally weak on that area.” (Wir stolpern noch in neue Ära der Konfliktbewältigung durch Prävention, sind aber besonders schwach auf diesem Gebiet). Den mangelnden politischen Willen macht er dafür verantwortlich, dass angesichts der vielen Katastrophen und politischen Umwälzungen die Großmächte der Welt das Szepter aus der Hand verlieren: “World security is not in our hand. Extremists seem to have the initiative and provoke us to infringe our own civil rights standards.” (Die Weltsicherheit liegt nicht in unserer Hand. Extremisten scheinen die Initiative ergriffen zu haben und verleiten uns dazu unsere eigene Prinzipien der Rechtstaatlichkeit zu umgehen). Damit spricht er auch an, dass es eben nicht nur einen Krieg bzw. Konflikt zu verlieren gibt, sondern Maßnahmen wie der Einsatz von Folter und dem eher willkürlichen Töten durch Drohnen, auch die Humanität gefährden, die wir eigentlich verteidigen wollen. Oder verteidigen wir immer noch nur unsere Eigeninteressen? Für die Zukunft hofft er, dass vor allem die „Mittelmächte“ unter UN-Mandat öfters bereit sind Friedensmissionen auszuführen. Es bedürfe besonders Nationen, die anders als England, Frankreich und die USA nicht schon einen schlechten Ruf haben, als ehemalige Kolonialmächte oder selbst proklamierte Weltpolizei. Er sieht neben Kanada, als Erfinder des Peacekeepings, auch Deutschland und Japan in der Pflicht. Dallaire präsentiert glaubwürdig, dass die Ursache des Scheiterns der vielen Initiativen der UN trotz ihrer guten Absicht, darin zu finden ist, dass alle Mitgliedsstaaten nur Eigeninteressen verfolgen. Aber wäre das Gegenteil wirklich für alle besser? Die Schlussfolgerung wäre ja, dass in Konflikte bisher unbeteiligte Länder einbezogen werden, diese verpflichtet wären Truppen und Material zu stellen und das innenpolitisch nicht rechtfertigen könnten. Es hat die deutsche Öffentlichkeit schon nicht überzeugt, dass die Bundeswehr mit dem Afghanistan Einsatz die „deutsche Sicherheit am Hindukusch“ verteidige. Jemand anderes Sicherheit unter anderer Flagge und in einem entfernteren Land zu verteidigen, klingt noch weniger überzeugend. Am Ende einer Podiumsdiskussion schaffe ich es, Herrn Dallaire anzusprechen: Ich möchte von ihm wisse, wie er die Arbeit des ICTR bewerte angesichts der Tatsache, dass dieser jährlich mehr als 200 Millionen Dollar kostet und er in seinem Buch schreibt, mit 1 00 Millionen Dollar hätte seine Mission die Eskalation des Konflikts verhindern können? Er halte die Arbeit des ICTR für wichtig, sie habe eine Pionierrolle, denn insbesondere die Anklage müsse lernen, ihre Aufgabe zu machen. Oft fehle es dem Gericht auch an Rückhalt von den Nationalstaaten. Vor allem die Ausführer des Genozids wurden angeklagt, während viele Anstifter und einflussreiche Drahtzieher heute freie Menschen in Europa sind. Pionierrolle, finde ich, trifft es ganz gut. Foto: Wanted-Plakat – Malte Schmieding Arusha - Shake hands with the Lt. Gen. 25 Karikatur: Katharina Mindach Abendgebet Johanna Nagel Die Müdigkeit der Toten bedeckt des Abends Stille. Es schleichen Schmerzensboten in schwarzer Laken Hülle. Wo eben noch der Sonne blutgoldne Strahlen wärmten, erhellt des Mondes Wonne der stummen Angst Gedanken. Und tief ins Herz gebettet lässt sich Verzweiflung nieder. Wann sind von Qual errettet des Träumers schwere Lider? 26 Abendgebet Wächserne Masken Sofia Banzhoff Da lag er. Still, ohne sich zu bewegen, gebettet auf dunklen Samt. Er trug seinen besten Anzug, den, den er sich vor Jahren hatte maßschneidern lassen, aus marineblauem Seidenstoff. Seine Augen geschlossen, die Hände auf Höhe des Bauchnabels gefaltet. Sie lächelte und wartete. Beobachtete ihn, um den Moment nicht zu verpassen. Er hatte es sicherlich fein orchestriert, es würde einmalig werden. Die schwarz gekleideten Menschen um sie herum wünschten ihr „Herzliches Beileid.