Copyright © 1998 by Simon Clark UK © 1998

Copyright © 1998 by Simon Clark
UK © 1998 Hodder & Stoughton, ISBN 0-340-69608-7 hardback,
ISBN 0-340-69609-5 paperback
USA © 2008 Cemetery Dance Publications
ISBN 978-1-58767-076-3 (Vorlage für die Übersetzung)
Deutsche Fassung © 2010 Wurdack Verlag, Nittendorf
ISBN 978-3-938065-55-6
www.wurdackverlag.de
Coverart: Jacek Kaczyński, Warschau
Übersetzung: AZMO & Ernst Wurdack
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Simon Clark
Vampyrrhic
Deutsche Erstausgabe
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Für Alex und Helen Clark, meine Kinder,
als Dank für ihre Inspiration und Geduld.
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ES BEGINNT IN DER DUNKELHEIT
1. EIN HOTELZIMMER. MITTERNACHT.
Sie war dreiundzwanzig Jahre alt, blond, dunkeläugig.
Sie konnte nicht einschlafen, obwohl sie schon über eine Stunde
im Bett lag.
Der Grund für diese Schlaflosigkeit?
Sie fürchtete sich – so sehr, dass sich ihr Herz anfühlte wie ein
großer blauer Eisball. Die Angst ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren und die Überzeugung, dass irgendjemand auf dem Korridor
vor ihrer Tür herumschlich, hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt. Er
ging auf und ab, auf und ab. Sie hörte nichts, um ehrlich zu sein,
aber sie fühlte es. Wenn sie ihre Augen schloss, konnte sie es fühlen,
als wenn es ihre eigenen Füße wären, die sich da leise in den verblichenen roten Teppich hinter der Tür ihres Hotelzimmers gruben. In
ihrer Vorstellung war sie stets barfuß.
Sie zog die Bettdecke bis zur Nasenspitze hoch und schloss ihre
Augen.
Aber die Füße schlichen weiterhin vor ihrer Tür herum. Nackte
Zehen versanken in dem, was vom weichen Flor des dreißig Jahre
alten Hotelteppichs übrig geblieben war.
Ich könnte die Tür öffnen und nachsehen, wer es ist.
Sie hatte immer wieder denselben Gedanken.
Aber um die Tür zu öffnen, hätte sie die schwere Kommode zur Seite ziehen müssen, die sie versperrte. Außerdem hatte sie inzwischen
damit begonnen sich auszumalen, wer dieser Jemand sein könnte,
der Stunde für Stunde, Nacht für Nacht rastlos auf der anderen Seite
der Tür auf und ab ging. Ihre Vorstellung beschwor gemeinerweise
immer Bilder eines fetten Mannes herauf, mit blutroten Löchern im
Gesicht, dort, wo seine Augen hätten sein sollen.
Der Ursprung allen Übels ist die Einbildung. Sie lieferte ihrem
geistigen Auge unablässig diese Bilder, die dazu geeignet waren, sie
zu ängstigen.
Bernice, bevor du das Licht ausschaltest, schau unter dem Bett nach,
ob da ein Psychopath lauert – und ist das nicht eine abgetrennte Hand
am Boden des Kleiderschranks? Und vergiss nicht die Ratte, die im Ab6
flussrohr lauert, wenn du auf der Toilette sitzt. Kannst du dir vorstellen,
wie weh so ein Biss tut?
Sie blickte wieder zur Tür, zu der massiven Kommode, die sie jede
Nacht quer durch das Zimmer zerrte und die Tür damit verkeilte.
Die Tür zu verbarrikadieren, war mittlerweile genauso fester Bestandteil ihres Abendrituals geworden wie die Zähne zu putzen, ihre
Hausschuhe wezupfeffern und –
Ja, ja, gib es zu Bernice: Unter dem Bett nach dem Psychopathen
zu suchen, der genau in dem Moment hervorkriecht, in dem du einschläfst.
Es ist überflüssig zu erwähnen, dass niemals irgendetwas unter
dem Bett war – nur Bälle aus Flusen und (das erste Mal, als sie nervös
hinuntergespäht hatte) ein zusammengeknülltes Paar grauer Socken,
die irgendein lange abgereister Hotelgast dort vergessen hatte. Die
stocherte sie mit einem Kleiderbügel hervor und trug sie, weit von
sich gestreckt, zu einem Mülleimer im Flur, als ob sie radioaktiv oder
anderweitig verseucht wären.
Und nun sagte ihr ihre Einbildung – mit außergewöhnlich sadistischer Schadenfreude – dass jemand auf dem Flur herumschlich.
– jemand ohne Augen, Bernice; jemand nur mit Löchern, mit großen
blutroten Löchern, dort wo die Augen sein sollten; und er hat einen
dicken, fetten, aufgedunsenen Körper und dicke, fette Finger; und er
grinst, wenn er die Latexhandschuhe schnalzen lässt, besudelt mit den
Körperflüssigkeiten von jungen lieblichen –
Mit einem irritierten Seufzen setzte sie sich auf und schaltete die
Nachttischlampe ein. Nein, Bernice, sagte sie bestimmt zu sich
selbst, niemand geht vor der Tür auf und ab. Es ist deine Einbildung. Deine stinkende, lausige, verdammte Einbildung.
Aber ganz tief in ihrem Innern wusste sie, dass es so sein würde,
sobald sie die Tür öffnete. Das selbe Schicksal, das den Mann in dem
Video erwartet hatte, wartete auch auf sie.
2. VIDEOTAGEBUCH. EINE HALBE STUNDE NACH MITTERNACHT.
Sie dachte: Es ist wie bei Alkoholikern. Sie sehen eine Flasche Wodka. Sie wissen, sie sollten nicht nach ihr greifen, nicht den Verschluss
öffnen und nicht trinken. Aber sie können sich nicht beherrschen.
Die Flasche hat absolute Macht über sie. Sie kann sie dazu bringen,
alles zu tun.
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Der Koffer in ihrem Kleiderschrank besaß die gleiche Art von
Macht über sie. Sie wollte ihn wegwerfen, den selben Weg nehmen
lassen wie die staubverseuchten Socken, direkt in den öffentlichen
Mülleimer – aber sie konnte es nicht.
Es war als würde der hellbraune Koffer aus Lederimitat ihren Namen rufen; ihr befehlen, die silbernen Verschlüsse zu öffnen, den
Deckel zu heben und voller Bewunderung auf den Inhalt zu starren – saubere Kleidung in Beuteln, Notizbücher eines Reporters, die
ein Gummiband zusammenhielt, ein Paar weiße Joggingschuhe, die
Sohlen mit einer teerig schwarzen Masse versaut. Und dann die Videokamera. Und die Videos.
Diese verdammten, dummen, schrecklichen Videos.
Sie sollte sie verbrennen, wirklich.
Aber wie die Flasche Smirnoff, die zwischen Beuteln von gefrorenen Erbsen und Würstchen in der Kühltruhe lag, oder wo auch
immer der Trinker sie versteckt hatte, riefen diese Videos – diese
verdammten, dummen, schrecklichen und grauenhaften Videos –
ihren Namen. Und genau, wie sie sich den aufgeblähten tot-lebendigen Mann vorstellen konnte, der augenlos und monströs vor ihrer
Tür auf und abschritt – genauso konnte sie sich die Videokassetten
vorstellen. Da war diese eine, die sie immer wieder ansah (und wenn
sie sich dabei ertappte, seufzte sie ergeben: sie wählt mich aus, nicht
ich sie!). Der Aufkleber war von Hand beschriftet:
VIDEOTAGEBUCH – Rohschnitt.
Die Kassette anzusehen war das Letzte, was sie tun wollte.
Eine geschlagene Minute starrte sie den Kleiderschrank an, malte
sich den hellbraunen Koffer aus, die Videos darin, eingebettet in
Säcke mit sauberen Klamotten … sie sucht mich aus, nicht ich sie …
Dann, mit dem Seufzen eines resignierenden Alkoholikers, der
sich nie wieder besaufen wollte – niemals nie nicht! – ging sie zum
Kleiderschrank.
Bernice, das ist das letzte Mal. Hast Du gehört?
Zitternd, verschreckt, aber trotzdem seltsam begierig, machte sie
sich bereit, das verdammte Zeug anzusehen.
3. DIE PLUNDERKISTE. VOR SIEBEN TAGEN.
Alle Hotels, große und kleine, haben eine Plunderkiste. Ok, sie geben ihnen die verschiedensten Namen: Fundbüro, des Toten Mannes
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Hinterlassenschaften, Schrottraum, Müllkippe, Jauchegrube und
viele andere Schimpfnamen.
Die Besitzerin des Bahnhofshotels nannte sie auf alle Fälle Plunderkiste. Sie sagte es leicht heraus mit dieser Art Lächeln, welches
darauf hinweist, dass der Name Plunderkiste eine versteckte Bedeutung hat, eine, die etwas weiter geht als eine kleine Schlüpfrigkeit.
Bernice hatte daraufhin ebenfalls gelächelt, unsicher ob Plunderkiste eine besonders lustige, doppelte Bedeutung hätte.
Sie hatte keine Ahnung, warum sie sich überhaupt dazu hinreißen
ließ, sich durch diese Hinterlassenschaften zu wühlen. Vielleicht,
weil sie nicht wusste, was sie sonst an ihrem freien Tag tun sollte,
weil es regnete, weil sie die Einkaufsmeile der Stadt langweilte, weil
… ach, warum auch immer. Und so stand sie also jetzt in diesem
Raum unter der Treppe.
Zurückblickend glaubte sie, dass sie Mächte jenseits ihrer Vorstellungskraft in diesen Raum geführt hatten – mit der schrägen Decke,
die dem fünfundvierzig Grad Winkel der Treppe folgte, erleuchtet
nur von einer Glühbirne, die an einem nackten Kabel von der Decke
hing.
Hotelgäste verschwinden manchmal aus den verschiedensten
Gründen, ohne auszuchecken. Der offensichtlichste ist, dass sie einfach ihre Rechnung nicht zahlen wollen – oder können. Um zu vermeiden, dass der Rezeptionist Verdacht schöpft, schlendern sie ohne
Koffer hinaus, wie für einen kleinen Spaziergang durch die Stadt
– und kommen nicht wieder. Die Koffer, normalerweise wertlos
und ganz sicher voller genauso wertloser Klamotten, werden in die
Abstellkammer verräumt. Manche der zurückgelassenen Koffer des
Bahnhofshotels waren über hundert Jahre alt und enthielten viele
verschiedene Kleidungsstücke, die Bernice überraschten.
Ein Blechkoffer enthielt eine viktorianische Aussteuer für eine
Braut in spe, aus spröder Baumwollunterwäsche und einem immer
noch ordentlich zusammengelegtem Nachthemd für Flitterwochen,
die nie stattgefunden hatten. Das beflügelte Bernices Fantasie. War
hier ein Liebespaar durchgebrannt? Warum haben sie nie geheiratet?
Vielleicht hatte der Bräutigam am Tag vor der Hochzeit kalte Füße
bekommen und seine Verlobte im Hotel zusammen mit den unbezahlten Rechnungen und der wertvollen Aussteuer, gekauft von dem
wenigen Geld, welches das Mädchen von ihrer Arbeit als Zimmermädchen auf die hohe Kante legen konnte, sitzen gelassen?
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Einige der älteren Koffer waren auf eine düstere Art faszinierend.
Vor hundert Jahren war es gängige Praxis, dass sich Selbstmörder
Hotelzimmer nahmen, in denen sie ihren Plan in die Tat umsetzten.
Ein Mann will sterben, aber er möchte Frau und Kindern den Schock
ersparen, seine Leiche zu finden. Also bucht er ein Hotelzimmer. Er
stopft Handtücher in die Ritze zwischen Tür und Schwelle, um die
Frischluftzufuhr so gut wie möglich zu unterbinden. Dann dreht
er die Gaslampen an, ohne sie zu entzünden. Er legt sich aufs Bett,
die Finger vor der Brust verschränkt, und lauscht dem Flüstern des
Gases, das zuerst den Raum und dann seine Lungen füllt. In der
Plunderkiste hatte Bernice eine Notiz gefunden, die in verzierter,
scharf gestochener Handschrift verfasst war: Ich beende dieses Leben
freudig. Niemand außer mir trägt daran Schuld.
Viktorianische Selbstmörder waren sogar im Angesicht des Todes
höflich und bemühten sich, sicherzustellen, dass sich niemand wegen ihres Suizids schuldig fühlte. Stets hatten die Abschiedsbriefe
das selbe Ende: Niemand außer mir trägt daran Schuld.
