40 | knowledge Tickt Führung richtig? Foto: Nagel‘s Blickwinkel/fotolia Neuroleadership managerSeminare | Heft 206 | Mai 2015 knowledge | 41 Das Gehirn ist ein überzeugendes Argument. Immer mehr Bücher und Seminare führen Erkenntnisse der Hirnforschung ins Feld, wenn es darum geht, wie man richtig führt, motiviert, verkauft. „Neuro“ wird dabei oft zum Pseudo-Beleg für haltlose Wirkungsversprechen. Gibt es überhaupt so etwas wie gehirngerechte Führung? Preview: AIFalsche Versprechen: Warum es den Schlüssel zum Gehirn der Mitarbeiter nicht gibt AIVernünftige Emotionen: Wie die Hirnforschung lehrt, auf das Herz zu hören AIJedes Hirn tickt anders: Warum es nicht die eine richtige Motivation geben kann AIÄhnlich gleich gut: Welche Arbeitsweisen des Gehirns den Führungsalltag sabotieren AIGestresste Gehirne: Was Führungskräfte mit Druck und übermäßiger Kontrolle anrichten AIBasis Beziehung: Wie Arbeit gehirngerechter gestaltet werden kann C Gehirngerechte Führung scheint ein ebenso präzises wie vielseitiges Führungswerkzeug zu sein, zumindest wenn es nach manchen Seminarbeschreibungen zum Thema geht: Mit „erfolgreichen Tools“ sein Gegenüber „zielgenau“ einschätzen, Motivation und Kreativität „nachhaltig“ stimulieren, „Konflikte bewältigen“ und „Change effektiver“ gestalten – alles kein Problem, wenn man nur weiß, wie die Gehirne der Mitarbeiter ticken. Diese vollmundigen Versprechen einiger Weiterbildungsanbieter zeugen von den großen Hoffnungen, die sich mit der Neurobiologie verbinden: Dass endlich ein Weg gefunden wurde, objektiv und beweisbar zu ermitteln, wie wir denken, entscheiden und lernen bzw. wie man andere richtig anspricht, motiviert und führt. Die Sache hat nur einen Haken: Vieles wissen wir in Wahrheit gar nicht über die physische Seite des Denkens, Fühlens und Handelns. Und das Wenige, was wir als gesichert annehmen können, lässt sich nicht ohne Weiteres auf die Führungspraxis übertragen. Weiterbildungsangebote rund um das Wort „Neuro“ gründen also auf eine dünne Beweislage – oder verlassen sie völlig, wenn sie pseudowissenschaftliche Thesen als Belege für alle möglichen Behauptungen heranziehen (s. „Neuro-Bullshit“, S. 44). Selbst seriöse Angebote sind nicht davor gefeit, übertriebene Wirkungsversprechen zu geben. Das bekannteste Beispiel ist der an sich sehr nütztliche NeuroleadershipAnsatz, den der Unternehmensberater David Rock und der Neurowissenschaftler Jeffrey Schwartz 2006 begründet haben. In ihrem Artikel „The Neuroscience of Leadership“ haben sie Ergebnisse der Hirnforschung genutzt, um einige unhinterfragte Gewissheiten aus Managementtheorie und Psychologie über den Haufen zu werfen. So kommen sie etwa zu dem Schluss, dass die weit verbreitete Verhaltenssteuerung durch Be lohnung und Bestrafung aus neurobio logischer Sicht sicher mehr schadet als nützt. So weit, so gut. Es gibt keinen Schlüssel zum Gehirn Aber der Neuroleadership-Ansatz hat – wie andere Weiterbildungsangebote rund ums Gehirn – eine bedenkliche Seite. Denn wenn unter Berufung auf die Neurobiologie allgemeingültige Handlungsempfehlungen für eine gelingende Führung ausgesprochen werden, wird es immer problematisch. Das gilt besonders, wenn dabei die Erwartung Den Beitrag gibt es auch zum Hören. Er kann unter www.managerSeminare.de/podcast als Audiodatei heruntergeladen werden. managerSeminare | Heft 206 | Mai 2015 42 | knowledge geweckt wird, man habe nun einen Werkzeugkasten wirksamer Methoden zur Verfügung, einen Schlüssel, der Führungskräften einen direkten Zugang zu den Gehirnen ihrer Mitarbeiter gewährt. Solche