“ Sie hatte noch nie so viele Euphemismen gehört wie in den vergangenen Tagen. Sie nahmen tröstend ihre Hand, bis sie in ihre Augen sahen, dann ließen sie sofort los. Irritiert. Erstaunt. Verwirrt. Doch niemand fragte sie nach dem Grund für ihren wissenden Blick. Diesen Blick, der sagte „Ich warte auf die Überraschung eures Lebens“ oder auch Ich weiß etwas, das ihr nicht wisst …“ Vielleicht sahen sie in ihren Augen auch etwas anderes. Aber Trauer suchten sie vergeblich. Sein Arzt stand vor ihr: „Es tut mir so leid. Wir haben getan, was wir konnten.“ Sie lächelte: „Keine Sorge, Herr Doktor, sie wollten ihm nur helfen…“ Er war sicher eingeweiht. Wer hätte gedacht, dass dieser grauhaarige Mann, der nie lächelte, Humor hatte? Sie konnte es nicht erwarten, ihn schallend lachen zu hören. Jetzt war sie allein mit ihm, der seit Tagen schwieg. Die Trauergemeinde, wie der Pfarrer mit der schrecklichen Stimme sie nannte, hatte sich in der Kapelle versammelt. Sie wusste, dass sie auch dorthin gehen sollte, hier war außer ihr kein Publikum, hier würde es nicht passieren. Beim Hinausgehen fasste sie den Bestatter am Ärmel und flüsterte verschwörerisch: „Nageln sie ihn nicht zu fest zu!“ Sie blendete den Pfarrer, seine Psalmen und Predigten aus, daher konnte sie nicht sagen, ob er ihrer Anweisung, Lobreden auf Gott zu unterlassen, gefolgt war. Die Spannung in ihr stieg, fast begann sie vor Vorfreude zu lachen. Doch es passierte nichts. Das sah ihm ähnlich, dachte sie, den Moment bis zur letzten Sekunde herauszuzögern. Die Spannung auszukosten. Alter Dramaturg. Der Zug von Freunden, Bekannten und Wächserne Masken 27 Bewunderern folgte ihr wie eine schwarze Schlange über die Friedhofspfade. Am Grab stand ein Trompeter und spielte Auld Lang Syne in AMoll. Zwei Holzbalken trennten den Sarg noch von der dunklen Leere. Die Bestatter schoben dicke Taue darunter, gleich würden sie die Balken wegziehen und dann wäre es endlich soweit. Er würde den Sarg von innen aufbrechen – vielleicht hatte er sich mit einer Axt einsargen lassen – sich die wächserne Maske vom Gesicht reißen und rufen: „Haha, war doch alles nur Spaß!“ und alles wäre wieder normal. Sie würden ihr exzentrisches, bewundertes Leben weiterleben, als wären sie unsterblich. Sie wären unsterblich. Die Balken waren weg, der Sarg schwebte in der Luft, gehalten von den beiden Tauen, die normalerweise das Tor zum Leben für immer schlossen. Jetzt, dachte sie. Jetzt. JETZT! Sobald der Sarg den Boden des Grabs berührte, wäre es weniger effektvoll, weniger spektakulär. Das Grab war so tief. Die Bestatter ließen die Taue fallen und traten unauffällig zurück. Sie trat ans Grab. Da war er, der Sarg, umgeben von Erde. Im dunklen Holz regte sich nichts. Vielleicht war er eingeschlafen? Sie warf ihre Rosen auf den Sargdeckel, direkt auf Kopfhöhe. Ein dumpfes, leeres Geräusch. Das Grab war tief und dunkel, es verschluckte alles, seelenlos. Ihre Nase kribbelte. Erste Tränen sammelten sich in ihren Augen, ihre Knie zitterten. Sie wand sich ab. Der Schauspieler war tot. Fotos: Sofia Banzhoff 28 Wächserne Masken Erlkönig Christine Zeides Wer eilt dort so früh durch den Morgenwind? Der Ersti, weil gleich der Vortrag beginnt Der Kaffeebecher klemmt schief unterm Arm Er trinkt im Gehen, er schlürft sich warm. Prometheus im Rucksack zeigt deutlich Gewicht Doch