24 | management Macht in Bewegung FÜHREN OHNE HIERARCHIE Wer wem was zu sagen hat, darüber entscheidet seit jeher die jeweilige Position im Unternehmen. Zunehmend zeichnet sich jedoch ab: Dieses Modell der strukturellen Macht stößt an seine Grenzen. Macht in Organisationen muss neu legitimiert und anders ausgeübt werden, um die Herausforderungen der gestiegenen Komplexität zu meistern. managerSeminare | Heft 207 | Juni 2015 management | 25 Foto: Fotolia/Mopic Preview: A Der macht das schon: Warum klassische Machstrukturen Mitdenken verhindern A Mächtiges Missverständnis: Warum sich die Macht in Organisationen nicht reduzieren lässt A Wissen macht mächtig: Information und Erfahrung als Machtbasis A Führung und Identitätsstiftung: Die beiden mächtigsten Machtbasen A Macht als intelligentes Wechselspiel: Das Modell der fluiden Organisation A Macht sozial gedacht: Was Führungskräfte fürs Führen ohne Hierarchie mitbringen müssen C Bei Sven Fissenewert vom Beratungsunternehmen Process One steht eine Nachtschicht an. Lucas Lossen stand gerade bei ihm auf der Matte. „Sven, ich brauche von Dir dringend die Marktskizze für die Business-Simulation. Spätestens morgen.“ Eine klare Ansage, wie man sie in Unternehmen täglich hört – dennoch bemerkenswert. Denn Fissenewert ist Geschäftsführer und Gesellschafter und Lossen, der ihm gerade die knappe Deadline gesetzt hat, angestellter Berater. Der Hintergrund, warum Letzterer Ersterem trotzdem etwas zu sagen hat: Das Beratungsunternehmen ist nach einem Modell organisiert, in dem Macht in einer Art Wechselspiel betrieben wird. In dem Macht, so der verwendete Fachbegriff, fluide oder flüssig ist. Das ist außergewöhnlich, immer noch. Im Normalfall ist die Macht in Unternehmen – also die Chance, Entscheidungen gegen Widerstände durchzusetzen – klar festgemacht. Wer wem wann was zu sagen hat, hängt von der jeweiligen Position im Unternehmen ab. Die Organisationsforschung spricht vom Modell der strukturellen oder legitimen Macht. Das gibt es so lange, solange es Organisationen gibt. Doch zunehmend setzt sich die Erkenntnis durch, dass das Machtmodell, das sich zig Jahre bewährt hat, an Grenzen stößt. Dass Macht neu gedacht werden muss. A Service Literaturtipps A Andrea Bittelmeyer: Führung ohne Führungskräfte – Tschüss, Chef! www.managerSeminare.de/MS196AR01 Führen ohne Hierarchie – in einigen progressiven Unternehmen ist das bereits Realität. Einblicke in Organisationssysteme, die ohne formale Macht funktionieren, wenn auch nicht immer reibungslos. A Andrea Bittelmeyer: Organisationsmodell Soziokratie – Argument schlägt Hierarchie. www.managerSeminare.de/ MS204AR08 Das Organisationsmodell der Soziokratie ist eigentlich ein alter Hut. Aktuell wird es aber von einer Generation junger, innovativer Firmen entdeckt, die sich dem posthierarchischen Management verschrieben haben. Das Versprechen: Führen – fast – ohne formale Hierarchie. Die Macht liegt beim Argument. A Christine Bauer-Jelinek: Die geheimen Spielregeln der Macht. Ecowin, Salzburg 2007, 22,90 Euro. Ein Klassiker der modernen Machtliteratur. In einem Kapitel geht es allein um die Spielregeln der Macht in Hierarchien. Den Beitrag gibt es auch zum Hören. Er kann unter www.managerSeminare.de/podcast als Audiodatei heruntergeladen werden. managerSeminare | Heft 207 | Juni 2015 26 | management Die Natur der Macht A Die meisten Experten legen heute eine Machtdefinition zugrunde, die an der klassischen von Max Weber angelehnt ist. Sie lautet: Macht ist die Chance, Interessen und Entscheidungen – auch gegen Widerstände – durchzusetzen. A In sozialen Systemen ist die Macht, genauso wie Energie in einem physischen, eine feste Größe. Sie kann sich umverteilen, umformen, umwandeln – wird aber niemals mehr oder weniger, sondern bleibt