Bernice wunderte sich, warum die nächsten Verwandten das Habe
der Selbstmörder nicht geholt hatten. Nicht, dass irgendetwas von
Wert dabei gewesen wäre. Aber – wer will schon wirklich die Unterhosen und Socken eines toten Mannes haben?
Sie sah sich die schwarze, unerschütterlich endgültige Unterschrift
an: William R. Morrow. Ich frage mich in welchem Zimmer Sie
gestorben sind, Herr Morrow?
Sie versuchte, schnell die leise Stimme in ihrem Kopf zum verstummen zu bringen, die schon darauf brannte, ihr die Antwort zu
geben – das Bild von Herrn Morrow mit weit aufgerissenen Augen,
der am Leuchtgas erstickte.
Also: In welchem Zimmer sind sie gestorben, Herr Morrow?
In deinem, sagte eine leise Stimme. Er ist in deinem Zimmer gestorben, in Zimmer Nummer 406. Erstickt und mit geplatzten Augen.
»Halt die Klappe«, sagte sie zu der Stimme. »Du versuchst nur, mich
zu ängstigen. Außerdem – niemandem platzen die Augen beim Ersticken. Kapiert?«
Irgendwann später konnte Bernice nicht anders, als zu fragen:
»Wie viele Menschen haben sich hier im Hotel schon umgebracht?«
Die Hotelbesitzerin lächelte nur auf ihre übliche verschmitzte Art.
»Sage ich nicht. Du quasselst nur die anderen Gäste damit voll und
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verscheuchst sie. Wenn du irgendwelche Schätze da drin findest,
teilst du mit mir, oder?«
Dann stieß Bernice tatsächlich auf einen Schatz: Sie fand den Koffer mit der Handkamera und den Videos. Das plötzliche Stechen in
ihrem Bauch war eine Mischung aus Überraschung, Freude, Neugier – und unterschwelligem Schrecken.
Und dieser Schrecken wuchs.
Nun, eine halbe Stunde nach Mitternacht, erkannte sie, warum
sie so bestürzt war.
»Weil ich wusste, dass du unter all dem Krempel bist« sagte sie zu
der Videokassette in ihrer Hand. »Du hast auf mich gewartet, hast
gewartet, dass ich dich finde und dein Geheimnis ans Licht zerre.«
Füße auf dem Teppich. Das Gefühl, dass jemand vor der Tür
stand, die mit der Kommode verbarrikadiert war, wurde wieder stärker. Barfuß auf diesem abgewetzten roten Teppich. Oh nein, Herr
Morrow, augenlos und hungrig und so tot wie man nur sein kann, Sie
kommen hier nicht rein, um sich das Bett mit mir zu teilen. Wird ihnen
nicht langweilig bei dem ewigen Auf und Ab? Und das endlose Starren
an meine Schlafzimmertür, mit den beiden blutroten Löchern, wo eigentlich Ihre Augen sein sollten? Was ist, wenn ich die Tür aufmache und
nachsehe, ob da wirklich –
Es gab nur eine Möglichkeit, die bettelnde Stimme in ihr zum Verstummen zu bringen: Sie drückte das Band in den Videorekorder. Ein
Schauder huschte über ihren Rücken, als es der Lademechanismus
aus ihren Händen in den Bauch der Maschine zog und verschlang –
etwas, an das sie sich nicht gewöhnen konnte. Diese Art und Weise,
wie der Rekorder nach dem Band in ihren Fingern grapschte, als ob er
verhindern wollte, dass sie es sich noch mal überlegte.
Abwechslung wäre ‘ne tolle Sache.
Nein, es gab keine andere Möglichkeit in einem einsamen Hotelzimmer um Mitternacht, während der Regen leise auf Leppingtons
verlassene Straßen fiel.
Entweder das Video.
Oder die Kommode beiseite schieben, die Tür öffnen und nachsehen, was im Flur herumschlich.
Oh, guten Abend Herr Morrow. Wir sind ein wenig aufgebläht, grünlippig und augenlos geworden im Grab, nicht wahr? Kommen Sie ins
Bett und kuscheln Sie sich ran. Ich habe eine wunderschöne nackte Kehle
mit Adern so dick wie Bananen.
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Ein eiskaltes Schaudern erfasste sie und drang bis tief in ihr Herz.
Diese verdammte Stimme in ihrem Kopf. Laberte nur Unsinn. Sie
sollte einfach still sein.
Es gab nur das Video. Es verstörte und ängstigte sie. Aber – was
hatte sie für eine Wahl?
Sie schaltete den Fernseher ein, drehte die Lautstärke soweit runter, dass sie nicht die anderen Gäste wecken würde, die sicherlich
angenehm und wunderbar schliefen, und drückte »Play« am Videorekorder.
Dann sprintete sie zurück zum Bett, als hätte sie die Zündschnur
eines höchst gefährlichen Feuerwerkskörpers angezündet, kauerte
sich zusammen, die Knie an die Brust gezogen, und starrte auf den
Schirm, das Bettlaken bis zu ihrer Nasenspitze hochgezogen.
Der Titel erschien am Bildschirm:
EIN VIDEOTAGEBUCH
Es war kein Videotagebuch. Es war eine Horrorgeschichte.
4. ABENDPROGRAMM
Das Mädchen starrte aus der Sicherheit ihres Bettes auf den Fernsehschirm. Es gab keine Titelmusik. Und nachdem VIDEOTAGEBUCH vom Schirm verschwunden war, sah man ein Standbild –
die Front des Bahnhofshotels: ein vierstöckiges Ziegelgebäude mit
einem spitzen Türmchen an jeder Ecke. (Die Besitzerin nannte das
Graf Dracula Schloss-Optik. »Gruslig, meine Liebe, nicht wahr?«,
hörte Bernice sie durch einen Schwall Zigarettenrauch murmeln).
Bernice glaubte, dass das Video ein billiger Reisebericht für irgendeinen Überseefernsehsender war. Im Zeitalter des gewinnoptimierten
Fernsehens wurden mehr und mehr Sendungen von irgendjemandem
mit einem Camcorder gedreht, der auch noch die Dreistigkeit hatte
zu sagen: Schaut, ich kann ganz alleine eine tolle Sendung machen.
Drauf geschissen, was die Öffentlichkeit und Kritiker darüber
dachten, die Buchhalter der Fernsehsender liebten diese wirklich
niedrigen Budgets.
Bernice zog die Bettdecke ein wenig höher. Das Bett war warm und
es fühlte sich sicher an wie ein undurchdringlicher Schutzschild.
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Ihre Blicke waren an den Bildschirm gefesselt, mit derselben morbiden Intensität, die sie bisher nur einmal erlebt hatte: auf dem
Heimweg von der Schule, als sie die Folgen eines Autounfalls erspäht hatte.
Mami! Mami! Hast du all das Blut gesehen? Es war dunkelrot und
schwarz und es waren kleine weiße Stückchen drin, wie Schmalzstückchen …
Nun übte der Fernseher dieselbe grauenhafte Faszination auf sie
aus.
Sie sah einen Mann um die 25 im Bild erscheinen, der – mit dem
Hotel im Hintergrund – in die Kamera sprach.
(Mein Zimmer ist das im obersten Stock, dachte sie. Ist da ein Gesicht
im Fenster? Bleich, aufgebläht, augenlos?)
Sie konzentrierte sich auf die Stimme des Mannes (ein Amerikaner, sanfte Aussprache, kultiviert, gebildet; gut aussehend, mit hübschem blonden Haar und Brille). Er sprach auf eine sympathische
Art. Mit ihm würde ich mich gern treffen – er ist nicht wie der tote alte
Herr Morrow, der mit seinen aufgedunsenen Füßen vor meiner Tür auf
und ab schlurft.
Sie konzentrierte sich auf die Worte des jungen Mannes, und die
quälende Stimme in ihrem Hinterkopf verschwand langsam.
»Hallo«, sagt der Mann im Fernsehen. »Dies ist der sechste Tag
meiner Reise durch das von Gespenstern verseuchte Britannien –
einem alten Land, das nicht nur von Männern, Frauen und Kindern
einer modernen Industrienation, sondern auch von Dämonen, Drachen und Monstern aus alten Geschichten bewohnt wird. Ich bin hier
im Markt Leppington, etwas mehr als zehn Meilen nordwestlich der
Hafenstadt Whitby. Demselben sagenumwobenen Whitby, in dem
Graf Dracula in Bram Stokers Roman von 1897 an Land ging.
Der Wohlstand Leppingtons mit seinen dreitausend Einwohnern
basiert auf dem Tod. Über hundert Jahre lang waren die größten
Arbeitgeber das Schlachthaus und die Konservenfabrik, die direkt
hinter dem Bahnhof liegen. Im Jahre 1881 schaffte es Bürgermeister
Harding Leppington, das Oberhaupt der Leppingtons, einer Familie, die so unzertrennlich mit der Stadt verbunden ist, dass sie sogar
den selben Namen trägt, einen Vertrag mit der Britischen Marine
auszuhandeln, um sie mit Dosenfleisch – zu dieser Zeit der neueste
Schrei – zu beliefern. Die Bauern des Umlands trieben ihre Schafe
und Rinder mitten durch die Stadt, die Hauptstraße hinauf, an
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der Kirche und dem Hotel hinter mir vorbei, über den Marktplatz,
durch die großen schmiedeeisernen Tore des Schlachthofs. Die Tiere
wurden zu Tausenden geschlachtet – damals wurden Schafe, aber
auch Kühe lebendig an ihren Hinterbeinen aufgehängt, um ihnen
dann die Kehle aufzuschneiden. Nachdem man sie einige Stunden
hängen lies, bis ihr Blut durch die steinernen Abflüsse im Boden
vollkommen versickert war, wurden die toten Tiere weiter zur Metzgerhalle gebracht, in der Hunderte wahnsinnig beschäftige Männer
sie in so kleine Stücke zerhackten, dass man sie in großen Kesseln,
die je von einer halben Tonne Kohle beheizt wurden, kochen konnte.
Diese Kochgerätschaften waren so groß, dass man bequem einen
Kleinlaster darin unterbringen könnte. Dann wurde das gekochte
Fleisch in Konservenbüchsen – die in dieser Zeit tatsächlich noch
aus reinem Zinn gemacht waren – verpackt, versiegelt und dann auf
die Schiffe ihrer Majestät verladen, auf denen sie dann irgendwann
im Lauf der nächsten zwei Jahre, nachdem die unglückseligen Tiere
zuletzt über das Kopfsteinpflaster, auf dem ich stehe, getrottet waren, sicher verspeist werden konnten. Colonel Leppingtons gebrühtes
und nahrhaftes Fleisch mit Soße, wie das Produkt werbewirksam genannt wurde, konnte man in den Schiffskombüsen von Alaska bis
Sansibar finden.
Das ist also Leppington, eine Stadt, die auf Blut erbaut wurde.
Lange vor dem Kommunismus waren die Arbeiter der Fleischfabrik
Leppingtons als Die Roten bekannt. Wenn sie spätabends von der
Arbeit nach Hause gingen, konnte man sie daran erkennen, dass sie
von Kopf bis Fuß rot waren vom Blut der tagsüber geschlachteten
Tiere.«
Nun kam eine Sequenz von Schnappschüssen der Stadt – die Post
und der Supermarkt (früher ein Krankenhaus für Leprakranke),
die Kirche St. Coleman, 670 n. Chr. gegründet, erst keltisch, dann
katholisch, dann anglikanisch, vom Blitz 681 n. Chr. und einem
Erdbeben um 1200 zerstört und beschädigt durch den Einschlag
einer V1-Rakete der Nazis 1945 im südlichen Querschiff, mit uralten Grabsteinen, die Krieger im Kampf mit Ungeheuern darstellten,
die auf ihnen ritten oder sich sogar mit ihnen paarten – und die
Historiker debattieren immer noch über diese Bildnisse. Den Grabsteinen folgten einige Bilder von einem Fluss. »Vom Fluss Lepping«,
führte der Erzähler weiter aus, »wird angenommen, dass er nach einer Göttin benannt wurde, wie es in Britannien durchaus üblich ist.
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In Schottland ist der Clyde nach der Göttin Clota benannt, die als
Personifikation der göttlichen Reinigung gilt; der Fluss Dee ist nach
Deva, was so viel wie Göttin bedeutet, benannt.« Es folgten mehrere Szenen des Lepping: schnell strömendes Wasser, das weiß um
Felsblöcke so groß wie Autos schäumte; ein Junge, der optimistisch
versuchte, Lachs zu angeln.