Allmachtsfantasien entspringen einem mechanistischen Verständnis von den Abläufen unter der Schädeldecke. Wenn wir jedoch eines über Gehirne gelernt haben, dann dies: Sie sind keine trivialen Maschinen, die sich mit simplen Werkzeugen steuern lassen (auf Input A folgt Output B), sondern hochkomplexe, dynamische Systeme, die sich äußeren Eingriffen und pauschalen Aussagen hartnäckig entziehen. Aber gibt es überhaupt Neuroleadership ohne Neuro-Leader-Shit? Was bleibt übrig, wenn man die pseudowissenschaftlichen Thesen und falschen Versprechen über Bord wirft? Tatsächlich kann die Hirnforschung auch ohne das Impulse für die Führung liefern. Allerdings keine High-Tech-Werkzeuge oder fertigen Rezepte, sondern „nur“ Reflexiongrundlagen. Das ist vielleicht nicht spektakulär und führt nie nur zu einer richtigen Lösung, ist letztlich aber nützlicher als simplifizierende Neuro-Tools. Denn wenn die Neurowissenschaften auch nicht beweisen können, wie es richtig geht, so können sie zumindest zum Nachdenken darüber anregen, wie es nicht geht. Führungskräfte können daraus lernen, die „Bio-Kompatibilität“ ihres Verhaltens mitzubedenken und verbreitete Führungsfehler zu vermeiden (s. Kasten unten). Vernünftige Emotionen Für Führungskräfte heißt das, dass sie einige Grundannahmen, die ihr Verhalten und ihr Rollenverständnis bislang bewusst oder unbewusst gesteuert haben, revidieren müssen. Das betrifft zum Beispiel die herrschende Vorstellung, dass Führung eine objektiv und sachlich zu bewältigende Aufgabe ist, bei der Emotionen möglichst Häufige Führungsfehler aus Neuro-Sicht Das Streben nach 100%iger Auslastung ... ... ist für einen Maschinenpark sicher erstrebenswert. Menschen, die problemlösend arbeiten, brauchen hingegen Pausen und zielfreie Arbeitszeiten. Der Netzwerkzustand des Gehirns, der sich einstellt, wenn wir keine konkreten Aufgaben erledigen, geht mit der Aktivierung weit auseinanderliegender Gehirnareale einher und ist mit kreativen Denkleis tungen korreliert. Richten Sie für Ihre Mitarbeiter Zeitinseln für ergebnisoffene Forschungs- und Denkprozesse ein. Das Führen mit Belohnung und Bestrafung ... ... basiert auf der Lernpsychologie des frühen 20. Jahrhunderts. Anreize und Sanktionen haben in Grenzen ihre Berechtigung. Insbesondere durch die Spiegelneuronen-Forschung wissen wir jedoch um die weitaus größere Bedeutung des Imitationslernens von Vorbildern, denen wir nahestehen. Tauschen Sie sich doch einmal mit Ihren Mitarbeitern darüber aus, welche Verhaltensweisen Sie aneinander als vorbildlich empfinden, das hilft mehr als Zuckerbrot und Peitsche. Angekündigte Belohnungen ... ... haben einen sehr begrenzten Motivationseffekt. Das Motivationssystem unseres Gehirns verstärkt Verhalten, dessen Konsequenzen unsere Erwartungen übertreffen. Es reagiert also besonders stark auf positive Überraschungen. Diese müssen nicht monetärer Natur sein. Denn die Social-BrainForschung zeigt deutlich die Motivationswirkung von sozialer Akzeptanz und Zugehörigkeit. Überraschen Sie Ihre Mitarbeiter gelegentlich, zum Beispiel mit der Frage, wie sie ein Problem gelöst managerSeminare | Heft 206 | Mai 2015 haben, und der Bitte, dieses Wissen beim nächsten Meeting mit den Kollegen zu teilen. Das Führen mit Druck und Angst ... ... würden sich wohl die wenigsten Führungskräfte bewusst als Führungsstrategie auf die Fahnen schreiben, trotzdem passiert es. Dabei kann der damit einhergehende soziale Stress fatale Auswirkungen auf die Fähigkeit der Mitarbeiter haben, sich Ziele zu setzen, Strategien zu entwickeln und die Maßnahmenerreichung zu