immer gleich groß. Die thermodynamische Metapher leuchtet ein, wenn man sich der Einfachheit halber das kleinste soziale System vorstellt, das aus zwei Personen besteht, die gegensätzliche Interessen in ihrer Beziehung durchsetzen wollen. Steigt die Chance des einen, sein Interesse durchzusetzen, sinkt die des anderen um den gleichen Faktor. A Machtgefälle zwischen den Mitgliedern sind sozialen Systemen emergent. Einfacher ausgedrückt, sie sind der Normalzustand. Soziale Systeme mit vollkommen gleichmäßig auf die Mitglieder verteilter Macht kommen so gut wie nicht vor. Das liegt vor allem daran, dass Menschen unterschiedlich durchsetzungsstark sind. Jene, die auch nur etwas besser argumentieren können, etwas weniger konfliktscheu sind, etwas schlagfertiger oder einfach nur sturer als die anderen, werden sich bei einer Entscheidung wahrscheinlich durchsetzen. Und mit jedem Mal, bei dem sie sich durchsetzen, orientieren sich die anderen bei der nächsten Entscheidung stärker an ihnen, womit sie sukzessive an Macht gewinnen. Foto: Florian Bauer Sichtbar wird diese Einsicht an der Flut neuer Managementtools und -konzepte, mit denen Unternehmen gerade experimentieren: Scrum, Canvas, Design Thinking, Holacracy, konsultatives Entscheiden, integrative Entscheidungsfindung … alle diese Tools dienen letztlich einem Zweck: die Macht im Unternehmen neu zu konfigurieren. So komplex die Tools sind, so es hochgradig vernetzte intelligente Interaktion. Solche kann sich in klassischen Machtstrukturen allerdings nicht oder nur sehr bedingt entwickeln.“ Macht verhindert Mitdenken Der Hauptgrund laut Schleiken: „Strukturelle Macht verführt dazu, sich gedanklich zurückzulehnen – und zwar diejenigen, die sie nicht haben.“ Nach dem Motto: Der, der die Macht hat, der macht das schon. Zudem wirke ein, wie die Sozialpsychologie es ausdrückt, evolutionär gelerntes Bedürfnis der intelligenten Interaktion entgegen: der Wunsch, der Macht zu gefallen. Schleiken; „Ob sich der Machthaber nun Häuptling, Clanführer oder Vorgesetzter nennt – sich seine Sympathie zu sichern, war immer schon essenziell.“ Deshalb neigt jeder – je nach Typ mehr oder weniger – dazu, den Machthabern nach dem Mund, ihren Wünschen und Vorstellungen zu reden. Zugespitzt lässt sich formulieren: Je mehr strukturelle Macht in einem System steckt, desto weniger wird im Sinne der Sache (mit-)gedacht. Der wahrscheinlich erste Impuls, den diese Erkenntnis auslöst: Dann machen wir’s doch ohne Macht – oder zumindest mit weniger. Vor allem in den USA – aber auch hierzulande – sind erste Unterneh- „Die Macht in einem sozialen System kann sich umwandeln und umverteilen, wird aber niemals mehr oder weniger.“ Die Machtexpertin Christine Bauer-Jelinek arbeitet als Wirtschaftscoach in Wien. Kontakt: [email protected] einfach ist die Überlegung, die ihrer Anwendung zugrunde liegt. Der Organisationsberater und Trainer Thomas Schleiken, der Unternehmen bei deren Anwendung unterstützt, bringt sie so auf den Punkt: „Um der gestiegenen Komplexität Herr zu werden, braucht managerSeminare | Heft 207 | Juni 2015 men diesem Impuls bereits vor knapp zehn Jahren gefolgt. Sie haben systematisch strukturelle Macht zurückgebaut, Hierarchien herausgenommen und geführte Teams in selbstorganisierte umgewandelt. Was in Arbeitsgruppen passiert, wenn ihr strukturelles Machtgefüge aufgelöst wird, hat der USSozialpsychologe Mauk Mulder in aufwendiger Feldforschung und in Experimenten analysiert. Seine zentrale Beobachtung: Sobald es zu den ersten Entscheidungssituationen kommt, bildet sich sofort ein neues Machtsystem heraus. Das läuft ungefähr folgendermaßen ab: Jene, die besser argumentieren, schlagfertiger reagieren, weniger konfliktscheu oder einfach nur sturer sind als die anderen, werden sich wahrscheinlich durchsetzen. Und mit jedem Mal, bei dem sie sich durchsetzen, orientieren sich die anderen bei der nächsten Entscheidung stärker an ihnen, womit sie sukzessive an Macht gewinnen. Im freien Spiel der Kräfte setzt sich der Stärkere durch „Im freien Spiel der Kräfte bildet sich zumeist das ursprünglichste aller Machtgefüge heraus“, bringt Christine Bauer-Jelinek, Wirtschaftscoach in Wien, die Quintessenz von Mulders Forschung auf den Punkt. „Und zwar eines, das auf dem Recht des Stärkeren beruht.