Der Erzähler fuhr in seinem sanften Akzent fort. »Der Name Leppington ist nordischer Abstammung und taucht erstmalig in den
Schriften der Äbtissin von Whitby Abbey auf, einer gewissen St.
Hilda, die etwa im sechsten Jahrhundert nach Christus lebte. Ihr
Ruhm gründete sich darauf, dass sie alle Schlangen des Ortes über
die Klippen trieb und ihnen zu guter Letzt die Köpfe mit der Peitsche abhieb.
Eine peitschenschwingende Nonne, die phallusförmigen Schlangen die Köpfe abhackt? Wenn das einem nicht den Eindruck eines
erstklassigen freudschen S&M Bildes aufdrängt, was dann? Auf alle
Fälle schickte sie dem örtlichen Herrscher, König Oswy von Northumbria, 657 n. Chr. einen Brief. Darin schrieb sie: »Leppingsvalt
(wie es damals genannt wurde) ist eine Brutstätte von Dämonen, die die
Adern der Kinder Gottes aufstechen und ihr Blut trinken. Sie sind am
Blute der Unschuldigen fett geworden und lauern Reisenden, Händlern
und Pilgern gleichermaßen auf. Sie sind Kreaturen der Nacht und in
den Künsten der Nekromantie bewandert. Sie fährt mit dieser Anklage
fort und bezichtigt das Dämonenvolk von Leppington, des Teufels
Gefolge zu sein. Sie endet mit der Forderung, dass Leppington, oder
besser gesagt Leppingsvalt, bis auf die Grundmauern niedergebrannt
und die Erde mit Salz bestreut werden sollte. Was eine seit langer
Zeit erprobte Methode ist, verfluchte Häuser zu zerstören. Allerdings
– und es gibt immer ein großes Allerdings, nicht wahr?«, fuhr die
wohlklingende Stimme fort, während kurze Einstellungen von Leppingtons Eatwell-Cafe-Cider-Schweine-Pasteten sind unsere Spezialität gezeigt wurden.
»Jedoch war Leppingsvalt die Heimat von mehr als zweihundert
Zinnminenarbeitern – nach Zinn zu schürfen war eine dreckige, gefährliche und hoch spezialisierte Arbeit –, und Zinn war lebenswichtig für die Schatzkammer des Königs. Hätte er die Minenarbeiter,
obwohl sie wirklich ein rabiates, heidnisches Völkchen mit antisozialen Angewohnheiten waren, umbringen lassen, hätte er sich ein
riesiges Loch in seine eigene Kasse gebrannt. Daher überzeugte er St.
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Hilda, gerissen wie er war, dass sie, anstelle die heidnischen Einwohner von Leppingsvalt zu massakrieren, lieber den Vorsitz über die
Zwangstaufe und Christianisierung der Bevölkerung übernehmen
und sich darum kümmern sollte, dass danach eine stattliche Kirche
gebaut werde, womit das Problem erledigt wäre. Also wurde eine
Massentaufe im Fluss Lepping durchgeführt, was drei Mönchen aus
Whitby Abbey das Leben kostete, denn die alten Götter gaben sich
nicht kampflos geschlagen. Die Kirche wurde gebaut, und wie ich
vorhin bereits erwähnte, traf sie bald darauf der Blitz. Und unter
dem gottesfürchtigen Volk außerhalb von Leppingsvalt, das jetzt
Leppington genannt wurde, kamen Gerüchte auf, dass in den Tunneln der Zinnminen immer noch die alten Götter verehrt wurden.
Wobei diese Tunnel den Fels unterhalb der Stadt in etwas verwandelt hatten, das möglicherweise mehr Löcher als Fels beinhaltet. Was
wiederum mehr als einen Beobachter dazu brachte zu spekulieren,
dass die ganze Stadt irgendwann in einem mächtig großen Krater
versinkt.«
Der Kopf und die Schultern des Erzählers kamen ins Bild. »Hier
haben sie es: Das ist Leppington. Auf Blut erbaut. Die letzte Bastion
heidnischer Verehrung.«
Man sah danach allerhand Sehenswürdigkeiten – eine Burg mit
baumbestandenem Hof, das Museum (gebaut und finanziert von
der Familie Leppington, mit einem Stockwerk nur um Colonel Leppingtons Sammlung an ausgestopften Tieren zu zeigen), den Galgenberg, an dem mancher Viehdieb und Straßenräuber gebaumelt
hatte …
Bernice lag schläfrig in ihrem gemütlich warmen Bett, ihren Kopf
aufs Kissen gelegt, sodass der Fernseher auf der Seite zu liegen schien,
während sie weiter guckte. Das Licht der Nachttischlampe leuchtete
auf einmal gedämpft, was die Schatten in den Ecken des Raums
noch dunkler werden ließ.
Vielleicht schwankte die Spannung wieder einmal. Das passierte
häufig genug in abgelegenen Städten in den Hügeln des nördlichen
Yorkshire. Der Regen fiel sanft, mit einem rhythmischen, flüsternden
Ton, der kam und ging wie das Atmen eines schlafenden Kindes. Sie
entspannte sich.
Sicher und warm in meinem Bett ... Sicher und warm …
Schläfrig sah sie sich im Zimmer um: Kleiderschrank, Spiegel,
Schatten, die weicher und tiefer wurden, als der Strom noch mehr
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nachließ. Der gelbe Lichtkegel der Lampe. Blaue Vorhänge. An der
Wand über dem Bett das Portrait eines in Weiß gekleideten Mädchens, das knöcheltief im Wasser steht. Der spinnenförmige Sprung
im Glas oberhalb der Tür zum Badezimmer – ein lustiger Ort für ein
Fenster: Um Tageslicht hereinzulassen nehme ich an, nicht um durchzugucken. Ihre Schuhe, fein säuberlich an der Wand aufgereiht, die
schwarzen Lackstiefeletten, die sie gestern gekauft hatte, vorne spitz
zulaufend und mit einem hohen Absatz, wirklich hoch, fast schon
ein Stiletto. Ein guter Kauf, dachte sie sich in stiller Zufriedenheit,
ein sehr guter Kauf.
Sicher und warm in meinem Bett, alles in Ordnung. Bald schlafe ich.
Sie gähnte ausgiebig und kuschelte sich dann tiefer ins warme Bett.
Die Stimme des Erzählers im Fernsehen, butterweich, beruhigend
– die Worte umschmeichelten sie. Eine nette Stimme. Angenehm,
warm, freundlich …
Nach einer Weile wechselte die Szenerie von der Stadt zu einer Innenansicht. Der Mann saß auf einem Bett in einem düsteren Raum.
Sie vermutete, dass er sich selbst gefilmt hatte, indem er die Kamera
irgendwo auf der Kommode, die sie vor die Tür geschoben hatte,
platzierte. Dann kam der Mann ins Bild, setzte sich auf das Bett
und begann zu sprechen. Er sprach noch sanfter, mit einer gewissen
Verwunderung in seiner Stimme.
»Sie wissen, ich habe nie an das Übernatürliche geglaubt«, flüsterte er. »Bis jetzt. Es ist kurz nach drei Uhr morgens. Draußen ist es
stockdunkel. Hier drinnen ist es … als wäre das ganze Gebäude, das
ganze Hotel mit Strom oder ähnlichem aufgeladen. Ich habe nachts
die seltsamsten Träume. Ich weiß …« Er lächelte in die Kamera,
wobei sich seine Brillengläser golden färbten, als sie das Licht der
Nachttischlampe einfingen. (Eine Lampe wie diese, dachte Bernice,
als sie schläfrig einen Blick darauf warf. Lustig, das ist mir vorher nie
aufgefallen.) »Ich weiß, dass Träume kein Beweis für das Übernatürliche sind ... Aber, Jesus, das ist so aufregend, dass ich nicht weiß,
wo ich beginnen soll. Ich habe Entführungen durch Außerirdische
in Arkansas als Schwindel entlarvt, Werwölfe in Russland, Geister
von New York bis Timbuktu – alles Quatsch, Mumpitz, lächerlicher
Unfug.
Ich habe alles gehört, aber niemals daran geglaubt, niemals etwas
gefühlt, hatte niemals dieses instinktive Gefühl hier« – er presste
seine beiden Fäuste gegen seinen Bauch – »dass es, oder auch nur
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ein Teil davon, wahr wäre. Bis ich hierher gekommen bin, in ein
kleines englisches Nest namens Leppington. Nun … nun sehen Sie
sich das an.«
Das Bild wechselte vom Raum in die Dunkelheit. »Das ist reines
Rohmaterial«, fuhr der Sprecher fort »Keine ausgefallenen Schnitte,
keine Überblendungs- oder Stativspielereien – nur grundehrliches,
rohes Filmmaterial, direkt so, wie es aufgenommen wurde!«
5. GEISTER AUF BAND
Bernice starrte auf den Schirm. Sie sah eine wacklige Aufnahme der
Hotelzimmertür, als derjenige, der die Kamera hielt, darauf zueilte.
Eine Hand erschien im Bild, packte die Klinke, drückte sie herunter
und riss die Tür auf. Untermalt wurde das ganze von aufgeregtem
Keuchen. Dann zeigte die Kamera den Korridor (dieses Hotels, dachte sie schläfrig; er wohnte im selben Hotel wie ich.)
»Ich hab‘s gesehen. Ich hab‘s gesehen. Zur Hölle, Mike, bleib konzentriert. Es ist zwei Uhr morgens. Und ich hab es gerade erst vor
zwanzig Minuten gesehen«, japste die Stimme aus dem Off. »Ich
spürte, dass irgendetwas vor meiner Türe war. Ich öffnete sie, und
dann sah ich es – nicht mehr als der Schatten eines Mannes. Eine
große Gestalt, die durch diesen Korridor schlich wie eine Katze. Und
das ist jetzt nicht nur ein Vergleich. Die Überraschung hat mich
überrollt, hat mich sprachlos gemacht, ich hatte den Eindruck, dass
dieses Wesen halb Mensch, halb Tier war – geschmeidig und schnell,
sehr schnell. Mein Gott hatte ich Angst, ich war erschrocken, als
wäre ich gestolpert und vor einem rasenden Lastwagen auf die Nase
gefallen. Der logische denkende Teil von mir sagte: Ok, Mike. Du
hast es gesehen. Nun schließ dich in deinem Zimmer ein. Glaubt mir,
was ich gesehen habe ist übel. Es ist ein verdammt übles Mistding.
Aber da gibt es noch den Teil von mir, der sagte: Verfolge es. Los, hinterher, hinterher, hinterher! Ich konnte mich nicht zurückhalten, ich
musste ihm einfach hinterher, als es … oh, Vorsicht Mike, hier sind
Stufen!« Man sah die große Treppe, die in die verwaiste Hotellobby
und zur Rezeption hinabführte. »Mein Gott, es ist so kalt hier drin.
Wir haben Juli. Aber es ist eiskalt. Seht euch das an!« Die Kamera
drehte sich so, dass der Kameramann – Mike – sein eigenes Gesicht
filmen konnte. Das Gesicht war unscharf und so rund wie der Vollmond. Er atmete aus und Dampf kam aus seinem Mund. »Das ist
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wirklich kalt, was Leute? Nun Mike, pass auf die Treppen auf, pass
auf. Das letzte was ich will, ist hier zu stolpern und mir das Genick
zu brechen. Nun, wo ist er hin, wo ist er nur hin?« Das Bild wackelte
nicht mehr gar so arg, nun da er ging. »Nach oben, nach unten,
ins Kämmerchen der Dame … kleiner Wichser. Wo bist du hin?«
Aufnahmen aus dem Speisesaal, die Bar mit geschlossenen Rollläden, die Tür zur Abstellkammer unter der Treppe. »Wo bist Du hin?
Und um Gottes Willen spring jetzt nur nicht aus dem Schatten und
schrei mir BUH ins Gesicht.« Der Mann versuchte witzig zu wirken,
aber Bernice hörte den Unterton von Angst in seiner Stimme.
»Oh Mann ... oh Mann ... Verdammt. Er – es – ist weg. Verschwunden. Verdammt, verdammt. Aber wie ihr seht, sind alle Türen
nach draußen zu und abgeschlossen. Ist er durch die Wand gelaufen?