das stört einen eifrigen Ersti nicht Das Ziel schon vor Augen erschlaffen die Lider Und da ist diese freundliche Stimme wieder… „Du lieber Ersti, komm zu mir! Gar süße Träume bescher ich dir. Was soll die Mühe zu studieren? Will dich in meine Welt entführen…“ „Gevatter Schlaf! Geh fort, ich will dein Lieben nicht. Will nicht, dass all dein Locken meinen Willen bricht. Stand auf so früh, fuhr Bahn geschwind…“ Doch da säuselt erneut der betörende Wind: „Willst, feiner Ersti, zum Vortrag gehen? Wirst dort doch eh nur die Hälfte verstehn; Drum fliehe die hölzernen Hörsaal-Reihn Und genieße den Schlaf so klar und rein.“ „Schweig still, schweige still, ich sehe doch dort Die anderen Erstis strömend zum Ort…“ „Lass sie nur laufen, du weißt es genau: Im Schlaf lernt das Hirn, so wirst du schlau…“ Dem Ersti grauset’s – er läuft geschwind Gegen die Stimmen, die in ihm sind Erreicht den Hörsaal mit Müh und Not; Der Kaffee leer – der Ersti rot. Erlkönig 29 Mut zur Versorgungslücke Spielräume einer Medizin mit sozialer Verantwortung Franziska Storbeck Fotos: Hannes Kutza, 2013 Studierenden des Modellstudienganges an der Charité sind Begriffe wie „Ganzheitliche Medizin“, „Biopsychosoziales Modell“ sowie Anmahnungen an die Vorzüge interdisziplinärer, gleichberechtigter Zusammenarbeit und Kommunikation nicht fremd. Gleichzeitig bleiben uns an einem weltweit hochrangigen Universitätsklinikum auch Missstände nicht verborgen. Trotz positiver Gegenbeispiele erleben wir immer wieder, dass entgegen der Ansprüche der Angestellten die Zeit für ausführliche und einfühlsame Gespräche knapp ist, Patientinnen eine Odyssee von Arzt zu Ärztin und von Klinik zu Klinik hinter sich haben und es mehr als schwierig ist, Menschen ohne Versicherung die nötige Versorgung zukommen zu lassen. Überlastung, Überforderung oder ein von Stress geprägter Umgangston lassen Zweifel aufkommen, ob ein zufriedenes und erfülltes Arbeiten des Personals überhaupt möglich ist. Viele dieser Probleme gründen auf einem Gesundheitssystem, das trotz seines exzellenten Abschneidens im internationalen Vergleich das Ziel einer größtmöglichen Gesundheit für alle oft knapp verfehlt. Es bleibt in vielen Fragen ineffizient und unzulänglich. Eine unübersichtliche Zahl verschiedener, nicht selten finanziell motivierter Akteure lassen es den vielen, moralisch aufgeladenen Problemen träge und unflexibel gegenüber stehen. Man kommt nicht umhin, an andere Brennpunkte unserer Gesellschaft zu denken: mangelnder Wohnraum, mangelnde Integration, mangelnde Solidarität, mangelnde Nachhaltigkeit. 30 Sie alle sind eingebettet in ein komplexes System mit vielschichtigen Zusammenhängen, was sie besonders hartnäckig aber auch zu besonderen Herausforderungen macht. Diese können meistens nur in Kooperation vor Ort und mit einem sinnvollen Konzept gemeistert werden. Darum heißt die vielzitierte Antwort unserer Generation „think globaly, act localy“. Beispielsweise entstehen immer wieder genossenschaftliche oder unkonventionell strukturierte Wohnprojekte, Nachbarschaftsinitiativen und Vereine. Lebensmittel können von umliegenden Bauernhöfen oder verpackungsfreien Läden bezogen werden und die Hoffnung auf ein Stromnetz in der Hand der Berliner Bürgerinnen ist noch nicht vorbei. Warum ähnliche Lösungsansätze nicht auf eine Praxis, ein Krankenhaus, die Versorgung einer ganzen Region anwenden? Nach kurzer Recherche wird klar: Dieser Gedanke ist nicht so neu wie er erscheint und auch für die Umsetzung muss das Rad nicht neu erfunden werden. In der 68er-Bewegung wurde von jungen Ärzten und anderen Gesundheitsdienstleisterinnen