“ Dass solche Art Macht für intelligente Interaktion noch hinderlicher ist als strukturelle Macht ist leicht einsichtig. Eine Chance, dass sich gar kein neues Machtgefüge herausbildet, besteht laut Bauer-Jelinek, die zu den bekanntesten Machtexperten in Europa gehört, nicht: „Die Macht in einem sozialen System verhält sich wie Energie in einem physischen – sie kann sich umverteilen, umformen, umwandeln – wird aber niemals mehr oder weniger, sondern bleibt immer gleich groß“ (siehe dazu auch Kasten links, Die Natur der Macht). Wer dieser Logik folgt, versteht sofort: Wenn sich Macht nicht aus der Organisation herausnehmen, sondern nur umformen lässt, muss man sie in eine Form bringen, die intelligente Interaktion fördert, statt sie zu behindern, die zum Mitdenken animiert statt zum Nachdem-Mund-Reden. Dazu muss man zweigleisig fahren. Wer auf management | 27 der einen Seite die strukturelle Macht zurückbaut, muss auf der anderen alternative Machtbasen stärken. Aus Führungsperspektive formuliert: Die Führung muss anders als bisher legitimiert werden. menbereich am besten auskennt, übernimmt die Projektleitung, wobei diese Position eben nicht mit struktureller Macht verknüpft ist, heißt, der Projektleiter ist den Mitgliedern gegenüber nicht weisungsbefugt: „Leite ohne strukturelle Macht lautet: das Wissen des Experten anerkennen. Etwa in der Art: „Herr Schmitz ist unser Experte für IT- Wer viel weiß, hat viel zu sagen Die Führungs- und Organisationsforschung unterscheidet drei alternative Machtbasen zur strukturellen Macht, die sie unterschiedlich stark bewertet. Eine davon ist die Informationsmacht. Deren Wirkung lässt sich auf eine einfache Formel bringen, die im doppelten Sinne gilt: Wer viel weiß, hat viel zu sagen. Vor allem in Matrixorganisationen wird seit einiger Zeit strukturelle Macht systematisch in Informationsmacht umgewandelt. In der Praxis sieht das dann ungefähr so aus: Die Arbeit ist in Projekten organisiert. Wer sich im entsprechenden The- „Intelligente Interaktion kann sich in klassischen Machtstrukturen nicht oder nur sehr bedingt entwickeln.“ Thomas Schleiken, Organisationsberater und Trainer, Ganderkesee. Kontakt: [email protected] das Team, aber leite es nicht“, benennt Trainer Schleiken die dazugehörige anspruchsvolle Rollenanforderung. Anspruchsvoll auch deshalb, weil Informationsmacht hochspezifisch ist, also immer beschränkt auf einen bestimmten Erfahrungs- oder Wissensbereich. In divers aufgestellten Teams gibt es immer jemanden, der in einem bestimmten Teilaspekt mehr weiß als der Projektleiter, womit dessen Machtbasis bereits zu wackeln beginnt. Die dazugehörige Grundregel für die Führung Prozesse, er weiß wahrscheinlich mehr als jeder andere im Unternehmen über dieses Thema und wird uns sehr weiterhelfen.