Oder einfach mitten dort im Billardraum dematerialisiert? Vielleicht
ist er auch geschrumpft und in die Jukebox gelaufen. Vermutlich hat
er sich dort zwischen Kula Shaker und REM einsortiert ... Gütiger
Himmel, ich fange zu schwafeln an. Ich labere, weil mich das – wie
man sagt – vollkommen umgehauen hat; ich zittere wie das sprichwörtliche Espenlaub!«
Schnitt: Das Hotelzimmer. Mike sitzt auf dem Bett und spricht
ruhig in die Kamera. »Was ihr gerade auf dem Videoband gesehen
habt, war ich, Mike Stroud, der das Wesen verfolgte. Jetzt muss ich
ein wenig ausholen, um zu erklären, was genau passiert ist. Zuerst
hatte ich das Gefühl, dass irgendwer, oder irgendwas, vor meiner
Zimmertür auf und ab schlich, also ging ich auf den Flur, um nachzusehen, und sah diese schattenhafte, menschenähnliche Erscheinung,
die wie eine Katze den Flur hinunterschlüpfte. Hat mich zu Tode
erschreckt. Aber das seltsame ist, dass ich ihm nachlaufen wollte.
Irgendwas in mir schrie: Lauf! Lauf! Lauf! Verfolg es! Lass es nicht
entkommen! Ich war enorm aufgeregt. Als wäre ich Teil dieses wilden
Rennens, und ein unglaubliches Hochgefühl hatte mich ergriffen.
So habe ich es verfolgt und dann verloren. Kurz darauf ging ich zurück, um meine Kamera aus meinem Hotelzimmer zu holen.«
(Auf dem Fernseher, hinter Mike, kann ich diesen spinnennetzartigen
Sprung in dem Glaspanel über der Badtür sehen. Und da ist das Portrait des Mädchens, knöcheltief im Fluss, dachte Bernice, das ist mein
Zimmer.)
Der Erzähler fuhr fort: »Völlig aus dem Häuschen rannte ich zurück in mein Zimmer, schnappte mir die Videokamera und wartete.
19
Ich dachte, es kommt nicht mehr zurück. Jesus, meine erste Erfahrung mit dem Übernatürlichen und ich verkack‘s. Warum hat man
nicht immer die Videokamera zur Hand, nur für den Fall der Fälle?
Nun habe ich wohl die einzige Chance, die man im Leben bekommt,
etwas Übernatürliches zu filmen, verspielt. Aber hört euch das an
Leute, es ist zurückgekommen. Innerhalb einer halben Stunde. Ihr
habt das Ergebnis gesehen.« Der Mann sprach leise, selbst nicht sicher, was er da gesehen hatte. »Es war, als würde sich ein sechster
Sinn hier drinnen melden.« Der Mann presste seine Hand flach auf
den Bauch »Ich hab es nicht ganz gesehen – eine große schattenhafte
Erscheinung. Ich fühlte es so sehr, dass ich absolut wusste, es war
teils Mensch, teils Tier. Wenn ich die Augen schließe, kann ich seine
nackten Füße auf dem Teppich sehen. Ich kann seine nackten Füße
auf dem Teppich spüren, als wären es meine eigenen. Aber zumindest kann man es auf Band sehen. Ich hab da was erwischt, oder?«
Bernice erinnerte sich, was sie im Fernseher gesehen hatte: Die
schnell vorbeihuschenden Korridorwände, schnelle Bilder des Teppichs, die Türen der anderen Räume hier auf dem Flur, die Eingangshalle, den Rezeptionstisch, Speisezimmertische, die schon für
das Frühstück mit weißen Tischdecken gedeckt waren. Und immer
einen Schritt dem Licht voraus etwas Gleitendes. Eine Andeutung
von Bewegung – schnell, katzenhaft und furchtbar düster.
6. EIN UHR UND 15 MINUTEN
Draußen regnete es leise. Sie fühlte sich schläfrig. Der Mann auf
dem Bildschirm sprach. Sie hörte, wie seine Aufregung wuchs, als er
Pläne machte, nachts, mit bereiter Videokamera, wach zu bleiben.
Sobald er fühlte, dass das Wesen im Gang herumschlich, würde er
die Tür aufreißen –
– und dann hätte er die Gestalt auf Band.
Diesmal würde er es nicht versauen; die Zuschauer sollten es mitten auf dem Bildschirm sehen können; sie sollten staunen, egal was
für ein Gesicht die Kreatur hatte; Otto Normalbürger würde ins
Angesicht eines übernatürlichen Wesens blicken; er würde zittern,
vielleicht sogar vor Angst zurückschrecken, aber er würden das Gesicht auf alle Fälle voller Furcht betrachten. Und er, Mike Stroud,
das Ein-Mann-Kamerateam, würde der Welt ein einzigartiges Stückchen Film präsentieren. Beweis des Übernatürlichen.
20
Und dann? Es würde massenhaft Dokumentationen und Bücher
auf Basis diesen Materials geben: Talk Shows; Larry King auf CNN;
weltweite Veröffentlichungen.
Bernice lauschte den Ausführungen, die klangen wie vertrauliche
Geheimniskrämerei, als würde er nur sie ansprechen – sie ganz allein. Ich, Bernice Mochardi, bin seine spezielle Freundin und einzige
Vertraute. Das fühlte sich gut an; das Gefühl in ihrem Bauch war das
selbe, wie das, wenn sie sich in einen Mann verliebte.
Ihre Augenlider wurden immer schwerer. Und sie war angenehm
schläfrig.
»… die Veröffentlichungsrechte in Fachmagazinen allein wären
schon enorm. Eine Kreatur aus englischen Märchen auf Film gebannt um – Moment, halt …« Er sprang vom Bett auf, die Gläser
seiner Brille blitzten im Licht, als er sich umsah. »Es ist hier. Es ist
zurück. Ich kann es spüren, kann es fühlen. Es ist draußen. Okay
Leute, jetzt geht’s los.« Er eilte zur Kommode und verschwand aus
dem Sichtfeld. Das Bild wackelte, als die Kamera aufgehoben wurde
und Aufnahmen vom Portrait des Mädchens, den blauen Vorhängen und dem spinnennetzartig gebrochenen Fenster über der Badtür
schossen durchs Bild.
(Er hat in meinem Zimmer gewohnt, in meinem Bett geschlafen,
warme Haut unter kühler Baumwollbettwäsche.)
Sie starrte auf den Fernseher, die geschlossene Tür wurde immer
größer, als er mit der Kamera darauf zuging. Dann musste er kurz
gestoppt haben.
War er unsicher, was er als nächstes tun sollte? Fragte er, was um
Gottes Willen hinter der Tür stand? Hatte er Angst?
Ja, ein wenig ängstlich war er sicher. Alle normalen Menschen
fürchten das Unbekannte.
Das Bild wackelte wieder ein wenig und stabilisierte sich, als er die
Kamera auf irgendwas abstellte. Auf was? Einem Stativ? Einer Kommode? Auf alle Fälle war das Bild der Tür nicht mehr verwackelt,
sondern perfekt fokussiert.
Sie sah ihn auf die Tür zugehen.
Er öffnete sie.
Eine verschwommene Bewegung.
Kein Geräusch.
Er warf einen Blick zurück in die Kamera.
Die Bewegung war so heftig, dass ihm die Brille davonflog.
21
Der Ausdruck auf seinem Gesicht war jenseits aller normalen
Furcht. Es war der Ausdruck nackten Grauens.
Einen Sekundenbruchteil später verschwand er durch die Tür, als
ob ihn ein Gummiband nach draußen katapultiert hätte. Die Tür
flog mit unglaublicher Wucht zu.
Trotzdem nahm das Mikrophon komischerweise keinen einzigen
Laut auf.
Bernice hob ihren Kopf ein wenig und blickte mit schläfriger Verwunderung auf den Bildschirm. Wie konnte das sein? Die Szene war
himmlisch still, obwohl sie rohe Gewalt zeigte.
Sie hatte das Video schon so oft gesehen, dass die Bilder sie nicht
länger ängstigten. Wenn überhaupt, hatte es einen einschläfernden
Effekt.
Sie blendete sogar aus, was sie im abgedunkelten Korridor hinter
dem Mann gesehen hatte.
Gähnend kroch sie aus dem Bett, um Fernseher und Videorekorder auszuschalten. Sie wollte jetzt schlafen.
Wie immer würde das Bild der geschlossenen Tür für eine Weile
zu sehen sein. Sekunden später würde es Schwarz werden, sobald
das Band zu Ende war. Und schließlich würde man nur noch den
elektronischen Schneesturm des signallosen Kanals sehen.
Sie ging zum Fernsehgerät. (Warum vertrauen eigentlich alle
Hotels ihren Kunden keine Fernbedienungen an?) Das Bild wurde
schwarz. Und dann zum Schneesturm.
Wie immer.
Dann kam das Bild zurück.
Sie blieb stehen und betrachtete es voller Überraschung.
Es zeigte den Korridor, die Treppe, den Eingangsbereich. Das Bild
bewegte sich mit wahnwitziger Geschwindigkeit, aber trotzdem unglaublich flüssig – wie eine geölte Maschine.
Eine Tür kam ins Bild. Die kleine Tür zur Abstellkammer.
Die Treppe hinunter.
Hinunter in den Keller. Die Wände bestanden aus nackten Ziegeln. Gemauerte Torbögen rasten in unglaublicher Geschwindigkeit
vorbei.
Im Keller, dort wo zwei Wände, eine aus Ziegel, eine aus Stein,
zusammentrafen, stand jemand.
Sie sah das weiße Hemd, blondes Haar. Sie erkannte Mike Stroud,
den Mann aus dem Video. Aber der unerschütterlich fröhliche Ge22
sichtsausdruck war verschwunden. Er war nur noch eine Fratze des
Grauens.
Schürfwunden um seine Augen und seinen Mund. Er schrie. Ja,
sie war sich sicher, er kämpfte gegen irgendetwas, das sie nicht sehen
konnte.
Dann heulte er auf, als ob irgendetwas ihm Schmerzen zufügen
würde – immer und immer wieder. Wie ein Kind in der Schule,
dachte sie, das schikaniert wurde, dem ein Rabauke den Arm immer
weiter verdrehte –
Aufhören! Aufhören!
– und je mehr das Kind schrie, desto stärker verdreht ihm der
Raufbold den Arm.
Zuletzt wurde Mike Stroud schluchzend in die Dunkelheit gezogen; eine Sekunde später war er weg, als ob ihn etwas durch ein Loch
in der Wand gezerrt hätte.
Nun bewegte sich die Kamera wieder.
(Aber wer filmt?, dachte Bernice erschauernd. Wer kann eine Kamera so ruhig halten, wenn er sich so schnell bewegt?)
Auf dem Fernsehschirm sah sie die Ziegelwände verblassen; die
Kellertreppe füllte das Bild, die Kamera eilte hinauf zur Lobby, zu
den mit Teppich ausgelegten Stufen. Weiter nach oben.
Zur obersten Etage.
Eilte den Korridor entlang.
Hotelzimmertüren schossen eine nach der anderen vorbei.
Die Kamera flog direkt auf eine Tür zu.
Meine Tür; es ist meine Tür!
Zimmer 406.
Nun hörte sie nackte Füße schwer auf dem Fußboden.
Die Tür – meine Tür, meine Tür! – füllte den Bildschirm aus.
Sie hielt den Atem an.
Die Tür flog krachend auf.
Ein zersplittertes Fenster über der Badtür.
Ein Mädchen-Im-Fluss Bild, ganz in Weiß.
Es donnerte, als würde das Hotel in einen Abgrund stürzen.
Die Tür schwang auf und außer Sicht.
Eine Gestalt lag im Bett.
Das bin ich, dachte Bernice mit klopfendem Herzen.
Meine Augen sind aufgerissen. Ich kniee im Bett, die Decke vor mir
wie ein Schild.
23
Ein Schild aus Baumwolle?
Nicht wirklich toll, Bernice.
Wer auch immer die Kamera hält, rennt in das Zimmer, stürmt
zum Bett und springt hinauf. Die Kamera blickt auf ein Mädchen,
das nach hinten stürzt, blondes Haar, das aufs Kissen fällt, den Mund
zu einem angsterfüllten Schrei aufgerissen.
Und die ganze Zeit donnert es weiter, als sich der Boden öffnet,
das Bett kippt; sie schlittert aus der warmen, schläfrigen Sicherheit
in eine Grube, in der aufgeblähte Gestalten mit offenen Armen nur
darauf warten, sie zu fangen. Tausend Gesichter blicken nach oben.
Hungrig.
Sie haben keine Augen.
7.
Das Knistern wurde von einem donnernden Pochen überlagert.