überwachen. Solche stressinduzierten Frontalhirndefizite können zu einer Intelligenzminderung der gesamten Organisation führen. Reflektieren Sie in einem ruhigen Moment, in welchen Situationen Sie zum Beispiel Drohungen aussprechen und warum. Standardisierung … … stößt in der Führung von Menschen auf enge Grenzen. Da die Neuroplastizität jedes einzelne Gehirn aufgrund seiner individuellen Lebenserfahrung unterschiedlich formt, haben Menschen sehr unterschiedliche Wahrnehmungen, Denkmuster und motivationale Schemata. Daher gibt es keine „richtigen“ Verhaltensweisen für Führung und Motivation. Nichts ersetzt das Kennenlernen individueller Fähigkeiten, Präferenzen und Handlungsmo- tive. Investieren Sie gerade in hektischen Phasen besonders viel Zeitressourcen in den Dialog. Die beste Motivationsmaßnahme ist es, Mitarbeitern diese Zeit zu schenken. Permanente Kontrollen und Misstrauen … … hemmen den Mut zu handeln. Denn das Gehirn entwickelt sich gemäß seinen Gebrauchsbedingungen. Wer selbstständige Mitarbeiter will, kommt nicht umhin, sie immer wieder zu eigenverantwortlichem Handeln zu ermutigen und Fehler machen zu lassen. Eine positive Fehler-und Vertrauenskultur ist nicht nur der beste Nährboden für die Entwicklung von Selbstwirksamkeit, sondern setzt im Gehirn auch Stoffe wie das Vertrauens-und Bindungshormon Oxytocin frei, die Loyalität und Leistungsbereitschaft fördern. Besprechen Sie in Ihren Meetings immer wieder couragierte Entscheidungen von Mitarbeitern, lehrreiche Fehler und auch eigene Fehlentscheidungen. Das Vermeiden von Emotionen ... … und das Streben nach Sachlichkeit im Umgang mit Mitarbeitern dienen hauptsächlich dem Schutz der Führungskraft. Emotionen sind jedoch die handlungsauslösende Kraft im Gehirn. Die durch sie ausgeschütteten Neurotransmitter sind zudem ein Katalysator für die Neuroplastizität und damit für alle Lern-und Veränderungsprozesse im Gehirn. Wer also permanente Sachlichkeit verlangt, kastriert das Leistungs- und Lernpotenzial seiner Organisation. Lernen Sie, an negativen wie positiven Emotionen Ihrer Mitarbeiter anzuknüpfen und Widerstände, Angst, Frustration, Freude, Stolz und andere Gefühle besprechbar zu machen. knowledge | 43 MICEGuide.com rauszuhalten sind. Hinter diesem Bild vom kühlen Entscheider steht die Hypothese, dass Menschen generell nach rationalen Erwägungen entscheiden. Die Gleichsetzung von Vernunft und Emotionslosigkeit widerspricht jedoch der biologischen Situation: Die Hirnforschung legt nahe, dass Gefühle sogar die wesentliche Voraussetzung sind, um vernünftig handeln zu können. Denn wenn Teile des limbischen Systems, in dem Gefühle verarbeitet werden, verletzt werden, sind Be troffene oft nicht mehr in der Lage, sich vernünftig zu verhalten oder überhaupt Entscheidungen zu treffen. Aus neurologischer Sicht ist das Rationalitätsdiktat in der Arbeitswelt also blanker Unsinn, vor allem beim Thema Führung. Denn der Weg vom Nachdenken zum Handeln verläuft immer über eine limbische Schleife. Jede Handlungsmöglichkeit passiert dabei eine Art emotionales Assessment Center, bevor sie Wirklichkeit werden kann. Wir kommen also im wörtlichen Sinne „nicht an den Gefühlen vorbei“. Statt sie also für inexistent oder irrelevant zu erklären, täten wir gut daran, uns mit Gefühlen auseinanderzusetzen – unseren eigenen und denen unserer Mitmenschen: Welche Ängste und Ge lüste treiben mein Handeln an? Welche Motive bewegen meine Mitarbeiter? Emotionale Intelligenz, also die Fähigkeit, Gefühle wahrnehmen, einordnen und besprechen zu können, sowie Beziehungsfähigkeit