“ Der doppelte Effekt: „Zum einen wird damit dem Fachmann die gegebenenfalls vorhandene Motivation genommen, seinen Informationsvorsprung zur Schau zu SIE SUCHEN EINEN VERANSTALTUNGSORT NACH IHREN WÜNSCHEN, IN EINER STADT, DIE KEINE WÜNSCHE OFFEN LÄSST? MOC Veranstaltungscenter München > Messen Kommen Sie mit Ihrer Veranstaltung in die Weltstadt mit Herz: Das MOC Veranstaltungscenter München besticht durch seine einzigartigen Kombinationsmöglichkeiten der Hallen, Atrien, Showrooms und Konferenzräume genauso wie mit seiner preisgekrönten Architektur. Darüber hinaus bieten wir Ihnen zwei weitere attraktive Veranstaltungsorte: > Tagungen > Seminare Messe München und das ICM – Internationales Congress Center München. Erfahren Sie mehr über Messe München Locations. Wir sind für Sie da: +49 89 949-23410 | [email protected] www.messe-muenchen.de/locations Connecting Global Competence www.moc-muenchen.de 28 | management stellen“, erklärt Machtanalytikerin Bauer-Jelinek. Zum anderen: „Jedes Mal, wenn der Fachmann mit seinem Wissen weiterhilft, bestätigt er die Einschätzung des Projektleiters – wodurch er dessen Expertenrolle stärkt.“ Führung erzeugt Gefolgschaft Das Expertenwissen, also das methodische Know-how, das jemand für eine Aufgabe oder zur Ausfüllung einer Rolle mitbringt, ist die zweite alternative vorzurufen – und zwar nicht nur zu sich selbst, sondern auch und vor allem für eine gemeinsame Sache. Organisationsberater Schleiken: „Diese Machtbasis stärkt, wer immer wieder auf die größeren Zusammenhänge verweist, das große Ganze in den Blick rückt.“ Was sind die für uns relevanten Trends? Welche interessanten Impulse aus anderen Unternehmen gibt es? Wie tragen wir mit unserer Arbeit zur Innovationskraft des Unternehmens bei? Warum ist es für die Gesellschaft wichtig, was wir tun? In diesem Punkt sind sich die Führungs-, Organisations- und Machtexperten einig: Je stärker die Führung in einer Organisation auf diesen drei alternativen Machtbasen fußt, desto eher kann strukturelle Macht im Unternehmen zurückgebaut werden, desto flacher kann „Fürs Führen in lachen Hierarchien braucht man ein ausgeprägtes sozialisiertes Machtmotiv.“ Jörg Rumpf, Experte für Leadership beim Beratungsunternehmen Hay Group, Frankfurt/M. Kontakt: [email protected] Machtbasis. Im Falle des Projektleiters bedeutet das: Je mehr Expertise er als Projektleiter besitzt und je besser er das Team führt, desto größer ist die Bereitschaft der Projektmitglieder, ihm zu folgen – auch wenn er keine strukturelle Macht besitzt. Zur guten Führung gehört es etwa, die Interaktion zu moderieren, konfligierende Meinungen zu integrieren und immer wieder den Prozess zu reflektieren: Wo stehen wir gerade? Wie sind wir hierhin gekommen? Kommen wir in der Diskussion voran, oder drehen wir uns im Kreis? Manche Experten sprechen von der faktischen Macht der Führung: Menschen folgen den Menschen, die sie führen. Führung als selbsterfüllende Prophezeiung. Eng verwandt mit der Expertenmacht ist die Identifikationsmacht, die am besten im Wechselspiel mit dieser ihre Wirkung entfaltet. Diese Machtbasis speist sich aus der Fähigkeit einer Person, bei Bezugspersonen ein Gefühl der Verbundenheit her- managerSeminare | Heft 207 | Juni 2015 sich das Unternehmen aufstellen, ohne dass sich ein rudimentäres, auf dem Recht des Stärkeren basierendes Machtgefüge bildet. „Theoretisch ist es denkbar, dass Unternehmen mit besonderen kulturellen Umfeldern sogar weitgehend auf strukturelle Macht verzichten“, erklärt der Organisationsforscher Thomas Ginter von der Hochschule Nürtigen-Geislingen. Was es neben besonders starken alternativen Machtbasen dafür laut dem Wissenschaftler noch braucht: Klar formulierte Kernwerte, auf die sich die Organisationsmitglieder gemeinschaftlich verständigt haben. „Sie würden im hierarchiefreien Unternehmen den Orientierungsrahmen bieten, in dem sich ein intelligentes Wechselspiel von Informations-, Experten- und Identifikationsmacht entwickeln kann.