Sie öffnete ihre Augen und konnte gebratenen Speck riechen. Es
lag nur ein Hauch davon in der Luft, aber es war definitiv gebratener
Speck. Gähnend kletterte sie aus dem Bett und tippte mit dem Zeigefinger auf den Ausschaltknopf des Fernsehers. Das Rauschen aus
dem Lautsprecher verstummte. Das Donnern blieb.
Bernice Mochardi sah aus dem Fenster auf einen sonnenerleuchteten Marktplatz hinunter. Ein Müllwagen hob Müllcontainer hoch,
und mechanische Greifer donnerten die großen Metallcontainer gegen Stahlsparren. Überreife Tomaten, zerquetschte Äpfel, matschige
Bananen und alte Kisten würden bald ihren Weg zu dem großen
Loch außerhalb der Stadt nehmen, wo sie zusammen mit dem ekelhaften Paar Socken des Fremden, die sie vor Wochen weggeworfen
hatte, auf ewig in Frieden ruhen würden.
Auf der anderen Seite des Marktplatzes lag das einstöckige Bahnhofsgebäude und dahinter schob sich die Backsteinmonstrosität
des Schlachthofs in den Himmel. Das blauschwarze Schieferdach
glänzte noch vom nächtlichen Regen.
Sie riss den Mund auf und gähnte, als sie hinausblickte, und langsam kehrte die Normalität eines x-beliebigen Tages einer Kleinstadt
zurück.
Sie wusste nicht mehr, wann sie eingeschlafen war, und wann sich
die Realität, in der sie sich das Video angesehen hatte, mit dem Alptraum vermischt hatte.
24
Sie sollte das Band bei Tageslicht anschauen. Möglicherweise wäre
es dann gar nicht so furchtbar. Aber andererseits könnte es auch
noch viel Schrecklicheres zeigen. Es war die selbe Kassette, aber sie
zeigte niemals zweimal das gleiche. Zumindest kam ihr das so vor.
Die Kirchturmuhr schlug sieben Uhr. Knapp zwölf Stunden noch,
bis es wieder dunkel wurde. Das Schreckgespenst einer weiteren
Nacht – einer Nacht, die ewig zu dauern schien – näherte sich mit
Riesenschritten.
Bernice Mochardi erschauerte und drehte dem Fenster ihren
Rücken zu.
25
KAPITEL 1
1.
Die Zugfahrt nach Leppington verlief wie aus dem Bilderbuch. Dr.
David Leppington streckte seine Beine aus, soweit es die Sitzreihe
vor ihm erlaubte, entspannte sich zum Rhythmus der Räder auf den
Schienen und betrachtete die Felder, Wälder und Hügel, die am
Waggonfenster vorbeizogen.
Die Gegend kam ihm unbekannt vor. Der Fluss neben der Strecke
war vermutlich der Lepping, der sich aus den Hügeln herunterschlängelte, um die Stadt zu teilen, und dann durch das Tal hinunter, um sich mit der Esk zu vereinigen und die restliche Reise zum
Meer, die bei Whitby endete, fortzusetzen.
Würde er überhaupt etwas wiedererkennen? Sechsjährige erinnern
sich normalerweise eher an Vorfälle denn an Orte. Er dachte an den
Tag, als sein Hund Skipper bei Whitby ins Meer gerannt war und
postwendend von einer großen Welle zum Strand zurückgespült wurde. Seitdem verweigerte der Hund Spaziergänge zum Strand, vom
Meer ganz zu schweigen. Er erinnerte sich, wie der Schornstein Feuer
gefangen hatte – da war er ungefähr fünf Jahre alt gewesen –, wie
sein Onkel ihn nach draußen trug und er die Funken, die vom Kaminrohr in die Nacht hinausschossen, wie ein riesiges, wundervolles
Feuerwerk bestaunt hatte. Aber Leppington selbst – die Stadt, von
der seine Familie den Namen erhalten hatte, oder war es doch anders
herum gewesen? – hatte er seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen.
Es gab Bilder in seinen Erinnerungen, bruchstückhaft, als hätte man
einen Film aus irgendwelchen Schnipseln zusammengeklebt. Er erinnerte sich daran, wie er auf dem Tisch saß, während seine Mutter seine Schnürsenkel band – die Tapete hatte ein Muster aus fetten blauen
Trauben. Und er erinnerte sich an einen Ort, der ihm wie ein riesiger
Palast erschienen war und an dem er ein Schinkensandwich gegessen
hatte. Ein Film im Fernsehen hatte ihn fast zu Tode erschreckt – seine
ältere Schwester hatte wohl ein Horrorvideo ins Haus geschmuggelt.
Aber hatte seine Familie vor 20 Jahren schon einen Videorekorder
besessen? Vielleicht hatte sie auch heimlich zwischen den Kanälen
gewechselt, um einen Horrorfilm anzugucken.
26
Der Zug ratterte über einen Bahnübergang.
Die Hügel wurden nun steiler und höher; auf ihren Kuppen wuchs
lila Heidekraut. Und obwohl es schon spät im März war, konnte
man hier und da noch weiße Streifen erkennen – Schnee, der sich in
Spalten oder Felswänden versteckte.
Vielleicht war es doch keine so tolle Idee gewesen, nach Leppington zurückzukehren. Es war ihm irgendwie unangenehm, das letzte
Familienmitglied, das in Leppington geblieben war, nach so langer
Zeit wieder zu sehen. Nun, wie auch immer, er würde es überstehen;
allzu schlimm sollte es nicht werden.
Außerdem hatte er einen Brief mit einer nahezu unwiderstehlich
verlockenden Einladung in der Tasche. Eigentlich waren es zwei
Briefe; aber im Moment zog er es vor, über den zweiten nicht nachzudenken. Irgendwann würde er ihn öffnen und vielleicht auch lesen. Aber nicht jetzt. Das konnte warten.
Der Zug kletterte die Hügel hinauf. Voraus hingen schwarze, grünlich schimmernde Wolken am Himmel, die ihn an schwere Blutergüsse erinnerten. (Blutergüsse, eigentlich korrekterweise Hämatome,
benötigten keine Behandlung: Seine medizinische Berufserfahrung
meldete sich sofort zu Wort – Blaue Flecke waren das Resultat eines
Schlags, der die Blutgefäße unter der Haut beschädigte; die später auftretenden gelben Verfärbungen kommen von der Anhäufung von Gallenflüssigkeit in den betroffenen Stellen.) Entspann dich. Er lächelte
in sich hinein. Du hast Urlaub. Einmal mehr wandte er seine Aufmerksamkeit der vorbeihuschenden Landschaft zu, die so unglaublich
friedlich aussah.
2.
Die Entspannung währte nicht lange, denn der Ärger bahnte sich
schon den ganzen Weg seit Whitby an. Der junge Mann, der ihm
schräg gegenüber saß, hatte sich eine Zigarette angesteckt, sobald der
Zug Whitby für seine dreißigminütige Reise verlassen hatte – hinaus
in die Abgeschiedenheit des Tales, in das sich Leppington die letzten
zweitausend Jahre gekauert hatte. Dieser Mann, Anfang zwanzig,
mit rasiertem Kopf und so vielen Tätowierungen, dass man mehr
Blau als Hautfarbe sah, blies Rauchschwaden über den Kopf des
alten Mannes, der vor ihm saß. Eine leuchtend rote Narbe zog sich
vom Augenwinkel des jungen Mannes bis oberhalb seines Ohres.
27
»Machen sie gefälligst die Zigarette aus«, sagt der alte Mann, während er sich umdrehte.
»Ich habe meine Fahrkarte bezahlt«, grunzte der junge Mann zurück.
»Das ist ein Nichtraucherwaggon!«
Keine Antwort.
»Sehen Sie das Schild? Nichtraucher.«
Keine Antwort.
»Können Sie überhaupt lesen?«
»Ich habe meine Karte bezahlt.« Der Tonfall des jungen Mannes
wurde hart.
»Aber sie dürfen hier nicht rauchen!«
»Willst du mich vielleicht davon abhalten?«
Der alte Mann schwieg zunächst, als ihm klar wurde, dass er es mit
jemandem zu tun hatte, der nicht einfach zurückstecken und das tun
würde, was man ihm sagte. Vielleicht war der Alte in seiner Jugend ein
verdammt harter Kerl gewesen – oder eventuell eine Autoritätsperson
im Arbeitsleben. Auf alle Fälle wollte er sein Gesicht wahren.
»Ich werde Sie davon abhalten, junger Mann. Ich werde es dem
Schaffner melden.«
»Erzähl es doch, wem du willst, mir egal.«
»Machen Sie die Zigarette aus!«
»Nein.«
»Das ist wirklich asozial.«
»Und mir gefällt deine Fresse nicht.«
David Leppington bemerkte das Warnsignal im Gesicht des jungen
Mannes. Wenn jemand ein rotes Gesicht bekam, wurde er bestenfalls
wütend und brüllte herum. Aber wenn derselbe Jemand weiß wurde,
sollten alle Alarmglocken läuten. Ein weißes, blutleeres Gesicht bedeutet Gefahr. Das Adrenalin beginnt seine Wirkung zu zeigen. Der
Mann schaltete um auf Sieg oder Untergang. Und wenn er sich diesen
tätowierten Raufbold ansah, glaubte David, dass der sicher nicht klein
beigeben würde.
David Leppington sah sich im Waggon um. Eine Gruppe älterer
Damen auf einer Sitzgruppe mit Tisch hatte so lange geschnattert,
bis ihnen lauter werdende Stimmen ankündigten, dass sich Ärger
zusammenbraute. Nun reckten sie ihre Hälse und gafften. Im Sitz
vor ihm saß eine junge Frau mit einem Kleinkind auf dem Schoß.
Unablässig redete sie auf den Knirps ein: »Schau, ein Pferdchen.
28
Und so viele Bäume!« Sie wollte nicht mit in den Ärger hineingezogen werden.
Wenn der junge Mann dem Alten eine einschenkte, würde David
Leppington schnell eingreifen müssen.
»Du willst mir die Zigarette dann wohl abnehmen?« Der junge
Mann hielt seine Zigarette hoch und fixierte den alten Mann, der inzwischen aufgestanden war, sodass er dem Jungen ins Gesicht blicken
konnte. »Mach einfach. Versuch‘s doch.«
»Sie machen sich lächerlich, ich glaube …«
»Was glaubst du?«
»Ich glaube –«
»Los. Nimm sie mir ab. Stopf sie mir in den Hals. Warum versuchst du es nicht?«
»Rauchen in einem Nichtraucherwagen ist asozial!«
»Ich hab mein verschissenes Ticket bezahlt, oder?«
»Aber das gibt Ihnen nicht das Recht, das …«
»Auf was wartest Du? Nimm sie mir doch ab!« Er hielt die Zigarette am Filter zwischen Daumen und Zeigefinger direkt vors Gesicht des alten Mannes. Jetzt war es so weit: Der alte Mann konnte
entweder zurückstecken (und damit sein Gesicht verlieren), oder er
könnte versuchen, die Zigarette zu nehmen.
David wusste, was dann passieren würde: Fäuste flogen, und der
Mann würde wie ein Sack Mehl zusammensacken. Der Schock
konnte tödlich für einen Mann seines Alters sein.
»Nimm … die … verdammte … Kippe… Ok?« Die Haut im Gesicht des jungen Mannes war nun so blass, dass die tätowierten Tränen
auf seiner Backe wie blaue Kieselsteine hervorstanden.
David Leppington drehte sich zur Seite, um sich aus seinem Sitz
katapultieren zu können. Er hatte absolut keine Lust auf das, was er
vielleicht als nächstes tun musste, aber er konnte sich nicht zurücklehnen und zusehen, wie der alte Mann zu einem Punchingball wurde.
»Nimm sie schon!« Der Schläger hielt die Zigarette vor dem alten
Mann hoch. David Leppington konnte sehen, wie sich seine Muskeln in den Fäusten ballten; tätowierte Dolche tropften blutig.
»Die Fahrkarten nach Whitby. Ihre Fahrkarten nach Whitby bitte.«
Die Spannung löste sich; der alte Mann drehte sich zum Schaffner
um, ein bodenständig aussehender Mann um die fünfundvierzig.
»Ich hatte den jungen Mann gebeten, seine Zigarette auszumachen«,
sagte der alte Mann in ruhigem Tonfall.
29
»Der nächste Waggon ist für Raucher, mein Sohn«, bemerkte der
Schaffner locker.
»Ich hab meine Fahrkarte bezahlt«, grummelte der junge Mann.