im Rahmen der allgemeinen Forderung nach gesellschaftlichem Wandel viel über Möglichkeiten diskutiert, wie die Struktur der Gesundheitsversorgung und der eigenen Arbeit neu gestaltet werden kann. Daraus gingen Projekte auf der Ebene der Primärversorgung hervor, von denen einige heute noch existieren. In Berlin ist das zum Beispiel das Praxiskollektiv Reichenberger Straße 1 21 . Es gründete sich 1 979 mit der Übernahme einer Hausarztpraxis in Mut zur Versorgungslücke - Spielräume einer Medizin mit sozialer Verantwortung Kreuzberg. Seither sind die Mitarbeiter ihren Grundsätzen treu geblieben: Allgemeinmedizinerinnen und Fachangestellte mit vielfältigen Zusatzqualifikation im Bereich der alternativen Heilmethoden arbeiten ohne Vorgesetzte, gleichberechtigt und mit einheitlichem Stundenlohn zusammen. Alle Entscheidungen, welche die Praxis betreffen, werden per Konsens in einem wöchentlichen Plenum gefällt. Der Schwerpunkt der Praxis liegt auf einer ganzheitlichen und psychosomatischen Behandlung der Patientinnen mittels gleichberechtigter Entscheidungsfindung – auch für Nichtversicherte. In einem Interview mit der Online-Ausgabe von „Neues Deutschland“ spricht Sabine Will, eine der Ärzte, über ihre Sonderstellung und die Außenwirkung ihres Konzepts: „Wir haben uns einen eigenen Binnenraum entwickelt, wir haben schöne und selbstbestimmte Arbeitsbedingungen. Studenten fragen nach Praktika bei uns, Ärztinnen in Weiterbildung wollen nach Studienabschluss zurück zu uns, arbeiten hier begeistert mit. So allein fühlen wir uns nicht.“ (8). Ein Beispiel für ein unkonventionell strukturiertes Krankenhaus blickt sogar auf eine sehr viel längere Geschichte zurück: Das Salzhausener Krankenhaus wurde 1 898 als genossenschaftlicher Verein gegründet, nachdem der Landarzt Dr. Wilhelm Meinberg, welcher als Sanitätsrat für die Versorgung mehrerer Gemeinden zuständig war, an die Grenzen seiner Möglichkeiten stieß. Handwerker, Bäuerinnen, Gewerbebetriebe und die Gemeinden selbst wurden Mitglieder und teilten sich Investitionen, die für die Eröffnung und den Unterhalt eines eigenen Krankenhauses nötig waren. Durch die Ereignisse des 20. Jahrhunderts – die Inflation der 1 920er Jahre, die Weltkriege – stand das Unternehmen mit einem ohnehin knappen Budget mehrfach kurz vor der Schließung. Jedes Mal wurde es von den engagierten Teilhaberinnen aufgefangen, die den Wert ihres „eigenen“ Krankenhauses zu schätzen wussten und zu verteidigen gelernt hatten. Sogar die Jahre, in denen Niedersachsens Landesregierung die Klinik Salzhausen aus dem Bedarfsplan strich, was einem erheblichen Einbruch öffentlicher Unterstützung entsprach, wurden überstanden (2). Seitdem hat sich das 80-Betten-Krankenhaus einen Namen in der Pneumologie, der Schulterchirurgie und der Urologie gemacht. Es schließt unter anderem mit Hilfe von Belegärzten, verschiedenen Pflegedienstleistungen und einer stationär sowie ambulant arbeitenden Physiotherapie Versorgungslücken der Region und wurde somit zum Kern eines ganzheitlichen Gesundheitsnetzes. Einen Eindruck von der Einzigartigkeit des Krankenhauses erhält man durch Patientinnenberichte in einem Bewertungsforum: „In keinem Krankenhaus habe ich mich so wohl gefühlt und mich ganz auf mich konzentrieren können um gesund zu werden“ (1 ) oder „Von der Pforte, über die Schwestern bis zu den Ärzten wurde man freundlich, menschlich und fachlich kompetent behandelt“ (9). Folgender Kommentar findet sich sogar mehrmals: „Nicht zu vernachlässigen ist auch, dass die Krankenhausküche ein gutes Essen bietet“ (6). Dabei ist die Unverbesserlichkeit