müssten nach neurobiologischen Befunden einen wesentlich höheren Stellenwert bei der Auswahl und Ausbildung von Führungskräften haben, als das bisher der Fall ist. Finden Sie hier die passende Location für Ihr Event! Jedes Hirn tickt anders Eine zweite Grundannahme, die viele Führungskräfte hegen, betrifft ihre Fähigkeit zur Mitarbeitermotivation. Wer glaubt, diese Kunst ein für alle Mal zu beherrschen, irrt. Schuld ist die Neuroplastizität: Der oft als „Wir können lebenslang lernen“ trivialisierte Begriff bezeichnet die Fähigkeit des Gehirns, seine Synapsen, also die Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen, physisch zu verändern. Auslöser dieser organischen Wachstumsprozesse, die die biologische Seite des Lernens darstellen, sind vor allem emotionale Erfahrungen, die als Lernerfahrungen in der neuronalen Netzwerkarchitektur gespeichert werden. In der Praxis bedeutet das: Jedes einzelne Gehirn ist in seiner synaptischen Feinstruktur und seiner Funktion so einzigartig wie die Lebensgeschichte, die es geformt hat. Darin unterscheiden sich Gehirne deutlich von anderen Organen. Das Herz kann bei entsprechender sportlicher Betätigung größer werden, auch die Leber wächst, wie Eckart von Hirschhausen sagt, mit ihren Aufgaben. Aber an ihrer Beschaffenheit und Funktionsweise ändert sich wenig. Gehirne hingegen unterscheiden sich in den Bewertungen und Sinnkonstruktionen, die sie ermöglichen, und sie unterscheiden sich auch in der Art, wie sie auf Kommunikations- oder Motivationsversuche reagieren. Damit ist klar, warum auch die implizite Überzeugung vieler Führungskräfte, dass alle anderen sich so verhalten, wie sie selbst es tun würden, zwar nur allzu menschlich, aber auch problematisch ist. Wie sich das © Halfpoint, Fotolia.de managerSeminare | Heft 206 | Mai 2015 44 | knowledge auswirkt, war bei einem großen Versicherungsunternehmen zu beobachten. In dessen Vertriebsteams war die Motivation extrem ungleich verteilt: Es gab hoch motivierte und völlig unmotivierte Mitarbeiter, dazwischen fast nichts. In informellen Interviews zeigt die eine Gruppe wenig Verständnis für die „Trägheit“ der Kollegen, schließlich gebe es tolle Anreize wie Sonderboni, Dienstwagen etc. Die andere Gruppe hingegen fühlte sich von der Führung aktiv demotiviert. Der Vertriebsleiter wechsele kaum ein persönliches Wort mit ihnen, klagten sie, Kontakte mit den übrigen Führungskräften fänden nur in Meetings statt, Rückfragen seien kaum möglich, die Unsicherheit sei entsprechend hoch. Die Trägheit der grauen Masse Wie sich herausstellte, war einer der Gründe für dieses Missverhältnis, dass die Verantwortlichen ihr eigenes Motivations system pauschal auf alle Mitarbeiter übertragen hatten. Ihre nie bewusst reflektierte Strategie zielte ausschließlich auf finanzielle Vorteile und Statuszuwachs. In der Terminologie des SCARFModells von NeuroleadershipGründer David Rock hatten sie also eine Schlagseite in Richtung der Motive Status (S) und Autonomie (A), zuungunsten der Motive Certainty (C), Relatedness (R) und Fairness (F). Bei einem Teil der Mitarbeiter waren aber die anderen Bedürfnisse dominanter, oder anders gesagt: In ihrem emotionalen Gedächtnis waren andere, neuroplastisch gewachsene Motive eingeschrieben, die auch anders hätten angesprochen werden müssen. Aufgrund dieser neuronalen Diversity kann es in Fragen der Motivation nie nur den einen richtigen Schlüssel, nie die eine richtige Methode geben. Aus den eigenen Erfahrungen allgemeine Regeln abzuleiten – dieser Mechanismus wirkt keineswegs nur bei der Generalisierung von