Tickt Führung richtig?

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Tickt Führung richtig?
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Neuroleadership
managerSeminare | Heft 206 | Mai 2015
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Das Gehirn ist ein überzeugendes Argument. Immer mehr Bücher und
Seminare führen Erkenntnisse der Hirnforschung ins Feld, wenn es
darum geht, wie man richtig führt, motiviert, verkauft. „Neuro“ wird
dabei oft zum Pseudo-Beleg für haltlose Wirkungsversprechen. Gibt
es überhaupt so etwas wie gehirngerechte Führung?
Preview: AIFalsche Versprechen: Warum es den
Schlüssel zum Gehirn der Mitarbeiter nicht gibt AIVernünftige Emotionen: Wie die Hirnforschung lehrt, auf
das Herz zu hören AIJedes Hirn tickt anders: Warum
es nicht die eine richtige Motivation geben kann
AIÄhnlich gleich gut: Welche Arbeitsweisen des
Gehirns den Führungsalltag sabotieren AIGestresste
Gehirne: Was Führungskräfte mit Druck und übermäßiger Kontrolle anrichten AIBasis Beziehung: Wie
Arbeit gehirngerechter gestaltet werden kann
C Gehirngerechte Führung scheint ein
ebenso präzises wie vielseitiges Führungswerkzeug zu sein, zumindest wenn es nach
manchen Seminarbeschreibungen zum
Thema geht: Mit „erfolgreichen Tools“ sein
Gegenüber „zielgenau“ einschätzen, Motivation und Kreativität „nachhaltig“ stimulieren, „Konflikte bewältigen“ und „Change
effektiver“ gestalten – alles kein Problem,
wenn man nur weiß, wie die Gehirne der
Mitarbeiter ticken. Diese vollmundigen Versprechen einiger Weiterbildungsanbieter
zeugen von den großen Hoffnungen, die
sich mit der Neurobiologie verbinden: Dass
endlich ein Weg gefunden wurde, objektiv
und beweisbar zu ermitteln, wie wir denken,
entscheiden und lernen bzw. wie man andere richtig anspricht, motiviert und führt.
Die Sache hat nur einen Haken: Vieles
wissen wir in Wahrheit gar nicht über die
physische Seite des Denkens, Fühlens und
Handelns. Und das Wenige, was wir als gesichert annehmen können, lässt sich nicht
ohne Weiteres auf die Führungspraxis übertragen. Weiterbildungsangebote rund um
das Wort „Neuro“ gründen also auf eine
dünne Beweislage – oder verlassen sie völlig,
wenn sie pseudowissenschaftliche Thesen
als Belege für alle möglichen Behauptungen
heranziehen (s. „Neuro-Bullshit“, S. 44).
Selbst seriöse Angebote sind nicht davor
gefeit, übertriebene Wirkungsversprechen
zu geben. Das bekannteste Beispiel ist der
an sich sehr nütztliche NeuroleadershipAnsatz, den der Unternehmensberater David
Rock und der Neurowissenschaftler Jeffrey
Schwartz 2006 begründet haben. In ihrem
Artikel „The Neuroscience of Leadership“
haben sie Ergebnisse der Hirnforschung
genutzt, um einige unhinterfragte Gewissheiten aus Managementtheorie und Psychologie über den Haufen zu werfen. So kommen sie etwa zu dem Schluss, dass die weit
verbreitete Verhaltenssteuerung durch Be­­
lohnung und Bestrafung aus neurobio­
logischer Sicht sicher mehr schadet als nützt.
So weit, so gut.
Es gibt keinen Schlüssel zum Gehirn
Aber der Neuroleadership-Ansatz hat – wie
andere Weiterbildungsangebote rund ums
Gehirn – eine bedenkliche Seite. Denn wenn
unter Berufung auf die Neurobiologie allgemeingültige Handlungsempfehlungen für
eine gelingende Führung ausgesprochen
werden, wird es immer problematisch. Das
gilt besonders, wenn dabei die Erwartung
Den Beitrag gibt es auch zum Hören. Er kann unter www.managerSeminare.de/podcast als Audiodatei heruntergeladen werden.