»Ich hab mal ein Bild vom Eiffelturm gekauft, aber das gibt mir
noch lange nicht das Recht, dort hinzugehen und da zu wohnen.«
Der Schaffner hatte bei solchen Sachen Routine.
»Ich möchte aber eine rauchen.«
»Der nächste Waggon ist Raucherbereich.«
Der Schaffner machte seine Sache gut. Er war nicht provozierend, er
war nur hilfsbereit. Der junge Mann stand auf, nahm seinen Rucksack
von der Gepäckablage über seinem Kopf und stampfte zum nächsten
Waggon.
Nachdem er weg und der Schaffner weiter war, sagte der alte Mann
erleichtert zu den älteren Damen: »Entschuldigen sie die Störung.
Aber jemand musste etwas sagen.« Dann setzte er sich mit einem
selbstzufriedenen Lächeln und strahlte durchs Fenster hinaus.
3.
Die Hügel wurden höher und der Himmel dunkler. Der Zug ratterte langsamer vorwärts, als hätte er keine Lust weiterzufahren. Der
Fluss Lepping blitzte weiß auf, wenn er über Felsen schoss. Der junge
Mann kam noch zweimal in den Waggon und machte den alten
Mann an: »Deine Fresse gefällt mir nicht«, hatte er gesagt. Dann war
er wieder verschwunden, nur um fünf Minuten später zurückzukommen. »Ich merk‘ mir dein Gesicht. Ich hab‘s hier schon gespeichert.« Dabei tippte er sich mit dem Finger an die eigene, rasierte
Schläfe. Dann war er erneut in den Raucherwaggon gegangen.
Wenn er ein drittes Mal zurückkam, würde er dem alten Mann
eine kleben, dachte sich David. Was nun? Sollte er den Schaffner
warnen?
Bevor er einen Entschluss fassen konnte, sah er auf einmal alte
Ziegelhäuser entlang der Schienen, der Zug bremste und David
erkannte mit unglaublicher Erleichterung, dass sie Leppington erreicht hatten. Er ließ den alten Mann absichtlich zuerst aufstehen
und folgte ihm so, dass zumindest ein Hindernis zwischen dem Jungen und dem Alten wäre, wenn der Streithansel den Gang entlang
käme, mit der Absicht, den alten Knaben zusammenzutreten.
Er hätte sich keine Sorge machen brauchen – durchs Fenster sah
30
er den jungen Mann, wie er mit schnellen Schritten den Bahnsteig
entlang und aus dem Bahnhof hinauseilte.
David holte seine Habe aus der Gepäckablage und stieg aus dem
Zug – er war in Leppington, der Stadt, die seinen Namen trug. Er
blieb einen Moment stehen, um das Bahnhofsschild zu betrachten.
Leppington
Das Schild war eigentlich nur ein Brett, das man an einen Pfosten
genagelt hatte, wo Bahnsteig und Zaun aneinandergrenzten. Wenn
David ein Gefühl von Ehrfurcht erwartet hatte, sobald er auf dem
Land seiner Vorfahren angekommen war, wäre er gleich hier enttäuscht worden, erkannte er. Der Bahnhof von Leppington war
nichts als eine schäbige, rote Ziegelbaracke. Als er sich die Reisetasche über die Schulter warf und sich dem Ausgang zuwandte, sah er
eine große Krähe über den Dächern segeln. So schwarz, als wäre sie
aus Kohle geformt, landete sie auf dem Bahnhofsschild, direkt über
dem Wort Leppington. Für einen Augenblick hockte sie dort, und
obwohl sich lange gebogene Klauen in das Schild bohrten, flatterte
sie noch ein wenig – bis sie ihre Balance fand.
Als sie dort saß, mit weit ausgebreiteten Schwingen, fixierte sie
David und funkelnd helle Augen starrten ihn an. Es schien fast so,
als wäre sie absichtlich vom Himmel herabgekommen, um einen
zweiten Blick auf ihn zu werfen und sich von seiner Identität zu
überzeugen. Dann öffnete sich der gelbe Schnabel, um einen erstaunlich lauten Schrei auszustoßen. Nahezu gleichzeitig schlug die
Krähe kräftig mit den Flügeln, stark genug, um Papierfetzen auf dem
Bahnsteig aufzuwirbeln, und dann stieg der Vogel langsam empor,
über die Dächer, mit kräftigen langsamen Flügelschlägen, die die
Luft peitschten.
Nun, ich glaube, da ist wohl irgendein wiedergeborener Vorfahre
gekommen, um mich zu begrüßen, dachte David mit einem Lächeln.
Es war ein respektloser Gedanke. Zumindest hielt er ihn dafür. Gerade als er den Bahnhof verlassen wollte, sah er den großen schwarzen
Vogel hoch oben seine Kreise ziehen, und er wurde das Gefühl nicht
los, dass der Vogel ihn beobachtete.
Das war genauso sonderbar wie der Grund, aus dem der letzte Sohn
der Leppingtons in die Stadt seiner Vorfahren zurückgekehrt war.
31
KAPITEL 2
1.
David Leppington stand vor dem Bahnhof. Über ihm zog die
Krähe ihre Kreise und folgte jeder seiner Bewegungen mit funkelnden Augen.
Er dachte: Das ist dein Reich, David. LEPPINGTON. Die Stadt ist
in deinem Blut.
Oh nein, das ist sie nicht, dachte er leichthin. Mir war Leppington
in den letzten zwanzig Jahren ziemlich egal.
Leppington ist dein Königreich, regiere es weise und gut.
Aber wenn du den großen alten Drachen siehst, lauf um dein Leben und sei auf der Hut.
Er hatte den Reim ohne nachzudenken ergänzt, aber die Stimme
in seinem Kopf meldete sich wieder. Als sollte er sich an etwas erinnern, das ihm jemand vor langer Zeit ans Herz gelegt hatte: als wäre
es lebenswichtig, dass er sich daran erinnerte.
Nun ja, ich bin zu Hause, dachte er spöttisch. Wo sind meine Untertanen, um mich zu begrüßen?
Er stand am Eingang des Bahnhofs und ließ seinen Blick über
den Marktplatz schweifen. Seinen Untertanen schien es herzlich
egal zu sein, dass ihr König zurückgekehrt war. Sie lungerten vor
einem Dutzend Buden am Ende des Marktplatzes herum – viele
von ihnen waren offensichtlich nicht mehr die Jüngsten. An der
Längsseite des Platzes stand eine Reihe viktorianischer Gebäude
– eine Bücherei, ein paar Geschäfte und etwas, das sich »Das Badehaus« nannte. Doch sie alle überragte das Bahnhofshotel, ein vierstöckiges neugotisches Monstrum mit spitzen Türmchen an den
vier Ecken. Und noch darüber wölbte sich dieser hämatomartige
Himmel, übersäht mit schwarzen und grünen Wolken, und immer
noch war da die Krähe, mittlerweile so weit oben, dass sie nur noch
wie ein schwarzer Klecks aussah.
David ließ seinen Blick über die seltsame Ansammlung von Gebäuden wandern. Oberst Leppington mochte der Stadt mit dem
Schlachthaus und der Dosenfabrik vielleicht Wohlstand gebracht
haben, aber sicherlich keinen einheitlichen Baustil.
32
Der Schlachthof selbst schloss direkt an den Bahnhof an, und die
Gleise endeten direkt an seiner riesigen Ziegelmauer. Der Schlachthof war so groß, dass er seinen Schatten zu jeder Tageszeit auf den
Bahnhof und auch einen guten Teil der Stadt warf.
Bevor die Gleise den Bahnsteig erreichten, zweigte ein einzelner
Schienenstrang ab, führte hinter den Bahnhofsgebäuden vorbei und
verschwand durch riesige Tore in der gewaltigen Außenmauer des
Schlachthofs. Dort wurden zweifellos ganze Züge mit Kisten voller
Schafen und Rindern in Dosen beladen, um sie ins ganze Land zu
verfrachten. Wie viele tausend Kühe und Schafe mochten hier schon
ihr Leben im Fleischwolf beendet haben?
»Es ist nie ein Taxi da, wenn man eins braucht, nicht war?«
Es war der alte Mann, dem der Schlägertyp im Zug beinahe die
Fresse poliert hätte.
»Wissen Sie«, fuhr der Alte fort »wenn Sie kein Taxi brauchen,
stehen sie hier überall herum. Aber heute? Keins. Kein einziges. Von
einem Bus ganz zu schweigen. Schäbige Teile. Gefahren von Ignoranten ohne Manieren!«
Oh mein Gott, dachte David schweren Herzens. Jetzt quatscht
mich auch noch der Stadtlangweiler persönlich voll. Er mochte
dieses Kaff von Minute zu Minute weniger.
»Haben sie noch weit?«, fragte der Alte, während er David von
oben bis unten musterte.
»Nein. Nur bis zum Hotel dort drüben.«
»Ah, das Bahnhofshotel? Nicht schlecht, nicht schlecht. Obwohl –
natürlich nicht mehr so gut wie früher, als Bill Charnwood noch den
Laden schmiss. Seine Tochter gibt seitdem ihr Bestes. Aber Sie wissen ja, wie die jungen Mädchen heutzutage so sind. Junge Menschen
wollen nichts arbeiten und nichts wissen von Fleiß und Schweiß.
Ihr Gesicht kommt mir unbekannt vor, junger Mann. Sind sie zu
Besuch hier?«
»Äh, ja …« Erzähl ihm nichts, sonst wird er dich ausfragen und du
wirst ihn nie mehr los. »Nur ein Kurzbesuch«, sagte er beiläufig.
»Familie?«
»Yep.« David packte seinen Koffer, um zum Hotel hinüberzugehen. Es sah aus, als würde es bald zu regen anfangen. Eine gute Idee,
schoss es ihm durch den Kopf. »Es sieht nach Regen aus!« Er hoffte,
der alte Mann würde ihm zustimmen und sich endlich nach einem
Taxi umsehen.
33
»Wegen des seltsamen Himmels dort oben?« Der Alte nickte in
Richtung der Wolken. »Um diese Jahreszeit ganz normal. Und Regen bringen die nie.«
Verdammt. Er konnte dem Alten und seinem Geschwätz wieder
nicht entkommen.
»Wissen Sie, Sie erinnern mich an irgendjemanden …« Der alte
Mann knetete seine Unterlippe zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Lassen Sie mich überlegen.«
Arnold Schwarzenegger? Denzel Washington? Sharon Stone?
David war versucht, eine spöttische oder sogar unhöfliche Antwort zu geben.
Der Mann sah ihn sich genau an. »Ja, ja… Sie haben ein Gesicht,
das mir irgendwie sehr bekannt vorkommt. Liegt wohl an den Augen. Und ihre Größe. Sie sehen für einen jungen Mann bemerkenswert aus. Sind Sie bei der Polizei?«
»Nein… Ich bin Arzt«
»Arzt? Verdammt guter Beruf.«
Gottverdammter Mist!
David setzte ein höfliches Lächeln auf. Der Typ würde ihn noch
den ganzen Tag hier festnageln, um jeden Winkel seines Privatlebens
zu erforschen,
(Ich bevorzuge Nassrasur mit Bic Rasierklingen, meine Lieblingsfilme sind Der Flug des Phoenix (Jimmy Stewart ist unglaublich darin), Ein Leben in Leidenschaft und Tim Burtons Ed Wood. Nein,
ich hasse Daily Soaps, die in Krankenhäusern spielen – die Ärzte
sehen lächerlich aus. Ich stehe auf Essen, das nicht gut für mich ist
– Käsekuchen, indisches Fastfood, Schokolade, und im Bett trage
ich nichts außer Gummi, Felle und einem räuberischen Lächeln ...
Hoppla, hör mit den spöttischen Kommentaren auf, Doc.)
Davids Lächeln war nicht echt, und er musste feststellen, dass er
die letzte Frage beinahe überhört hätte.
»Mein Name?«
»Ja, wie heißen Sie nochmal …«, hakte der alte Mann nach.
»Leppington.«
Der Mann blinzelte plötzlich überrascht. Er war zum ersten Mal
sprachlos. Nicht einmal als es so ausgesehen hatte, als würde ihn
der Rowdy im Zug ungespitzt in den Boden schlagen, hatte er seine
Klappe gehalten. Aber nun blickte er David mit offenem Mund an
und trat einen Schritt zurück.
34
David dachte: Verdammt. Vielleicht ist mir wirklich etwas rausgerutscht – über Gummi und in Fellen schlafen … das wird dir eine Lehre
sein, alter Knabe.