deutscher Krankenhaus-Kulinarik doch eines der letzten ungeschriebenen Gesetze. Eine solche Erfolgsgeschichte bleibt selten ohne Wehmutstropfen: Leider musste die Salzhausener Klinik 201 2 Insolvenz anmelden und wurde mittlerweile vom Landkreis Harburg übernommen. Es soll in den nächsten Jahren in ein ambulantes Gesundheitszentrum umgewandelt werden (7,1 2). Vielleicht liegt es daran, dass sie wie die Mehrheit der Krankenhäuser mit dem 2003 eingeführten Fallpauschalensystem zu kämpfen hatte, durch das die Vergütung vieler Eingriffe nicht ausreichend an die Entwicklung der Kosten angepasst ist. Dieser Umstand ist nebenbei bemerkt eine plausible Ursache für die in Deutschland mehr als überdurchschnittlich häufig durchgeführten Herzkatheteruntersuchungen und Operationen zum Hüftgelenkersatz (5). Es bleibt die Frage nach Modellen, die einrich- Mut zur Versorgungslücke - Spielräume einer Medizin mit sozialer Verantwortung 31 tungsübergreifend handeln. Die Initiative „Gesundes Kinzigtal“ ist ein solches Projekt. Mit dem Gedanken, dass eine effektive und ökonomische Gesundheitsförderung eine Frage der Anreize ist, schlossen sich 2005 ein Verbund aus 35 niedergelassenen Ärzten und das vom Gesundheitswissenschaftler Helmut Hildebrandt gegründete Unternehmen OptiMedis AG zusammen. Ein Managementteam von zirka 20 Fachleuten aus verschiedenen Bereichen initiiert und koordiniert seit 2006 Maßnahmen für die gesamte Region Kinzigtal. Vor allem Vorsorgeangebote, Prävention, die Kommunikation unter den Gesundheitsanbietern (Ärztinnen, Krankenhäuser, Reha-Einrichtungen, Pflegediensten etc.) und Kooperation mit anderen Parteien (Vereine, Fitness-Studios, Arbeitgeber) sollen verbessert werden. Dabei stehen ihnen sowohl ein Beirat der Ärztinnen als auch der Patienten zur Seite. Die konkrete Umsetzung gestaltet sich so, dass Patientinnen Teilnehmer des Projekts werden können. Auf dem Weg, gesünder zu werden, beziehungsweise ihre Gesundheit zu erhalten, wird mit der Hausärztin eine individuelle Zielvereinbarung erarbeitet und mit allen Institutionen gemeinsam angegangen. Finanziert wird das ganze durch eine Vereinbarung mit den Krankenkassen AOK und LKK Baden-Württemberg, die einen Vorschuss zahlen und die Gesundes Kinzigtal GmbH mit einem Teil des Gewinns der durch die höhere Gesamtgesundheit eingesparten Kosten vergüten. Damit der Erfolg dieses Pilotprojektes möglichst objektiv gemessen werden kann, wurde eine wissenschaftliche Stelle an der Medizinischen Soziologie der Universität Freiburg geschaffen, die sich extern mit der Langzeitevaluierung beschäftigen soll. 201 2 konnte zum ersten Mal gezeigt werden, dass sowohl die Hospitalisierungsrate als auch die Mortalität für die Teilnehmenden signifikant niedriger ist als für die Kontrollgruppe aus Nichtteilnehmenden (1 1 ). Helmut Hildebrandt, der kreative Kopf des Konzepts, fasst im Interview 32 mit Gerechte-Gesundheit.de knapp zusammen, was diesen Ansatz auszeichnet: „Wir haben […] eine Lösung entwickelt, die sich durch eine gute Balancierung ethischer, qualitativer und wirtschaftlicher Anreize auszeichnet und dabei gleichzeitig der Patientensouveränität sowie der zivilgesellschaftlichen Mitbeteiligung den angemessenen Raum gibt.