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geweckt wird, man habe nun einen Werkzeugkasten wirksamer Methoden zur Verfügung, einen Schlüssel, der Führungskräften
einen direkten Zugang zu den Gehirnen
ihrer Mitarbeiter gewährt. Solche Allmachtsfantasien entspringen einem mechanistischen Verständnis von den Abläufen
unter der Schädeldecke. Wenn wir jedoch
eines über Gehirne gelernt haben, dann dies:
Sie sind keine trivialen Maschinen, die sich
mit simplen Werkzeugen steuern lassen (auf
Input A folgt Output B), sondern hochkomplexe, dynamische Systeme, die sich äußeren
Eingriffen und pauschalen Aussagen hartnäckig entziehen.
Aber gibt es überhaupt Neuroleadership
ohne Neuro-Leader-Shit? Was bleibt übrig,
wenn man die pseudowissenschaftlichen Thesen und falschen
Versprechen über Bord wirft?
Tatsächlich kann die Hirnforschung auch ohne das Impulse
für die Führung liefern. Allerdings keine High-Tech-Werkzeuge oder fertigen Rezepte,
sondern „nur“ Reflexiongrundlagen. Das ist vielleicht nicht
spektakulär und führt nie nur zu
einer richtigen Lösung, ist letztlich aber nützlicher als simplifizierende Neuro-Tools. Denn
wenn die Neurowissenschaften
auch nicht beweisen können, wie
es richtig geht, so können sie
zumindest zum Nachdenken darüber
an­regen, wie es nicht geht. Führungskräfte
können daraus lernen, die „Bio-Kompatibilität“ ihres Verhaltens mitzubedenken und
verbreitete Führungsfehler zu vermeiden
(s. Kasten unten).
Vernünftige Emotionen
Für Führungskräfte heißt das, dass sie einige Grundannahmen, die ihr Verhalten und
ihr Rollenverständnis bislang bewusst oder
unbewusst gesteuert haben, revidieren müssen. Das betrifft zum Beispiel die herrschende Vorstellung, dass Führung eine
objektiv und sachlich zu bewältigende Aufgabe ist, bei der Emotionen möglichst
Häufige Führungsfehler aus Neuro-Sicht
Das Streben nach 100%iger Auslastung ...
... ist für einen Maschinenpark sicher erstrebenswert. Menschen, die problemlösend arbeiten, brauchen hingegen Pausen und zielfreie Arbeitszeiten.
Der Netzwerkzustand des Gehirns, der sich einstellt,
wenn wir keine konkreten Aufgaben erledigen, geht
mit der Aktivierung weit auseinanderliegender
Gehirnareale einher und ist mit kreativen Denkleis­
tungen korreliert. Richten Sie für Ihre Mitarbeiter
Zeitinseln für ergebnisoffene Forschungs- und
Denkprozesse ein.
Das Führen mit Belohnung und Bestrafung ...
... basiert auf der Lernpsychologie des frühen 20.
Jahrhunderts. Anreize und Sanktionen haben in
Grenzen ihre Berechtigung. Insbesondere durch die
Spiegelneuronen-Forschung wissen wir jedoch um
die weitaus größere Bedeutung des Imitationslernens von Vorbildern, denen wir nahestehen. Tauschen Sie sich doch einmal mit Ihren Mitarbeitern
darüber aus, welche Verhaltensweisen Sie aneinander als vorbildlich empfinden, das hilft mehr als
Zuckerbrot und Peitsche.
Angekündigte Belohnungen ...
... haben einen sehr begrenzten Motivationseffekt.
Das Motivationssystem unseres Gehirns verstärkt
Verhalten, dessen Konsequenzen unsere Erwartungen übertreffen. Es reagiert also besonders
stark auf positive Überraschungen. Diese müssen
nicht monetärer Natur sein. Denn die Social-BrainForschung zeigt deutlich die Motivationswirkung
von sozialer Akzeptanz und Zugehörigkeit. Überraschen Sie Ihre Mitarbeiter gelegentlich, zum Beispiel mit der Frage, wie sie ein Problem gelöst
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haben, und der Bitte, dieses Wissen
beim nächsten Meeting mit den Kollegen zu teilen.
Das Führen mit Druck und Angst ...