»Ähm, Entschuldigung. Ich glaube, ich hab sie nicht richtig verstanden. Haben sie wirklich Leppington gesagt?«
»Ja«, antwortete David freundlich. »Leppington. Wie die Stadt.
Ich glaube das liegt daran, dass –«
Er kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu beenden. Der alte Mann
murmelte ein paar Worte – eines davon klang wie »Taxi« – und trollte
sich in Richtung Innenstadt. Und jedes Mal, wenn er einen Blick zurück auf David warf, wirkte dieser Blick alles andere als freundlich.
Bist du dir sicher, dass du nichts Unbedachtes rausgelassen hast,
David? Wie auch immer, es hatte funktioniert. Der Mann war verschwunden.
Von weit oben hörte man den durchdringenden Schrei der Krähe.
Sie glitt direkt über ihm dahin, die Schwingen ausgebreitet, ohne einen Flügelschlag. Und erneut hatte David das unheimliche Gefühl,
dass ihn jemand beobachtete.
2.
Da es bereits auf Mittag zuging und der Alte endlich weg war, verspürte David Leppington Hunger. Bei der Zimmerreservierung
hatte man ihm gesagt, dass er frühestens am Nachmittag einchecken
konnte, und da er also noch mindestens eine Stunde Zeit totschlagen musste, steuerte er auf eine Tür im Bahnhofsgebäude zu, über
der das Schild »Bahnhofsgaststätte« hing.
Die Tatsache, dass er den alten Sack einfach nur mithilfe seines
Namens vertrieben hatte, amüsierte ihn.
Los, dachte er, geh in die Kneipe und verkünde: Mein Name ist
Leppington. Und dann schau, ob derselbe Trick zweimal funktioniert. Schmunzelnd näherte er sich der Tür und stellte sich vor, wie
allein sein Name alte Damen aus Angst aufkreischen ließ und sie aus
der Kneipe vertrieb.
Sperrt eure Töchter ein, Leppington ist wieder da!
Mit einem breiten Grinsen betrat er das leere Lokal, setzte sein
ganz normales Gesicht auf, bestellte ein Käsesandwich, ein Bakewell-Törtchen und Kaffee und ging an einen Tisch, um zu essen.
35
KAPITEL 3
Der Himmel färbte sich braun und grün. Schäbige Häuser ringsum.
Eines davon groß, mit spitzen Türmchen wie eine Burg. Die Stadt
bedeutete ihm nichts. Er hasste sie. Er hasste den alten Penner im
Zug, der sich über ihn beschwert hatte. Alles was er wollte, war in
Ruhe eine rauchen.
Keiner sollte ihm mehr vorschreiben, was er zu tun hatte.
Keiner sollte ihm mehr vorschreiben, was er zu reden hatte.
Keiner sollte ihm mehr vorschreiben, was er zu essen hatte.
Vorschriften hatte er im Knast schon genug gehabt.
Zwölf Monate, nur weil er so ‘ner nervigen kleinen Ratte eine
Abreibung verpasst hatte. Ein ganz normaler Arzt hatte den Kerl
behandelt, er war nicht mal in die Nähe eines Krankenhauses gekommen. Aber die Bullen hatten nur darauf gewartet, dass er einen
Fehler machte, die verlogenen Bastarde. Er wünschte sich, dass gerade jetzt so ein kleiner schmieriger Bulle aus der Bahnhofskneipe
herauskäme. Er würde ihm eine reinhauen – Zack! Zack! Zack! Und
der Bulle würde Blut spucken und an der Wand zusammensacken.
Hasta la vista, Baby!
Er überlegte, ob er auf die alte Schwuchtel warten sollte, die sich
im Zug über die Zigarette beschwert hatte.
Warten. Vor dem Bahnhof.
Zack! Zack! Zack!
Er malte sich aus, wie der alte Penner am Boden rumkoch und
seine falschen Zähne ausspuckte. Und dann zaaaack! Noch einen
Tritt in seinen Wanst.
Ende und Aus, Opa.
Hier hast du deine Flügel und die Harfe. Gute Nacht, mein Süßer!
Was tat er eigentlich hier, in dieser verdammten Stadt?
Leppington. Bis letzte Woche hatte er noch nie von ihr gehört.
Er schlug sich so durch, seit er aus dem Knast raus war. Klaute ein
paar Besoffenen in öffentlichen Scheißhäusern ihre Geldbeutel. Aus
einem oder zwei Supermärkten war er einfach eiskalt mit einer Flasche Wodka in jeder Hand rausmarschiert – mit einer davon nietete
er dann den Kaufhausdetektiv um. Zack. Bumm. Peng. Natürlich
ließ er den Bastard in einer Lache aus Blut und Wodka liegen.
36
Dann hörte er den Namen Leppington.
Er bohrte sich in sein Gehirn.
Leppington. Leppington. Leppington. Leppington.
Der beschissene Name kreiste in seinem Kopf, als wenn eine Fliege
in seinem Schädel gefangen wäre …
Leppington. Leppington. Leppington.
Er konnte nicht mehr schlafen.
Leppington. Leppington.
In einer Pissrinne in Goole hatte er eine Maus entdeckt und dem
kleinen Mistvieh die Lichter ausgeblasen. »Leppington! Leppington!
Lepp…«, hatte sie gequiekt, bevor sein schwerer Stiefel herabkrachte
und ihren Kopf zermatschte.
Warum Leppington?
Warum hatte sich dieser Name so in seinem Hirn festgefressen?
Warum war er hier?
Er wusste es nicht. Verdammte Scheiße.
Leppington war nur irgendein Ort auf der Landkarte, und irgendwo musste er ja hin, oder? Man konnte nicht einfach mal eben aus
dem verdammten Universum hinausspringen und ein bescheuertes
Loch hinterlassen. Leppington war so gut wie jeder andere Ort, also
konnte er ruhig ein wenig hierbleiben.
Er verließ den Bahnhof, ging zwischen den Marktständen hindurch und ignorierte dabei die Marktweiber, als wären sie lästige
Insekten. Es war mehr ein Stolzieren als ein Gehen.
Immer, wenn er so ging, war es, als könnte er wie ein Panzer – einfach so – durch eine Wand brechen; Ziegel und Mörtelstaub flogen
und er ging einfach hindurch – eine Maschine, die keiner aufhalten
konnte. Er war groß, er war unbesiegbar und er hatte Muskeln ohne
Ende. Sein Haar war abrasiert, um der Welt all die Narben zu zeigen,
die er in zweiundzwanzig Jahren gesammelt hatte. Seine erste und
auch seine beste war die, die von seinem linken Auge zum Ohr verlief – er war damals gerade mal eine Woche alt gewesen, ein kleines
verdammtes Baby.
Sie ließ Menschen zweimal hingucken – er war das verdammte
Monster Frankensteins: Narbig, schön und schrecklich zugleich.
Also geht mir verdammt noch mal aus dem Weg, oder ich prügle
die Scheiße aus euch raus.
Okay ... das ist also Leppington.
Er würde irgendwo anfangen müssen.
37
Und er würde diese scheiß Stadt zu seiner eigenen machen. Sie war
wie eine große fette Titte, und er würde sie aussaugen und dann …
dann würde er weiterziehen, wie immer, und sie leer zurücklassen.
»Titte!«
Er spuckte einem alten Mann mit Hut das Wort ins Gesicht.
Der Mann blickte ihn verwirrt an.
»Titte!«
War das derselbe alte Knacker, der ihn im Zug angemault hatte?
Vielleicht ein paar schnelle Schläge und ihn liegen lassen, wenn er
sich in die Hosen pisste und auf die Straße kotzte.
Nein!
Er hatte zu tun.
Er fing in den Pubs an, nach Leuten zu suchen. Ohne eine Spur
von Furcht stolzierte er in Bars. Sah sich um. Sah Leuten direkt in
die Augen. Wenn er erkannte, dass sie nicht waren, was er suchte,
stolzierte er wieder hinaus.
Irgendwann scheiß' ich auf die verdammte Tür und geh‘ einfach direkt
durch die Wand.
Er versuchte es in Kaffees, heruntergekommenen Gassen. Er suchte
nicht nach bestimmten Menschen, sondern nach einem bestimmten
Typ von Menschen. Wenn er sie gefunden hatte, würde er es wissen.
Genauso, wie Alligatoren ihre eigene Art erkannten.
Er fand sie schließlich auf einem brachliegenden Grundstück
hinter der Kirche. Vier Versager, die sich gegenseitig eine Dose zukickten. Sie waren zugedröhnt – vermutlich Klebstoff oder andere
Lösungsmittel – und johlten blöde herum.
So wie die Schwuchteln im Block C. Er hatte mal einen in der
Dusche erwischt. Die Augen der Schwuchtel waren groß geworden.
Vielleicht ein wenig Bussi-Bussi mit dem tätowierten Gorilla, der
gewaltige Muskeln hatte?
Möglicherweise hast du dich verschätzt, Schwanzlutscher.
Er hatte die Schwuchtel so hart an die Wand geworfen, dass etliche Fließen zerbrachen. Das Wasser aus der Dusche mischte sich mit
dem Blut am Boden, sodass die Tropfen aussahen wie rote Rosen,
die sich wunderschön in rauchiges Rosa verwandelten. Dann, ganz
langsam, verblühten sie um seine nackten Füße herum und ließen
ihn in einer Lache Wasser zurück, durchzogen von rosa, hell- und
blutroten Schlieren.
Es sah fantastisch aus, wie in einem Traum.
38
Heute, in Leppington, starrte er die Kids an, die immer noch die
Dose herumkickten. Sie waren vielleicht kurz vor zwanzig.
»Hey, warum zur Hölle gaffst du uns so an?«
Das hatten sie gesagt.
Oder etwas Ähnliches, das ihn dazu brachte, loszuschlagen.
Der Erste ging zu Boden und hielt sich seine blutende Nase.
Der Zweite klatschte auf den Platz, als wäre er tot – der Haken
hatte alles zerschmettert, bis auf das Genick vielleicht, und der Dritte
wollte gerade einen Schlag anbringen.
… aber er bewegte sich in Zeitlupe; warum bewegen sich Leute
in Zeitlupe?
Zack! Zack!
Der Milchbubi brüllte wie abgestochen und klappte zusammen.
Der Vierte zog ein Messer, aber nicht einmal ein Maschinengewehr hätte ihn jetzt noch retten können. Ein harter Kopfstoß holte
ihn von den Beinen.
Er widerstand der Versuchung, einen Tritt ins Gesicht folgen zu
lassen.
Er war nicht nach Leppington gekommen, um zu töten.
Nein.
Er war hier, um ihnen etwas beizubringen.
39
KAPITEL 4
1.
Bernice Mochardi machte ihre Mittagspause in der Küche des Bauernhofs, auf dem sie arbeitete. Ihr Essen bestand heute lediglich aus
einer Scheibe Toast und einer Tasse Earl Grey.
Sie hielt sich vor, dass sie ihre Linie ruinieren würde, wenn sie zu
oft im Peking Garden aß, dem einzigen chinesischen Restaurant in
Leppington. Aber die Wahrheit war, dass sie zurzeit einfach keinen
Appetit hatte; tatsächlich besaß sie eine Figur, die es mit jedem Model
aufnehmen konnte.
Und der Grund dafür war das Videoband, sagte sie sich selbst.
Die Sache brennt dir auf den Nägeln, nicht wahr Bernice?
Sie stellte den Teekessel flugs auf den Herd und zündete das Gas
an.
Du kriegst den Mann aus dem Video einfach nicht aus dem Kopf.
Er hat (oder hatte?) ein so nettes Gesicht; seine Stimme verursachte
ihr Gänsehaut. Was war ihm im Keller zugestoßen?
Bernice ließ einen Teebeutel in ihre Tasse gleiten.
Er war voller Schürfwunden gewesen, und obwohl kein Laut über
seine Lippen kam, so hatte er doch geschrien. Sein Gesicht war verzerrt, eine Fratze des Grauens.
Du solltest die Kassette nehmen und in einen der Mülleimer am
Marktplatz werfen. Benzin drüber gießen und das Mistding verbrennen.
Dieses Band stiehlt dir noch Seele. Und dann vergiss den Namen
Mike Stroud. Komplett und endgültig. Es ist ja nicht so, als wärst du
ihm jemals begegnet.