“ (3). Dieses Modell scheint tatsächlich ein rein ökonomisches Denken mit einem Mehrwert für alle vereinbar zu machen. Damit wird es in Zukunft sicherlich sowohl Nachahmer als auch Kritikerinnen finden. Allein diese drei Beispiele lassen erahnen, wie viele verschiedene Arten der Gesundheitsversorgung es bereits gibt und in Zukunft noch entwickelt werden könnten, die sowohl den Patientinnen als auch dem behandelnden Personal gerechter werden. Das ist ein ermutigendes Bild für Studierende, die sich entgegen sozialer Ideale ab und an schon als Rädchen im Schreckgespenst der Einheitsmühle sehen. Es ist sicher viel persönliche Überzeugung, Zähigkeit und Feingefühl für Kommunikation und Kompromisse gefordert, um solche Visionen umzusetzen. Auch die Warnungen der bereits Erfahrenen, möglichst klein und bescheiden anzufangen und auf Rückschläge gefasst zu sein, sollten Beachtung finden. Aber es ist sicher nicht unmöglich und auch nicht Weltverbesserern und Träumerinnen vorbehalten, sich zu vernetzen und gemeinsam einer Arbeit nachzugehen, die den eigenen Vorstellungen entspricht. Einen Konflikt, mit dem viele gemeinnützige, soziale Organisationen konfrontiert sind, sollte man sich allerdings klar machen: Wer die Welt auf eigene Faust ein bisschen besser machen möchte, nimmt dem Sozialstaat einen Teil seiner Arbeit ab und damit den politischen Forderungen nach Verbesserungen des Systems ein wenig Wind aus den Segeln. Phil Dickel und Milli Schröder vom Medibüro, einer Initiative zur medizinischen Flüchtlingshilfe, die ihre Arbeit immer schon mit politischem Widerstand verband, sagen Mut zur Versorgungslücke - Spielräume einer Medizin mit sozialer Verantwortung es in einem Artikel ganz deutlich: „War das Medibüro Hamburg bei seiner Gründung 1 994 quasi eine Geheim-Organisation, da es durch den ‚Schlepperparagraph‘ jederzeit möglich war, […] angeklagt zu werden, wird es mittlerweile durch öffentliche Stellen in Hamburg als Beispiel für ehrenamtliches Engagement gelobt. […] unser Ziel waren und sind [jedoch] keine Ehrenkränze, sondern dass Zugang zu medizinischer Versorgung für alle hier lebenden Menschen unabhängig von Nationalstaatzugehörigkeit ermöglicht wird“ (4). Damit dieses Dilemma nicht zum Argument gegen Engagement und kreativen wie kollektiven Einsatz wird, sollten diese immer mit politischer Reflexion und öffentlicher Positionierung einhergehen. Einige Studentinnen und Ärzte verstehen ein solches politisches und gesellschaftliches Involviertsein ohnehin als Begleitverpflichtung ihres Berufes. Organisationen wie beispielsweise der vdää (Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte), das Medibüro oder Mezis (MeinEssenZahlIchSelbst) helfen mit gut recherchierten Informationen durch den Dschungel der demokratischen Fallen und bieten Inspiration zur Solidarität. Weitere Informationen: Download „Themenheft Leuchttürme“ des vdää zu genannten und weiteren Projekten unter: www.vdaeae.de; Gesundheit braucht Politik – Zeitschrift für eine soziale Medizin; 201 3 Zu den Projekten: www.praxiskollektiv.de www.krankenhaus-salzhausen.de www.gesundes-kinzigtal.de (2) Bösche, Burchard: „Das genossenschaftliche Krankenhaus Salzhausen“. In: Broschüre, hrg. von Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften e.V. http://www.zdk-hamburg.de/wpcontent/uploads/delightful-downloads/201 4/1 2/Kleine-ReiheKrankenhaus-Salzhausen_RZ.pdf (abgerufen am 1 5. Januar 201 5). (3) Braun, Lisa: „Gesundes Kinzigtal: Patienten leben länger. Interview mit Helmut Hildebrandt zur Integrierten Versorgung“. In: Gerechte Gesundheit. Positionen zur Verteilungsdebatte. Stand: November 201 2. http://www.gerechtegesundheit.de/fileadmin/user_upload/sonstiges/GG-POS-InterviewHildebrandt.pdf (abgerufen am 1 6. Januar 201 5). (4) Dickel, P.; Schröder, M.: „Vom Medibüro zur Poliklinik“. In: Gesundheit braucht Politik 1 /201 3. Hrsg. vom Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte. Maintal: 201 3. (5) Dietrich, W.; Hoffmann, P.: „Deutschland weiterhin Spitze bei stationären Behandlungsfällen! Presseerklärung des vdää zum OECD Bericht über stationäre Überversorgung in Deutschland“. In: Gesundheit braucht Politik 1 /201 3. Hrsg. vom Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte. Maintal: 201 3. (6) FSi: „Klein aber Fein“. In: Erfahrungsberichte. Stand: 2. Juli 201 3. http://www.klinikbewertungen.de/klinikforum/erfahrung-mit-krankenhaussalzhausen (abgerufen am 1 5. Januar 201 5). (7) Freudewald, Johannes: „Grünes Licht aus Hannover für Gesundheitszentrum Salzhausen“. In: Landkreis Harburg, Aktuelle Meldungen. Stand: 1 0. Dezember 201 4. https://www.landkreisharburg.de/portal/meldunge n/gruenes-licht-aushannover-fuergesundheitszentrumsalzhausen-901 001 1 88201 00.html?rubrik=1 000042 (abgerufen am 1 5. Januar 201 5). (8) Henning, Ulrike: „Gesundes Arbeitsklima: Ärzte geben Verantwortung und Geld ab: Praxiskollektiv in Berlin-Kreuzberg arbeitet seit 1 979 ohne Hierarchien“. In: neues deutschland online. Stand: 1 3. Oktober 201 2. http://www.neues-deutschland.de/artikel/801 1 1 3.gesundesarbeitsklima.html (abgerufen am 1 3. Januar 201 5). (9) Ingrid61 : „Ein Krankenhaus zum Wohlfühlen“. In: Erfahrungsberichte. Stand: 1 2. Februar 201 0. http://www.klinikbewertungen.de/klinik-forum/erfahrung-mitkrankenhaus-salzhausen (abgerufen am 1 5. Januar 201 5). (1 0) Krankenhaus Salzhausen, Gemeinnütziger Krankenpflegeverein eG: „Qualitätsbericht gemäß §1 37 SGB V für das Jahr 2004“. http://qualitaetsberichte.klinikbewertungen.de/26033046300/2004/krankenhaus-salzhausen.pdf (abgerufen am 1 5. Januar 201 5). Zu den Organisationen: www.vdaeae.de www.medibuero.de (1 1 ) Laschet, Helmut: „Erfolg nach sechs Jahren. Gesundes Kinzigtal ist gesünder“. In: Ärzte Zeitung. Stand: 30. Oktober 201 2. http://www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/versorgungsforschu ng/article/825541 /erfolg-nach-sechs-jahren-gesundes-kinzigtalgesuender.html (abgerufen 1 4. Januar 201 5). Quellen: (1 2) LZonline: „Kreis übernimmt das Zepter“. Stand: 1 1 . Oktober 201 4. http://www.landeszeitung.de/blog/lokales/1 94268-kreisuebernimmt-das-zepter (abgerufen am 1 4. Januar 201 5). www.mezis.de (1 ) ankedidi: „Tolle Betreuung und professionelle Mitarbeiter“. In: Erfahrungsberichte. Stand: 28. September 201 2. http://www.klinikbewertungen.de/klinik-forum/erfahrung-mitkrankenhaus-salzhausen (abgerufen am 1 5. Januar 201 5). Mut zur Versorgungslücke - Spielräume einer Medizin mit sozialer Verantwortung 33 Finaler diagnostischer Test zur Quantifizierung des Erwachsenseins Sofia Banzhof Man steht vor dem leeren Kühlschrank und stellt sich die Frage aller Fragen: Werde ich eigentlich langsam erwachsen oder müsste dafür das Gemüsefach bis oben hin gefüllt sein? Beim Abhaken der Aufgabe auf dem WG-Putzplan denkt man sich „Heißt das jetzt, dass ich mein Leben im Griff habe, oder ist das erst so, wenn Sauberkeit auch ohne Putzplan geht?“ Heute kannst du diesen Zweifeln ein Ende bereiten und diesen finalen diagnostischen Test zur Quantifizierung des Erwachsenseins machen. Gib dir für jede zutreffende Aussage einen Punkt und siehe in der Auflösung nach, ob der heilige Gral in erreichbarer Nähe ist, oder ob du dir lieber „Noch Student“ an eine gut sichtbare Stelle tätowieren lassen solltest. • Frühstück: Ein Event, das nicht nur am Wochenende stattfindet. • Das Wäsche-Aufhäng-Abhäng-Intervall beträgt weniger als drei Tage. • Du hast erst einmal vergessen, dich für die Prüfungen anzumelden. • Du hast ein Backupsystem für deine elektronischen Daten. Nie wieder totaler Ausarbeitungsverlust und helle