... würden sich wohl die wenigsten
Führungskräfte bewusst als Führungsstrategie auf die Fahnen schreiben,
trotzdem passiert es. Dabei kann der
damit einhergehende soziale Stress
fatale Auswirkungen auf die Fähigkeit
der Mitarbeiter haben, sich Ziele zu
setzen, Strategien zu entwickeln und
die Maßnahmenerreichung zu überwachen. Solche stressinduzierten Frontalhirndefizite können zu einer Intelligenzminderung der gesamten Organisation
führen. Reflektieren Sie in einem
ruhigen Moment, in welchen Situationen Sie zum Beispiel Drohungen aussprechen und warum.
Standardisierung …
… stößt in der Führung von Menschen
auf enge Grenzen. Da die Neuroplastizität jedes einzelne Gehirn aufgrund
seiner individuellen Lebenserfahrung
unterschiedlich formt, haben Menschen sehr unterschiedliche Wahrnehmungen, Denkmuster und motivationale Schemata. Daher gibt es keine
„richtigen“ Verhaltensweisen für Führung und Motivation. Nichts ersetzt das
Kennenlernen individueller Fähigkeiten, Präferenzen und Handlungsmo-
tive. Investieren Sie gerade in hektischen Phasen
besonders viel Zeitressourcen in den Dialog. Die
beste Motivationsmaßnahme ist es, Mitarbeitern
diese Zeit zu schenken.
Permanente Kontrollen und Misstrauen …
… hemmen den Mut zu handeln. Denn das Gehirn
entwickelt sich gemäß seinen Gebrauchsbedingungen. Wer selbstständige Mitarbeiter will, kommt
nicht umhin, sie immer wieder zu eigenverantwortlichem Handeln zu ermutigen und Fehler machen zu
lassen. Eine positive Fehler-und Vertrauenskultur ist
nicht nur der beste Nährboden für die Entwicklung
von Selbstwirksamkeit, sondern setzt im Gehirn
auch Stoffe wie das Vertrauens-und Bindungshormon Oxytocin frei, die Loyalität und Leistungsbereitschaft fördern. Besprechen Sie in Ihren Meetings
immer wieder couragierte Entscheidungen von Mitarbeitern, lehrreiche Fehler und auch eigene Fehlentscheidungen.
Das Vermeiden von Emotionen ...
… und das Streben nach Sachlichkeit im Umgang
mit Mitarbeitern dienen hauptsächlich dem Schutz
der Führungskraft. Emotionen sind jedoch die handlungsauslösende Kraft im Gehirn. Die durch sie
ausgeschütteten Neurotransmitter sind zudem ein
Katalysator für die Neuroplastizität und damit für alle
Lern-und Veränderungsprozesse im Gehirn. Wer
also permanente Sachlichkeit verlangt, kastriert das
Leistungs- und Lernpotenzial seiner Organisation.
Lernen Sie, an negativen wie positiven Emotionen
Ihrer Mitarbeiter anzuknüpfen und Widerstände,
Angst, Frustration, Freude, Stolz und andere Gefühle
besprechbar zu machen.
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rauszuhalten sind. Hinter diesem Bild vom kühlen Entscheider steht die Hypothese, dass Menschen generell
nach rationalen Erwägungen entscheiden. Die Gleichsetzung von Vernunft und Emotionslosigkeit widerspricht jedoch der biologischen Situation: Die Hirnforschung legt nahe, dass Gefühle sogar die wesentliche
Voraussetzung sind, um vernünftig handeln zu können.
Denn wenn Teile des limbischen Systems, in dem
Gefühle verarbeitet werden, verletzt werden, sind Be­­
troffene oft nicht mehr in der Lage, sich vernünftig zu
verhalten oder überhaupt Entscheidungen zu treffen.
Aus neurologischer Sicht ist das Rationalitätsdiktat
in der Arbeitswelt also blanker Unsinn, vor allem beim
Thema Führung. Denn der Weg vom Nachdenken zum
Handeln verläuft immer über eine limbische Schleife.