Leistungsmotiven. Es Neuro-Bullshit: Die unsinnigsten Thesen über das Gehirn Wir nutzen nur 10 Prozent unseres Gehirns Kein Teil des Gehirns ist völlig inaktiv. Wäre dies der Fall, so würde es nach dem zweiten Gesetz der Neuroplastizität „use it or lose it“ abgebaut. Aus der Hochbegabten-Forschung und aus der Demenz-Forschung wissen wir, dass viel Gehirnaktivität nicht unbedingt mit überragenden kognitiven Leistungen korreliert. Wichtiger ist es, die richtigen neuronalen Netzwerke anzusteuern. Je besser jemand in einer Domäne ist, desto gezielter nutzt er sein Gehirn. Alte Mitarbeiter bauen kognitiv ab Es trifft zu, dass die Fähigkeit zum schnellen Pauken von Wissen bereits nach der Kindheit rapide abnimmt. Die Geschwindigkeit beim Lösen von Problemen sinkt sehr viel langsamer. Gleichzeitig steigt aber der Erfahrungsschatz und damit die Fähigkeit, ziel führendes Wissen intelligent auszuwählen und zu vernetzen, bis ins hohe Alter an. Die kognitive Leistungsfähigkeit sinkt also nicht automatisch ab. Voraussetzung ist allerdings ein fortdauernder, nicht mit 45 oder 50 Jahren unterbrochener Lern- und Entwicklungs prozess. Die linke Gehirnhälfte ist rational, die rechte emotional Emotionen sind keineswegs links oder rechts verortet. Beim Erleben von Gefühlen ist keine der beiden Gehirnhälften nennenswert aktiver als die andere. Vielmehr sind bei Patienten mit Schädigungen in der linken Gehirnhälfte ebenso emotionale Beeinträchtigungen nachgewiesen worden, wie umgekehrt. Außerdem kommunizieren im gesunden Gehirn beide Hirnhälften intensiv und beeinflussen einander, eine explizite Aktivierung einer Hemisphäre oder die „Integration beider Gehirnhälften“ ist nichts als Geschwätz. managerSeminare | Heft 206 | Mai 2015 scheint ein generelles Prinzip des Gehirns zu sein, sich am Bekannten zu orientieren. Insbesondere unser biografisches und emoti onales Gedächtnis funktionieren wie eine Art Mustererkennungssoftware, die neue Wahrnehmungen ständig mit bekannten Erfahrungen abgleicht und nach Ähnlichkeiten überprüft. Was in der Evolutionsgeschichte entscheidend war fürs Überleben, kann im schnell veränderlichen Arbeitsleben leicht zu unangemessenen Urteilen führen. Tatsächlich ist für den Erfolg von morgen nichts so gefährlich wie die Erfolge von gestern, die sich durch starke Emotionen tief in die handlungsleitenden Strukturen des Gehirns eingegraben und zu den unbewussten Maßstäben verfestigt haben, nach denen wir handeln und bewerten. Auch die Führungskräfte des im Beispiel beschriebenen Versicherungsunternehmens hatten mit ihrer Motivationsstrategie lange Erfolg – bis eine veränderte Belegschaftsstruktur die alten Muster unwirksam gemacht hat. Deshalb ist die gängige Führungspraxis, Best-Practice-Beispiele zur Lösung für kommende Probleme heranzuziehen, nicht immer zielführend und oft sogar ein Hemmschuh für erforderliche Anpassungsleis tungen. Denn was einmal richtig war, muss es beim nächsten Mal nicht noch mal sein, wenn sich die Bedingungen verändert haben – auch wenn uns unser Hirn etwas anderes „suggeriert“. Nebenbei bemerkt: Auch der Widerstand gegen Change-Prozesse ist Ausdruck des Beharrens auf Bewährtem – ein Umstand, den Führungskräfte im Hinterkopf behalten sollten, bevor sie bei Veränderungen zu sehr aufs Tempo drücken oder Widerstände ahnden (statt sie als natürliche Reaktion zu sehen). Ähnlich ist gut Das Denken in Strukturähnlichkeiten zeitigt eine weitere, in der Arbeitswelt nicht unproblematische Folge: Menschen, die uns in Aussehen, Verhalten, Denkweise, Emotionen und Werten ähnlich sind, sind uns