Panik bei unglücklichem Zusammentreffen von Kaffee und Computer. • Deine Kontodeckung ist gewährleistet. Zumindest in den ersten drei Wochen des Monats... • Wenn wir schon mal beim Thema Geld sind: Du hast einen Notgroschen für kaputte Fahrräder, geklaute Laptops, Stromnachzahlungen, spontane WG-Parties, etc. • Zeitungen: Kein Fremdwort, sondern ein Gegenstand des regelmäßigen Gebrauchs. (regelmäßig: öfter als ab und zu, nicht nur auf die Semesterferien beschränkt) • Du erfüllst die WHO-Empfehlung von 1 50 Minuten körperlicher Aktivität pro Woche. • Du gehst regelmäßig zum Zahnarzt. Obwohl der mal Zahni war. • Du sitzt maximal einmal im Monat verkatert im Seminar. • Du tauchst nur einmal im Semester ohne Kittel beim U-Kurs auf. • Schimmelpilzpopulationen leben in deinem Kühlschrank nur auf Produkten, die diese auch schon an der Käsetheke beherbergt haben. • Du liest medizinische Paper nicht nur im Rahmen der "Wissenschaftliches Arbeiten" Module oder deiner Doktorarbeit. • Überhaupt, deine Doktorarbeit: Es gibt konkrete Pläne und vielleicht sogar schon Text. • Oder bist du etwa schon fertig??? Und wartest nur noch darauf, das Staatsexamen zu bestehen? • 1 00-Tage Lernpläne jagen dir keine Angst ein. • Wenn dir plötzlich medizinische Begrifflichkeiten im Kopf herumschwirren, schlägst du sie umgehend nach anstatt zu hoffen, dass irgendein Dozent sie irgendwann mal so definiert, dass du sie dir bis übers Rentenalter hinaus merkst. • Du vergisst es maximal einmal im Semester dir einen Wecker zu stellen. Wenn du ein Glückspilz bist, passiert das an Tagen an denen du sowieso erst um 1 4 Uhr Uni hast (Keine Extrapunkte, Glück wird nicht belohnt.) • Du musstest noch nie die Säumnisgebühr fürs zu späte Überweisen der Semestergebühr zahlen. • Du bist nicht nur einigermaßen pünktlich, wenn dies dringend erforderlich ist (Vorstellungsgespräch, Abflug zur Weltreise), sondern auch bei normalen Veranstaltungen (Vorlesung, Verabredung zum Kaffeetrinken). 34 Finaler diagnostischer Test zur Quantifizierung des Erwachsenseins Auflösung: Volle Punktzahl: Du bist nicht von dieser Welt, eindeutig. Aber herzlich willkommen und richte auf deinem Heimatplaneten schöne Grüße aus. 1 9 - 1 5 Punkte: Respekt. Du hast dein Leben im Griff. Du bist zwar nicht ganz perfekt, aber wer will das schon. Dass du nicht immer daran denkst, frische Milch zu kaufen macht dich in deinen Augen nur sympathischer. 1 4-1 0 Punkte: Wie sagt man so schön? Du bist auf dem richtigen Weg. Ein paar Semester noch und du hast es raus. Bleibt nur zu hoffen, dass du nicht schon im PJ bist... weniger als 9 Punkte: Mach dir keine Sorgen. Hochwissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass 3 x 50 mg/d Gewissenhaftigkeit, 1 x 30 µg/d Verantwortungsbewusstsein und intensives Monitoring der To Do Liste diesen Test-Score innerhalb weniger Wochen signifikant verbessern können. Konsultiere einen Arzt deines Vertrauens und bleib dran! CAVE: Dieser Test ist für unter 1 8-jährige nicht zugelassen. Die Aussagekräftigkeit für Studierende nichtmedizinischer Fächer ist nicht belegt. Zeichnung: Sonja Radde Finaler diagnostischer Test zur Quantifizierung des Erwachsenseins 35 36 Redaktion Kontakt Anastasia Abdolvand, Henrik Abheiden, Sofia Banzhoff, Paul Felsmann, Leonard Hillmann, Markus Holstein, Anton Jacobshagen, Linda Polley, Franziska Storbeck, Christine Zeides _ Frederik Holz, Johanna Nagel, Malte Schmieding _ Illustration: Hannes Kutza, Katharina Mindach, Sonja Radde Berlin, № 04, Auflage 700 [email protected] 20. Februar2015 Druck:
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