Jede Handlungsmöglichkeit passiert dabei eine Art emotionales Assessment Center, bevor sie Wirklichkeit werden kann. Wir kommen also im wörtlichen Sinne „nicht
an den Gefühlen vorbei“. Statt sie also für inexistent
oder irrelevant zu erklären, täten wir gut daran, uns mit
Gefühlen auseinanderzusetzen – unseren eigenen und
denen unserer Mitmenschen: Welche Ängste und Ge­­
lüste treiben mein Handeln an? Welche Motive bewegen
meine Mitarbeiter? Emotionale Intelligenz, also die
Fähigkeit, Gefühle wahrnehmen, einordnen und besprechen zu können, sowie Beziehungsfähigkeit müssten
nach neurobiologischen Befunden einen wesentlich
höheren Stellenwert bei der Auswahl und Ausbildung
von Führungskräften haben, als das bisher der Fall ist.
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Jedes Hirn tickt anders
Eine zweite Grundannahme, die viele Führungskräfte
hegen, betrifft ihre Fähigkeit zur Mitarbeitermotivation.
Wer glaubt, diese Kunst ein für alle Mal zu beherrschen,
irrt. Schuld ist die Neuroplastizität: Der oft als „Wir können lebenslang lernen“ trivialisierte Begriff bezeichnet
die Fähigkeit des Gehirns, seine Synapsen, also die Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen, physisch zu
verändern. Auslöser dieser organischen Wachstumsprozesse, die die biologische Seite des Lernens darstellen,
sind vor allem emotionale Erfahrungen, die als Lernerfahrungen in der neuronalen Netzwerkarchitektur
gespeichert werden. In der Praxis bedeutet das: Jedes
einzelne Gehirn ist in seiner synaptischen Feinstruktur
und seiner Funktion so einzigartig wie die Lebensgeschichte, die es geformt hat. Darin unterscheiden sich
Gehirne deutlich von anderen Organen. Das Herz kann
bei entsprechender sportlicher Betätigung größer werden, auch die Leber wächst, wie Eckart von Hirschhausen sagt, mit ihren Aufgaben. Aber an ihrer Beschaffenheit und Funktionsweise ändert sich wenig. Gehirne
hingegen unterscheiden sich in den Bewertungen und
Sinnkonstruktionen, die sie ermöglichen, und sie unterscheiden sich auch in der Art, wie sie auf Kommunikations- oder Motivationsversuche reagieren.
Damit ist klar, warum auch die implizite Überzeugung vieler Führungskräfte, dass alle anderen sich so
verhalten, wie sie selbst es tun würden, zwar nur allzu
menschlich, aber auch problematisch ist. Wie sich das
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auswirkt, war bei einem großen Versicherungsunternehmen zu beobachten. In dessen Vertriebsteams war die Motivation
extrem ungleich verteilt: Es gab hoch motivierte und völlig unmotivierte Mitarbeiter,
dazwischen fast nichts. In informellen Interviews zeigt die eine Gruppe wenig Verständnis für die „Trägheit“ der Kollegen, schließlich gebe es tolle Anreize wie Sonderboni,
Dienstwagen etc. Die andere Gruppe hingegen fühlte sich von der Führung aktiv demotiviert. Der Vertriebsleiter wechsele kaum
ein persönliches Wort mit ihnen, klagten sie,
Kontakte mit den übrigen Führungskräften
fänden nur in Meetings statt, Rückfragen
seien kaum möglich, die Unsicherheit sei
entsprechend hoch.
Die Trägheit der grauen Masse
Wie sich herausstellte, war einer der Gründe für dieses Missverhältnis, dass die Verantwortlichen ihr eigenes Motivations­
system pauschal auf alle Mitarbeiter
übertragen hatten. Ihre nie bewusst reflektierte Strategie zielte ausschließlich auf
finanzielle Vorteile und Statuszuwachs. In
der Terminologie des SCARFModells von NeuroleadershipGründer David Rock hatten sie
also eine Schlagseite in Richtung der Motive Status (S) und
Autonomie (A), zuungunsten
der Motive Certainty (C), Relatedness (R) und Fairness (F).
Bei einem Teil der Mitarbeiter
waren aber die anderen Bedürfnisse dominanter, oder anders
gesagt: In ihrem emotionalen
Gedächtnis waren andere, neuroplastisch gewachsene Motive
eingeschrieben, die auch anders
hätten angesprochen werden
müssen. Aufgrund dieser neuronalen Diversity kann es in
Fragen der Motivation nie nur
den einen richtigen Schlüssel,
nie die eine richtige Methode
geben.