unwillkürlich sympathischer als unähnliche Zeitgenossen. Hier spielt auch die „dunkle Seite“ der viel zitierten Spiegelneuronen und des Vertrauens- und Bindungshormons Oxytocin eine Rolle: Letzteres fördert die Bindungen innerhalb einer Gruppe, verstärkt damit jedoch auch die Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen und trägt zur Silobildung bei. Dies kann, wie Peter Kruse es einmal ausgedrückt hat, zur exponenziellen Verdummung einer Organisation führen. Denn das knowledge | 45 Verfahren produziert lauter Klone, die dazu tendieren, mit der Führungskraft einer Meinung zu sein. So fehlen die internen Spannungen, Widerstände, Bedenken und Auseinandersetzungen, die aus einem Team mehr machen als die Summe seiner Teile. Im Falle der Versicherung zeigte sich zum Beispiel, dass die scheinbar unmotivierten Mitarbeiter besonders gut darin waren, langjährige Beziehungen zu Kunden zu pflegen – etwas, wovon sich die angeblichen High Performer noch etwas abschauen konnten. Damit so ein Teamentwicklungsprozess in Gang kommen kann, bei dem alle voneinander lernen, müssen die Stärken der Teilgruppen über die Wahrnehmungsschwelle gehoben und anerkannt werden. Dann kann das Prinzip der spiegelneuronalen Ansteckung positiv genutzt werden, um durch gegenseitige Nachahmung bessere Leistungen zu erzielen, statt dass durch die Ausgrenzung angeblicher „Low Performer“ die gegenseitige Ansteckung eine destruktive Richtung nimmt. Gestresste Gehirne Die Ausgrenzung von Personen und Gruppen zuzulassen oder gar zu fördern, sollten Führungskräfte aus neurobiologischer Sicht ohnehin nicht riskieren, auch wenn einer alten Führungsweisheit zufolge Konkurrenz das Geschäft belebt. Es gehört zu den gesicherten Befunden der Hirnforschung, dass der psychische Schmerz von Abwertung und Ausgrenzung durch Gehirnareale verarbeitet wird, die auch bei körperlichem Schmerz aktiv sind. Nicht mehr gefragt zu werden, nicht mehr auf dem Verteiler zu stehen, zu Meetings nicht eingeladen oder explizit abschätzig behandelt zu werden, schaltet in unserem Gehirn ähnliche Systeme ein wie ein Faustschlag. Diese Reaktion ist evolutionsbiologisch begründbar, da der „Reflexion ist wichtiger als Tools“ Seit Jahren gibt es Neuroleadership-Programme für Führungskräfte. Sonja Thiemann, Leiterin des Competence Center Management, Führung & Strategie an der Frankfurt School of Finance & Management, erklärt, welche Vorteile der Bezug auf die Hirnforschung gerade für diese Zielgruppe hat. Worin besteht der Nutzen von Neuroleadership für Führungskräfte? Sonja Thiemann: Die Hirnforschung liefert praktische Hinweise, welches Führungsverhalten gehirngerecht ist und welches weniger. Zum Beispiel können wir Managern jetzt besser erklären, warum rein rationalbetriebswirtschaftlich durchgeführtes Change Management oft nicht funktioniert und warum Veränderungen erfolgreicher sind, wenn die Mitarbeiter dabei auch auf der emotionalen Ebene begleitet werden. Ein hilfreicher Aspekt von Neuroleadership ist die Stressbiologie. Wer anhand von Studien gesehen hat, wie leistungsmindernd Stress im Gehirn wirken kann, kann leichter strategische Weichen für eine Führungskultur stellen, die eher auf tragfähigen Beziehungen aufbaut als auf Angst, Leistungsdruck und operativer Hektik. Aber das predigen Berater, Führungskräftetrainer und Coachs doch auch ohne Neuroleadership schon lange ... Ja, aber sie bezogen ihre Einsichten bisher vorwiegend aus humanwissenschaftlichen Quellen, weniger aus harten Messergebnissen. Das hatte für viele Führungskräfte immer noch einen gewissen „Psycho-Touch“. Die