“ Das ist allerdings noch Zukunftsmusik, so weit, oder wie Ginter es ausdrückt, so reif sind die Organisationen noch nicht. Der State of the Art dieser Entwicklungslinie wird durch besagte Managementmodelle und -tools wie Scrum, Canvas und Design Thinking abgebildet, die zwar nicht ganz ohne strukturelle Macht auskommen, aber mit deutlich weniger. Wenn man so will, sind sie eine Art Zwischenlösung auf dem Weg zur hierarchiefreien Organisation. Eines der Modelle, das mit vergleichsweise besonders wenig struktureller Macht auskommt, ist das der fluiden Organisation. Die Macht an Themenbereiche koppeln Die Berater von Process One haben ihr Unternehmen vor etwa drei Jahren nach dem dazugehörigen Bauplan umstrukturiert. „Die Macht ist bei uns nicht an Hierarchien oder Personen gebunden, sondern an Themenbereiche“, erläutert Geschäftsführer Fissenewert die Kernidee des Modells. „Sie begründet sich auf die Einsicht in die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit einer Entscheidung für die Organisation.“ Konkret sieht das so aus: Die Unternehmensbereiche sind als Kreise organisiert. So gibt es beim Beratungsunternehmen etwa einen Kreis Marketing, einen Kreis Personal, einen Kreis Finanzen und Controlling und einen Kreis Produktentwicklung. Die Beschäftigten gehören mehreren Kreisen an, allerdings auf unterschiedlichen Verantwortungsgraden, sogenannten VGs. So ist Fissenewert etwa als sogenannter VG1 im Kreis Strategie hauptverantwortlich für die strategische Ausrichtung des Unternehmens. Im Kreis Produktentwicklung bewegt er sich auf der Ebene VG3, VG2 ist dort Lucas Lossen. Bedeutet: Wenn es ums Thema neue Produkte geht, hat Lossen Fissenewert was zu sagen – und ordnet eben auch schon mal eine Nachtschicht an. Niels Van Quaquebeke, der an der Kühne Logistics University in Hamburg im Bereich Organizational Behavior und Führung lehrt, hat seinen Forscher-Fokus seit einiger Zeit auf Unternehmen gerichtet, die sich an Modellen versuchen, in denen Macht an Themen statt an hierarchische Strukturen oder Personen gebunden ist. Ein zentraler Mechanismus, der das Modell der fluiden Organisation ihm zufolge am Laufen hält, ist gegenseitiger Respekt in Kombination mit erwarteter Reziprozität. Motto: Ich folge Dir in Deinem Expertisebereich, weil ich erwarte, dass Du mir in meinem folgst. Als zentrale Voraussetzung, damit das Wechselspiel funktioniert, hat er einen hohen persönlichen Reifegrad der Organisationsmitglieder ausgemacht: „Dieser kennzeich- 30 | management Führen in flachen Hierarchien: 5 Lernfelder 1. Fachwissen Fachwissen ist eine informelle Quelle der Macht, die Organisationsforschung spricht von Informationsmacht. Wer andere führt, ohne sich auf formale Macht berufen zu können oder wollen, sollte sich bei inhaltlichen Themen auskennen – zumindest so gut, dass er mit den ausgewiesenen Fachleuchten diskutieren und die richtigen Fragen stellen kann und so auf Augenhöhe kommt. Diese muss mindestens erreicht werden, um andere führen zu können. 2. Moderatorenkompetenz Die Regel ist so einfach wie essenziell: In flachen Hierarchien wird der als Führender akzeptiert, der führt. Im Gruppenprozess gehört dazu vor allem, die Diskussion zu moderieren. Ganz wesentlich ist es dabei, immer wieder einen Schritt zurückzutreten und aus der Metaperspektive auf die Situation zu blicken. Wo stehen wir gerade? Wie sind wir hierhin gekommen? Kommen wir in der Diskussion voran, oder drehen wir uns im Kreis? 3. Konfliktmoderation Wenn im eigenen Team oder in der Abeiltung ein Konflikt eskaliert, kann die mit struktureller Macht ausgestattete Führungskraft ein Machtwort sprechen und die Parteien zur Räson rufen. Ohne strukturelle Macht ist dies nicht nur sehr bedingt bis gar nicht möglich. Daher brauchen Führungskräfte in flachen Hierarchien Kompetenzen der Konfliktmoderation und gegebenenfalls sogar der Mediation, um Konflikte sanft zu deeskalieren. 