Aus den eigenen Erfahrungen
allgemeine Regeln abzuleiten –
dieser Mechanismus wirkt keineswegs nur bei der Generalisierung von Leistungsmotiven. Es
Neuro-Bullshit: Die unsinnigsten
Thesen über das Gehirn
Wir nutzen nur 10 Prozent unseres Gehirns
Kein Teil des Gehirns ist völlig inaktiv. Wäre dies der Fall, so würde es nach dem zweiten
Gesetz der Neuroplastizität „use it or lose it“ abgebaut. Aus der Hochbegabten-Forschung
und aus der Demenz-Forschung wissen wir, dass viel Gehirnaktivität nicht unbedingt mit
überragenden kognitiven Leistungen korreliert. Wichtiger ist es, die richtigen neuronalen
Netzwerke anzusteuern. Je besser jemand in einer Domäne ist, desto gezielter nutzt er sein
Gehirn.
Alte Mitarbeiter bauen kognitiv ab
Es trifft zu, dass die Fähigkeit zum schnellen Pauken von Wissen bereits nach der Kindheit rapide abnimmt. Die Geschwindigkeit beim Lösen von Problemen sinkt sehr viel
langsamer. Gleichzeitig steigt aber der Erfahrungsschatz und damit die Fähigkeit, ziel­
führendes Wissen intelligent auszuwählen und zu vernetzen, bis ins hohe Alter an. Die
kognitive Leistungsfähigkeit sinkt also nicht automatisch ab. Voraussetzung ist allerdings
ein fortdauernder, nicht mit 45 oder 50 Jahren unterbrochener Lern- und Entwicklungs­
prozess.
Die linke Gehirnhälfte ist rational, die rechte emotional
Emotionen sind keineswegs links oder rechts verortet. Beim Erleben von Gefühlen ist keine
der beiden Gehirnhälften nennenswert aktiver als die andere. Vielmehr sind bei Patienten mit
Schädigungen in der linken Gehirnhälfte ebenso emotionale Beeinträchtigungen nachgewiesen worden, wie umgekehrt. Außerdem kommunizieren im gesunden Gehirn beide Hirnhälften intensiv und beeinflussen einander, eine explizite Aktivierung einer Hemisphäre oder die
„Integration beider Gehirnhälften“ ist nichts als Geschwätz.
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scheint ein generelles Prinzip des Gehirns zu
sein, sich am Bekannten zu orientieren. Insbesondere unser biografisches und emoti­
onales Gedächtnis funktionieren wie eine Art
Mustererkennungssoftware, die neue Wahrnehmungen ständig mit bekannten Erfahrungen abgleicht und nach Ähnlichkeiten
überprüft. Was in der Evolutionsgeschichte
entscheidend war fürs Überleben, kann im
schnell veränderlichen Arbeitsleben leicht zu
unangemessenen Urteilen führen.
Tatsächlich ist für den Erfolg von morgen
nichts so gefährlich wie die Erfolge von
gestern, die sich durch starke Emotionen tief
in die handlungsleitenden Strukturen des
Gehirns eingegraben und zu den unbewussten Maßstäben verfestigt haben, nach
denen wir handeln und bewerten. Auch die
Führungskräfte des im Beispiel beschriebenen Versicherungsunternehmens hatten
mit ihrer Motivationsstrategie lange Erfolg
– bis eine veränderte Belegschaftsstruktur
die alten Muster unwirksam gemacht hat.
Deshalb ist die gängige Führungspraxis,
Best-Practice-Beispiele zur Lösung für kommende Probleme heranzuziehen, nicht
immer zielführend und oft sogar ein Hemmschuh für erforderliche Anpassungsleis­
tungen. Denn was einmal richtig war, muss
es beim nächsten Mal nicht noch mal sein,
wenn sich die Bedingungen verändert haben
– auch wenn uns unser Hirn etwas anderes
„suggeriert“. Nebenbei bemerkt: Auch der
Widerstand gegen Change-Prozesse ist Ausdruck des Beharrens auf Bewährtem – ein
Umstand, den Führungskräfte im Hinterkopf behalten sollten, bevor sie bei Veränderungen zu sehr aufs Tempo drücken oder
Widerstände ahnden (statt sie als natürliche
Reaktion zu sehen).