Hirnforschung mit ihren Hard Facts ist da ein Stück weit anschlussfähiger an eine Welt, die von Zahlen, Daten und Fakten geprägt ist. Deshalb steigert die Hirnforschung auch die Akzeptanz von Inhalten, mit denen Personalentwickler oft jahrelang gegen Mauern gelaufen sind, weil sie die Belege vorlegt, die Manager fordern. Welche Botschaft aus der Neurobiologie ist für Sie die wichtigste? Dass eine fortlaufende Reflexion des eigenen Führungsverhaltens und der eigenen Haltung wichtiger ist, als ein Führungswerkzeug nach dem anderen zu erlernen. Die Hirnforschung zeigt zum Beispiel, dass eine negative innere Haltung im Gehirn eines Gesprächspartners Abwehrsysteme aktiviert, egal wie viel verbindliche Rhetorik sich jemand antrainiert hat. An dieser Haltung müssen Führungskräfte arbeiten, weil sie ganz wesentlich über den Führungserfolg entscheidet. Keine leichte Kost für Führungskräfte, die vor allem nach Kennzahlen vorgehen. Wir alle verbessern uns viel lieber in den Bereichen, in denen wir ohnehin schon gut sind. Führungskräftetrainings, die über die Tool-Ebene hinaus in die zwischenmenschliche Ebene gehen, stellen für einige Teilnehmer eine Herausforderung dar, gerade für junge Führungskräfte, die noch nicht begriffen haben, dass ein wesentlicher Teil ihrer Führungsaufgabe im Beziehungsmanagement besteht und nicht in der Fortsetzung ihrer fachlichen Tätigkeit auf höherem Niveau. Sonja Thiemann ist Leiterin des Competence Center Management, Führung & Strategie an der Frankfurt School of Finance & Management. Kontakt: [email protected] managerSeminare | Heft 206 | Mai 2015 46 | knowledge Verlust an Zugehörigkeit lange Zeit lebensbedrohlich war, der Schmerz ein entsprechend starkes Warnsignal. Passiert dergleichen im heutigen Arbeitsleben, führt das zu Stress, der erhebliche Auswirkungen auf den Krankenstand in Unternehmen haben kann. Es gibt wenige Dinge, die der Leistungsfähigkeit und der seelischen und körperlichen Gesundheit so abträglich sein können wie dauerhaft überschwelliger Stress, vor allem, wenn es sich um sozialen Stress handelt. Je nach individueller Resilienz kann er den vorübergehenden Ausfall von exekutiven Funktionen im Frontalhirn verursachen, wo zum Beispiel Zielplanung und die Entwicklung intelligenter Strategien anatomisch verortet sind und das auf Übererregung besonders empfindlich reagiert. Im gestressten Gehirn kommt es oft zu einer kompensatorischen Verlagerung der neuronalen Aktivitäten auf primitivere, aber stabiler funktionierende Gehirnbereiche. Die Folgen reichen von Verlust der Verhaltensflexibilität über die Regression in frühkindlich erworbene limbische Stressbewältigungsmuster wie Trotzverhalten oder Überangepasstheit bis hin zu basalen Überlebensreaktionen wie Angriff, Flucht und Franz Hütter hat sich auf den Praxistransfer aus der Hirnforschung für Führungskräfte, Trainer, Berater und Coachs spezialisiert. Er bietet Vorträge, InhouseSeminare und Beratung zu neurowissenschaftlichen Themen. Außerdem lehrt er Applied Cognitive Neuroscience an der Hochschule für Angewandtes Management in Erding. Kontakt: www.brain-hr.com Erstarrung. Eskalierende Konflikte, gelbe Scheine und innere Kündigung können die Folge sein. Im schlimmsten Fall kann Dauerstress zu einem Abbau von Konnektivität in leistungsrelevanten Gehirnarealen führen. Beziehungen als Basis gehirngerechter Führung Aus demselben Grund sollten Führungskräfte auf ein Übermaß an Druck und Kontrolle Service Literaturtipps ARüdiger Reinhardt (Hrsg.): Neuroleadership. Empirische Überprüfung und Nutzenpotenziale für die