4. Das große Ganze zeichnen Menschen folgen Menschen, die groß denken. Wer als Führungskraft das Ganze im Blick hält, kann die stärkste Quelle alternativer Machtquellen anzapfen, die Identifikationsmacht. Zu beobachten und berichten gilt es etwa: Was sind die für uns relevanten Trends? Welche interessanten Impulse aus anderen Unternehmen gibt es? Wie tragen wir mit unserer Arbeit zur Innovationskraft des Unternehmens bei? Warum ist es für die Gesellschaft wichtig, was wir tun? 5. Persönliche Reife Führen in flachen Hierarchien ist anspruchsvoll, weshalb Führungskräfte dafür eine gewisse persönliche Reife besitzen sollten. Vor allem in Systemen, in denen die Macht an Organisationsthemen gebunden ist, ist diese wichtig. Denn persönliche Reife macht es leichter, Sache und Person zu trennen. Die Entscheidung ist gut, weil sie der Sache dient, und nicht weil der Vorschlag von der oder der Person kommt. Persönliche Reife entwickelt sich durch Erfahrung, lässt sich zudem im Coaching entwickeln. „Es ist schön, nicht immer nur zu sagen, wo es langgeht, sondern sich einfach mal was sagen zu lassen.“ Sven Fissenewert, geschäftsführender Gesellschafter des Beratungsunternehmens Process One mit Hauptsitz in Fulda. Kontakt: fissenewert@ process-one.de net sich vor allem durch die Fähigkeit, zwischen Sache und Person zu trennen“, erklärt Van Quaquebeke. Aussagen und Argumente werden allein nach Stichhaltigkeit und Logik managerSeminare | Heft 207 | Juni 2015 bewertet und nicht danach, von wem sie kommen. Neben persönlicher Reife sind es laut Experten vor allem zwei Eigenschaften, die Führungskräfte für solche Wechselspiele der Macht im Speziellen wie fürs Führen ohne oder mit wenig struktureller Macht im Allgemeinen benötigen. Der erste ist eine geringe Isolierungstendenz. „Über diese Präferenz lässt sich vorhersagen, wie sich jemand in kritischen Situationen verhält“, erklärt Jörg Rumpf, Experte für Leadership beim Beratungsunternehmens Hay Group. Grob umrissen: Wer eine geringe Isolierungstendenz besitzt, sucht den Austausch mit anderen. Menschen mit hoher Isolierungstendenz machen bei Problemen die Tür zu. Macht nicht als Selbstzweck betrachten Die zweite Eigenschaft hält der Berater für noch wichtiger: „Ein ausgeprägtes sozialisiertes Machtmotiv.“ So bezeichnet der USMotivationspsychologe David McClelland den Antrieb, im Sinne einer gemeinsamen Sache oder anderer Personen entscheiden und handeln zu können. Macht wird nicht als Selbstzweck betrachtet, sondern als Mittel, um etwas für andere oder im Sinne des großen Ganzen zu ermöglichen. Das Gegenstück zum sozialisierten Machtmotiv bezeichnet McClelland als personalisiertes Machtmotiv. „Wer so motiviert ist, der strebt vor allem nach struktureller Macht, weil er in ihr zum einen die größte Garantie zur Machtausübung sieht, die für ihn ein Bedürfnis darstellt, und er sie zum anderen als Statussymbol schätzt.“ Wer so motiviert ist, der, spitzt Rumpf zu, ist fürs Führen ohne strukturelle Macht oder für Organisationsmodelle, in denen Macht wechselseitig ausgeübt wird, nicht gemacht. Für Führungskräfte, die dafür gemacht sind, kann dagegen ein Machtsystem, das auf Mitmachen – man könnte auch sagen Mitmachtausüben – basiert, Erleichterung bedeuten: „Die Verantwortung, die an Macht klebt, ist nicht immer angenehm“, sagt Führungsforscher Van Quaquebeke. Praktiker Fissenewert formuliert es so: „Es ist schön, nicht immer nur zu sagen, wo es langgeht, sondern sich einfach mal was sagen zu lassen.“ Und auch für jene, die nicht führen, bedeuten die neuen Formen der Macht Verbesserung. Denn sie beruhen vor allem auf freiwilliger Gefolgschaft – und nicht auf Druck oder Zwang. Das entspricht dem wohl stärksten Machtmotiv überhaupt, eines das zu den menschlichen Kernbedürfnissen gehört: Das Streben nach Autonomie, oder einfacher ausgedrückt, der Wunsch, sein eigener Herr zu sein. Andree Martens C
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