Ähnlich ist gut
Das Denken in Strukturähnlichkeiten
zeitigt eine weitere, in der Arbeitswelt nicht
unproblematische Folge: Menschen, die uns
in Aussehen, Verhalten, Denkweise, Emotionen und Werten ähnlich sind, sind uns
unwillkürlich sympathischer als unähnliche
Zeitgenossen. Hier spielt auch die „dunkle
Seite“ der viel zitierten Spiegelneuronen
und des Vertrauens- und Bindungshormons
Oxytocin eine Rolle: Letzteres fördert die
Bindungen innerhalb einer Gruppe, verstärkt damit jedoch auch die Abgrenzung
gegenüber anderen Gruppen und trägt zur
Silobildung bei.
Dies kann, wie Peter Kruse es einmal ausgedrückt hat, zur exponenziellen Verdummung einer Organisation führen. Denn das
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Verfahren produziert lauter
Klone, die dazu tendieren, mit
der Führungskraft einer Meinung zu sein. So fehlen die internen Spannungen, Widerstände,
Bedenken und Auseinandersetzungen, die aus einem Team
mehr machen als die Summe
seiner Teile. Im Falle der Versicherung zeigte sich zum Beispiel,
dass die scheinbar unmotivierten Mitarbeiter besonders
gut darin waren, langjährige
Beziehungen zu Kunden zu pflegen – etwas, wovon sich die
angeblichen High Performer
noch etwas abschauen konnten.
Damit so ein Teamentwicklungsprozess in Gang kommen
kann, bei dem alle voneinander
lernen, müssen die Stärken der
Teilgruppen über die Wahrnehmungsschwelle gehoben und
anerkannt werden. Dann kann
das Prinzip der spiegelneuronalen Ansteckung positiv
genutzt werden, um durch
gegenseitige Nachahmung bessere Leistungen zu erzielen, statt
dass durch die Ausgrenzung
angeblicher „Low Performer“
die gegenseitige Ansteckung eine
destruktive Richtung nimmt.
Gestresste Gehirne
Die Ausgrenzung von Personen
und Gruppen zuzulassen oder
gar zu fördern, sollten Führungskräfte aus neurobiologischer Sicht ohnehin nicht
riskieren, auch wenn einer alten
Führungsweisheit zufolge Konkurrenz das Geschäft belebt. Es
gehört zu den gesicherten
Befunden der Hirnforschung,
dass der psychische Schmerz
von Abwertung und Ausgrenzung durch Gehirnareale verarbeitet wird, die auch bei körperlichem Schmerz aktiv sind.
Nicht mehr gefragt zu werden,
nicht mehr auf dem Verteiler zu
stehen, zu Meetings nicht eingeladen oder explizit abschätzig
behandelt zu werden, schaltet
in unserem Gehirn ähnliche
Systeme ein wie ein Faustschlag.
Diese Reaktion ist evolutionsbiologisch begründbar, da der
„Reflexion ist wichtiger als Tools“
Seit Jahren gibt es Neuroleadership-Programme für Führungskräfte. Sonja Thiemann, Leiterin
des Competence Center Management, Führung & Strategie an der Frankfurt School of Finance
& Management, erklärt, welche Vorteile der Bezug auf die Hirnforschung gerade für diese Zielgruppe hat.
Worin besteht der Nutzen von Neuroleadership für Führungskräfte?
Sonja Thiemann: Die Hirnforschung liefert praktische Hinweise, welches Führungsverhalten gehirngerecht ist und welches weniger. Zum Beispiel können wir Managern jetzt besser erklären, warum rein rationalbetriebswirtschaftlich durchgeführtes Change Management oft nicht funktioniert und warum Veränderungen erfolgreicher sind, wenn die Mitarbeiter dabei auch auf der emotionalen Ebene begleitet werden.
Ein hilfreicher Aspekt von Neuroleadership ist die Stressbiologie. Wer anhand von Studien gesehen hat, wie
leistungsmindernd Stress im Gehirn wirken kann, kann leichter strategische Weichen für eine Führungskultur stellen, die eher auf tragfähigen Beziehungen aufbaut als auf Angst, Leistungsdruck und operativer
Hektik.