Praxis. De Gruyter, Berlin 2014, 39.95. Die weltweit erste empirische Überprüfung verschiedener Neuroleadership-Ansätze und derzeit vielleicht das wichtigste verfügbare Buch über Neuroleadership. Nützlich für alle, die Neuroleadership strategisch zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit und Gesundheit in ihrem Unternehmen einsetzen wollen. AChristian Erich Elger: Neuroleadership. Erkenntnisse der Hirnforschung für die Führung von Mitarbeitern. Haufe-Gruppe, Freiburg, München 2013, 34,95 Euro. Das erste deutsche Neuroleadership-Buch ist sehr leicht lesbar und zugleich fachlich fundiert. Das Buch bietet neben neurowissenschaftlichen Praxisimpulsen für Führungskräfte einen guten Einstieg in neuroökonomische Denkwelten. ATheo Peters, Argang Ghadiri: Neuroleadership – Grundlagen, Konzepte, Beispiele. Erkenntnisse der Neurowissenschaften für die Mitarbeiterführung. Springer Gabler, Wiesbaden 2013, 39,99 Euro. Peters und Ghadiri übersetzen unter anderem ein aus der Neuropsychotherapie von Klaus Grawe entlehntes Modell in einen Prozess für gehirngerechtere Führung. Dabei geht es um die Befriedigung neurobiologisch fundierter Grundbedürfnisse und Austarierung motivationaler Regungen. AHenning Beck: Hirnrissig. Die 20,5 größten Neuromythen – und wie unser Gehirn wirklich tickt. Hanser, München 2014, 16,90 Euro. Ein junger Neurowissenschaftler macht sich zum Anwalt des Gehirns und zerpflückt auf vergnügliche Weise die hirnrissigsten Neuromythen. verzichten – immer noch verbreitete Führungsinstrumente, deren Gebrauch aus Sicht der Stressbiologie jedoch mehr als fraglich ist. Stattdessen gibt es gute Gründe, einen sozialen, gemeinschaftlichen Führungsstil zu pflegen und den Aufbau tragfähiger sozialer Beziehungen mit und innerhalb der Belegschaft zu fördern. Das kann zum Beispiel durch Mentoring, den Aufbau einer schnittstellenübergreifenden Kommunikation und Zeit für selbst organisierte kollegiale Projekte erfolgen. Seitens der Führungskraft erfordert das viel Mut zum Loslassen, zur Aufgabe von Kontrolle. Aber nur so kann, wenn man die Gesetze der Neuroplastizität ernst nimmt, Selbstständigkeit entstehen: wenn man Menschen selbst Fehler machen und Lösungen erarbeiten lässt. Das ist nicht nur Heile-Welt-Wunschdenken. Der Neurobiologe und Psychosomatiker Joachim Bauer bringt auf den Punkt, wie motivationsfördernd und angstlösend sozialer Kontakt wirkt: „Die stärkste Motivationsdroge für den Menschen ist der andere Mensch.“ Eine Begründung dafür liegt in der Rolle des Oxytocins: Es setzt einerseits durch eine enge funktionelle Verzahnung mit dem Dopamin-System Motivation frei und wirkt andererseits als potenter körpereigener Angstlöser und Stressdämpfer. Wie psychologische und neuroökonomische Studien zeigen, wird Oxytocin durch positiven zwischenmenschlichen Kontakt, tragfähige Beziehungen und vor allem durch Vertrauensvorschuss ausgeschüttet. Führungserfolg ist so gesehen immer der Erfolg der Interaktion und damit der Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeiter. Sich um diese Interaktion zu kümmern und ihr Raum zu geben, ist der beste „Tipp“, den die Neurobiologie in Sachen Führung geben kann. Franz Korbinian Hütter C managerSeminare | Heft 206 | Mai 2015 wir können. sympathisch anders. eigen (Sie) was Sie können ibo-Zertifikate Beratung Training Training und Training Thema Change Management - Integriert statt isoliert ibo Trendforum Change Management-Berater mit ibo-Zertifikat Lernen Sie von und diskutieren Sie mit Experten und Praktikern. 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