Aber das predigen Berater, Führungskräftetrainer und Coachs doch auch ohne Neuroleadership schon
lange ...
Ja, aber sie bezogen ihre Einsichten bisher vorwiegend aus humanwissenschaftlichen Quellen, weniger aus
harten Messergebnissen. Das hatte für viele Führungskräfte immer noch einen gewissen „Psycho-Touch“.
Die Hirnforschung mit ihren Hard Facts ist da ein Stück weit anschlussfähiger an eine Welt, die von Zahlen,
Daten und Fakten geprägt ist. Deshalb steigert die Hirnforschung auch die Akzeptanz von Inhalten, mit
denen Personalentwickler oft jahrelang gegen Mauern gelaufen sind, weil sie die Belege vorlegt, die Manager fordern.
Welche Botschaft aus der Neurobiologie ist für Sie die wichtigste?
Dass eine fortlaufende Reflexion des eigenen Führungsverhaltens und der eigenen Haltung wichtiger ist,
als ein Führungswerkzeug nach dem anderen zu erlernen. Die Hirnforschung zeigt zum Beispiel, dass eine
negative innere Haltung im Gehirn eines Gesprächspartners Abwehrsysteme aktiviert, egal wie viel verbindliche Rhetorik sich jemand antrainiert hat. An dieser Haltung müssen Führungskräfte arbeiten, weil sie ganz
wesentlich über den Führungserfolg entscheidet.
Keine leichte Kost für Führungskräfte, die vor allem nach Kennzahlen vorgehen.
Wir alle verbessern uns viel lieber in den Bereichen, in denen wir ohnehin schon gut sind. Führungskräftetrainings, die über die Tool-Ebene hinaus in die zwischenmenschliche Ebene gehen, stellen für einige
Teilnehmer eine Herausforderung dar, gerade für junge Führungskräfte, die noch nicht begriffen haben,
dass ein wesentlicher Teil ihrer Führungsaufgabe im Beziehungsmanagement besteht und nicht in der
Fortsetzung ihrer fachlichen Tätigkeit auf höherem Niveau.
Sonja Thiemann ist Leiterin des Competence
Center Management, Führung & Strategie an
der Frankfurt School of Finance & Management.
Kontakt: [email protected]
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Verlust an Zugehörigkeit lange Zeit lebensbedrohlich war, der Schmerz ein entsprechend starkes Warnsignal.
Passiert dergleichen im heutigen Arbeitsleben, führt das zu Stress, der erhebliche
Auswirkungen auf den Krankenstand in
Unternehmen haben kann. Es gibt wenige
Dinge, die der Leistungsfähigkeit und der
seelischen und körperlichen Gesundheit so
abträglich sein können wie dauerhaft überschwelliger Stress, vor allem, wenn es sich um
sozialen Stress handelt. Je nach individueller
Resilienz kann er den vorübergehenden Ausfall von exekutiven Funktionen im Frontalhirn verursachen, wo zum Beispiel Zielplanung und die Entwicklung intelligenter
Strategien anatomisch verortet sind und das
auf Übererregung besonders empfindlich
reagiert. Im gestressten Gehirn kommt es oft
zu einer kompensatorischen Verlagerung der
neuronalen Aktivitäten auf primitivere, aber
stabiler funktionierende Gehirnbereiche. Die
Folgen reichen von Verlust der Verhaltensflexibilität über die Regression in frühkindlich erworbene limbische Stressbewältigungsmuster wie Trotzverhalten oder
Überangepasstheit bis hin zu basalen Überlebensreaktionen wie Angriff, Flucht und
Franz Hütter hat sich auf den Praxistransfer aus
der Hirnforschung für Führungskräfte, Trainer, Berater
und Coachs spezialisiert. Er bietet Vorträge, InhouseSeminare und Beratung zu neurowissenschaftlichen
Themen. Außerdem lehrt er Applied Cognitive Neuroscience an der Hochschule für Angewandtes Management in Erding. Kontakt: www.brain-hr.com
Erstarrung. Eskalierende Konflikte, gelbe Scheine und innere
Kündigung können die Folge
sein. Im schlimmsten Fall kann
Dauerstress zu einem Abbau von
Konnektivität in leistungsrelevanten Gehirnarealen führen.
Beziehungen als Basis
gehirngerechter Führung
Aus demselben Grund sollten
Führungskräfte auf ein Übermaß an Druck und Kontrolle
Service
Literaturtipps
ARüdiger Reinhardt (Hrsg.): Neuroleadership. Empirische Überprüfung und Nutzenpotenziale für die Praxis. De Gruyter, Berlin 2014, 39.95.
Die weltweit erste empirische Überprüfung verschiedener Neuroleadership-Ansätze und derzeit vielleicht das wichtigste verfügbare Buch über Neuroleadership. Nützlich für alle, die
Neuroleadership strategisch zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit und Gesundheit in
ihrem Unternehmen einsetzen wollen.
AChristian Erich Elger: Neuroleadership. Erkenntnisse der Hirnforschung für die
Führung von Mitarbeitern. Haufe-Gruppe, Freiburg, München 2013, 34,95 Euro.
Das erste deutsche Neuroleadership-Buch ist sehr leicht lesbar und zugleich fachlich fundiert. Das Buch bietet neben neurowissenschaftlichen Praxisimpulsen für Führungskräfte
einen guten Einstieg in neuroökonomische Denkwelten.
ATheo Peters, Argang Ghadiri: Neuroleadership – Grundlagen, Konzepte, Beispiele. Erkenntnisse der Neurowissenschaften für die Mitarbeiterführung. Springer
Gabler, Wiesbaden 2013, 39,99 Euro.
Peters und Ghadiri übersetzen unter anderem ein aus der Neuropsychotherapie von Klaus
Grawe entlehntes Modell in einen Prozess für gehirngerechtere Führung. Dabei geht es um
die Befriedigung neurobiologisch fundierter Grundbedürfnisse und Austarierung motivationaler Regungen.
AHenning Beck: Hirnrissig. Die 20,5 größten Neuromythen – und wie unser Gehirn
wirklich tickt. Hanser, München 2014, 16,90 Euro.
Ein junger Neurowissenschaftler macht sich zum Anwalt des Gehirns und zerpflückt auf
vergnügliche Weise die hirnrissigsten Neuromythen.
verzichten – immer noch verbreitete Führungsinstrumente, deren Gebrauch aus
Sicht der Stressbiologie jedoch mehr als
fraglich ist. Stattdessen gibt es gute Gründe,
einen sozialen, gemeinschaftlichen Führungsstil zu pflegen und den Aufbau tragfähiger sozialer Beziehungen mit und
innerhalb der Belegschaft zu fördern. Das
kann zum Beispiel durch Mentoring, den
Aufbau einer schnittstellenübergreifenden
Kommunikation und Zeit für selbst organisierte kollegiale Projekte erfolgen. Seitens
der Führungskraft erfordert das viel Mut
zum Loslassen, zur Aufgabe von Kontrolle.
Aber nur so kann, wenn man die Gesetze
der Neuroplastizität ernst nimmt, Selbstständigkeit entstehen: wenn man Menschen
selbst Fehler machen und Lösungen erarbeiten lässt.
Das ist nicht nur Heile-Welt-Wunschdenken. Der Neurobiologe und Psychosomatiker Joachim Bauer bringt auf den
Punkt, wie motivationsfördernd und angstlösend sozialer Kontakt wirkt: „Die stärkste
Motivationsdroge für den Menschen ist der
andere Mensch.“ Eine Begründung dafür
liegt in der Rolle des Oxytocins: Es setzt
einerseits durch eine enge funktionelle Verzahnung mit dem Dopamin-System Motivation frei und wirkt andererseits als
potenter körpereigener Angstlöser und
Stressdämpfer. Wie psychologische und
neuroökonomische Studien zeigen, wird
Oxytocin durch positiven zwischenmenschlichen Kontakt, tragfähige Beziehungen und
vor allem durch Vertrauensvorschuss ausgeschüttet. Führungserfolg ist so gesehen
immer der Erfolg der Interaktion und damit
der Beziehung zwischen Führungskraft und
Mitarbeiter. Sich um diese Interaktion zu
kümmern und ihr Raum zu geben, ist der
beste „Tipp“, den die Neurobiologie in
Sachen Führung geben kann.
Franz Korbinian Hütter C
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