»Schau die Milch nicht so finster an, Süße, sonst wird sie sauer.«
»Oh, Mavis. Ich bin gerade dabei, Tee zu machen.« Bernice schob
die morbiden Gedanken beiseite. »Willst du auch einen?«
»Nur wenn die Milch trotz deines Gesichtsausdrucks nicht umgekippt ist«, sagte Mavis gutmütig. Sie war um die sechzig, mit einem
runden Gesicht und einer pinkfarbenen Brille. »Ich gebe ein wenig
Milch in die Tassen und du plünderst derweil die Keksdose, okay?«
»Ich nehme ein Stück Zitrone in meinen Tee. Mach dir keine
Mühe, ich schneide sie selbst runter.«
40
»Eine Zitronenscheibe im Tee? Ach, du und dein neumodischer
Städterkram.«
Mavis scherzte nur. Ihr gefiel es, bei Bernice das Landei zu spielen
und ihre Klamotten zu begaffen, bevor sie in den Overall gesteckt
wurde, der alle Arbeiter am Hof aussehen ließ wie eine Krankenhaustheatergruppe.
»Oh«, staunte sie, »das ist ja eine echte Seidenbluse! Und der blaue
Nagellack. Mr. Thomas wird sich schwer tun, die Finger von dir zu
lassen!«
»Ich hab sie nur für Mr. Thomas lackiert.« Bernice grinste teuflisch. »Ich möchte ihn betören!«
Beide brachen in schallendes Gelächter aus. Mr. Thomas, der Besitzer, war ungefähr siebzig und ein mürrischer Methodist. Er hatte
einmal einen der Arbeiter eiskalt nach Hause geschickt, weil er Stein
und Bein schwor, der Mann hätte eine Bierfahne.
Nun saßen sie also in der Küche des Hofs, einem sauberen Raum
mit strahlend weißen Fliesen und glitzerndem Edelstahl, und machten Mittag.
Mavis nahm einen Mikrowelleneintopf aus seiner Verpackung.
Als Bernice Mochardi ihren Freunden erzählt hatte, dass sie Arbeit
auf einem Bauernhof gefunden hatte, waren sie begeistert gewesen.
Während sie in einer Pizzeria in der Canal Street in Manchester saßen, hatten sie ihre Freunde mit Fragen bombardiert, weil sie alles
ganz genau wissen wollten: Ob sie den ganzen Tag durch Mist stapfte,
inklusive dem obligatorischem kariertem Hemd und einem Strohhalm
zwischen den Zähnen, dabei gelegentlich den im Weg rumstehenden
Säuen einen Klaps aufs Hinterteil gab und dabei murmelte: »Na,
welches kleine Schweinchen bringen wir denn heute zum Markt?«
Nachdem sie ihnen dann erzählt hatte, was für ein Bauernhof das
wirklich war, trauten sie ihren Ohren nicht.
»Blutegel?«
»Ja, eine Farm, die Blutegel züchtet.«
»Aber warum in aller Welt züchtet jemand Blutegel?«, hatten ihre
Freunde voller Entsetzen gefragt.
»Nun, was glaubt ihr, was diese schwarzen Teile auf eurer Pizza
sind?«
Sie schrien auf. Rita spuckte alles, was sie im Mund hatte, in eine
Serviette und Ariel kippte ein halbes Glas Bier in einem Zug hinunter.
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Bernice lachte. »Das sind schwarze Oliven, ihr Trottel. Blutegel
sind der neueste Schrei in der Medizin. Sie werden verwendet, um
Infektionen in Wunden vorzubeugen, den Blutkreislauf anzukurbeln, solche Dinge eben.«
»Aber … Blutegel?«
»Aber Blutegel …«, gab sie spöttisch zurück. »Immer noch besser,
als für ein paar Kröten in diesem Café zu arbeiten. Wenn ich noch
eines dieser Standardfrühstücks kochen muss, drehe ich durch.«
Das Gespräch begann sich um Jungs zu drehen, und Ariel und
Rita hatten genug von der Pizza und bestellten sich schnell ein Eis.
Bernice war nun schon zwei Monate auf der Blutegelfarm. Ihr gefiel der Job. Sie musste die Blutegel in kleine, feuchte Transportboxen packen, damit sie an Krankenhäuser im ganzen Land verschickt
werden konnten.
Wenn ein Patient eine entzündete Wunde an einem Finger, Zeh
oder sonstwo hat, wird ein Egel, übrigens ein Verwandter des gewöhnlichen Regenwurms, kurz nach der Operation an der infektiösen Stelle angesetzt. Dort frisst er sich mit seinen drei winzigen
Zähnen, Gottseidank schmerzfrei, durch die Haut und saugt sich
freudig mit altem Blut voll – wodurch in der Folge frisches sauerstoffreiches Blut zur Wunde geführt wird.
Am besten gefielen ihr die Amazonasegel. Sie sahen aus wie riesige
Raupen und schienen es zu genießen, wenn man ihre schwabbeligen
Rücken sanft streichelte. Sie war von sich selbst überrascht, dass sie
gar nicht so zimperlich war, wie sie gedacht hatte.
Und sie mochte Mavis, die ihr gerade von einem Besuch im Reisebüro erzählte. »Ich hab für Pete und mich eine Tour nach Florida
gebucht. Volles Programm: Disneyland, Orlando, das Space Centre,
Miami.«
Während sie sprach, musste Bernice wieder an das Video denken.
Was war mit dem Mann geschehen? Was hatte er in dem Hotelkorridor gesehen?
Mr. Morrow, augenlos und mit Friedhofslippen …
Sie verscheuchte diesen Gedanken.
Er hatte irgendetwas gesehen. Es hatte ihn aus seinem Zimmer
gezerrt. Sie selbst hatte auf dem Bildschirm gesehen, dass er wie ein
Irrer gegen irgendetwas gekämpft hatte.
Aber gegen was?
Und wer hatte den Kampf gefilmt?
42
Dann überkam sie eine Idee.
Hey, nach der Arbeit gehe ich ins im Hotel und dann in den Keller
und sehe nach, was sich dort verbirgt.
2.
Jesus begegnete zwei Besessenen als er durch Gadara reiste. Sie waren so
grimmig, dass niemand an ihnen vorbeigehen konnte. Die Besessenen
schrien: »Was hast du bei uns zu suchen, Sohn Gottes? Bist Du gekommen, um uns schon vor unserem Tod zu quälen?«
In der Nähe graste eine Herde Schweine und Jesus verbannte die Seelen
der Besessenen in die Schweine. Daraufhin stürzten sich die Schweine
über die Klippen ins Meer und ertranken jämmerlich.
Jason Morrow kannte die Geschichte gut. Er dachte oft an sie,
wenn die Schweine ins Schlachthaus getrieben wurden und ihr Quieken von den weiß gefliesten Wänden zurückgeworfen wurde. Jason
Morrow nahm schon gar keine Notiz mehr davon, aber er lächelte
jedes Mal, wenn er sah, dass Besucher wegen dem furchtbar lauten
Quieken der Schweine das Gesicht verzogen. Es ließ den Klang einer Bohrmaschine, die sich in eine Ziegelwand fraß, so angenehm
erscheinen wie das Plätschern eines Bächleins im Garten.
Die Schweine trotteten zur Schlachtbank, die rosafarbenen Körper aufgedunsen von der wochenlangen Mast. Jason Morrow hakte
einfach die Kästchen in seiner Liste ab, während die Schlachter Kontakte an beiden Seiten der Schweineköpfe festmachten. Es gab keine
Blitze, keinen Rauch, keinen Lärm. Der Stromstoß jagte von einem
Kontakt zum anderen und verbrannte das Gehirn zu Asche. Die
Schweinchen kippten um, zuckten noch mal, lagen dann bewusstlos
da und warteten auf den Gnadenstoß.
Jason Morrow ging von Schwein zu Schwein und nickte den Männern mit den rasiermesserscharfen Äxten zu, nachdem er sich davon
überzeugt hatte, dass das Schwein wirklich betäubt war. Er konnte
nicht behaupten, dass ihm sein Beruf Spaß machte – »Ich arbeite,
um zu leben und lebe nicht, um zu arbeiten«, hatte er seiner Frau
erklärt, als die sich beklagte, dass er nicht mehr Überstunden schob.
Aber an den Schlachttagen ging er dann doch leichtfüßig durch die
Reihen und summte irgendwelche Popsongs vor sich hin, während
er zusah, wie die elektrischen Kontakte an einem weiteren, fetten
Schweinekopf befestigt wurden.
43
Klatsch. Ein weiteres Schwein ging zu Boden und zappelte noch
ein wenig mit seinen dreckigen Beinen. Seine Schweinsäuglein,
schwarz wie Oliven, traten glasig hervor. Jason nickte Jacob zu, der
seinen blutverschmierten Stiefel auf den Kopf des Tieres gestellt hatte
und nun die Axt über dem Genick des Schweins anhob.
Hätten Äxte die dämonenbesessenen Schweine, welche Jesus
erfolgreich losgeworden war, auch getötet? Er glaubte schon. Die
Äxte glitzerten im Neonlicht und waren scharf wie ein verdammtes
Skalpell. Ein einziger Schlag durchtrennte Luftröhre und Hauptschlagader. Blut floss in den steinernen Kanäle im Boden ab und
in Abflüsse. Es klang, als würden diese Abflüsse das Blut aufsaugen,
wie durstige Mäuler, die jeden Tropfen Blut in sich hineinschlürften, den sie kriegen konnten. Wo das Blut danach hinlief, wusste
er nicht, aber es bedurfte keiner besonderen Vorstellungskraft, um
sich auszumalen, wie es durch die viktorianische Kanalisation unter
Leppingtons Straßen floss, eine Blut-Flut, die eine rosa Welle vor
sich herschob, bis nach Gott-weiß-wohin.
Die Schweine kamen herein wie – wie Lämmer zur Schlachtbank.
Jason grinste in sich hinein. Äxte glitzernden, als sie hochgehoben
wurden und wieder hinabsausten. Schweine, die auf ihr Ende warteten, das sie in Form eines elektrischen Schlags traf, schrien sich die
Lunge heraus. Dieser Klang, den die Wände hundertfach zurückwarfen, machte jeden Menschen auf die Dauer taub.
Jason Marrow zählte die Schweine. Hundertzwanzig. Das war eine
Menge Speck. Sein Magen knurrte vor Hunger. In zehn Minuten
konnte er sich eine Tasse Tee und – ja warum nicht? – ein Specksandwich gönnen. Er hakte ein weiteres Kästchen ab und setzte seinen
Namen unter das Formular.
Während er von Schwein zu Schwein ging und den Männern, die
mit erhobenen Äxten warteten, zunickte, ließ er im Kopf die Geschichte von der Begegnung Jesu mit den Besessenen vorüberziehen.
Er stellte sich heiße, staubige Hügel vor. Die Gräber, in denen die
Besessenen hausten, waren sicherlich Tunnel, die man in eine Klippe
hineingetrieben hatte. Er sah die Schweine quiekend ins Meer stürzen, sah sie noch mit ihren Stummelbeinchen strampeln, bevor sie
ertranken und die Dämonen mit sich nahmen.
Hasta la vista, Baby.
Er wusste nicht, warum ihn gerade diese Geschichte mit Befriedigung erfüllte. Zahllose Varianten davon fanden ihren Weg in
44
seinen Kopf. Manchmal verwandelten sich die Schweineköpfe in
Menschenköpfe, voller Schmerzen, mit hervorquellenden Augen
und Schweinsnasen, wenn die Dämonen in ihre Körper verbannt
wurden …
Er nickte Ben Starkey zu, der daraufhin seine Axt hob. Sie sauste
herab. Jason konnte das warme Blut sogar durch den Gummi seiner
Wellington-Stiefel spüren.
Wenn man in diesem Moment Jason Morrow erzählt hätte, dass
sich hundert Jahre zuvor, genau am selben Tag, sein Urgroßvater,
William Morrow, im Zimmer Nummer 406 im obersten Stock des
Bahnhofshotels mit Gas das Leben genommen hatte – er wäre sicherlich überrascht gewesen.
Seine Überraschung wäre noch größer gewesen, wenn er die Unterschrift von Urgroßvater Morrow am Ende des Abschiedsbriefs erblick
hätte, denn er hätte die schaurige Ähnlichkeit mit seiner eigenen Unterschrift darin entdeckt, inklusive der Schnörkel und Verzierungen.
Obwohl es ihn überrascht hätte, er hätte es geglaubt.
Aber wenn jemand Jason Morrow erzählt hätte, dass er morgen
um diese Uhrzeit ebenfalls mausetot sein würde – tot wie die noch
zuckenden und blutenden Schweine zu seinen Füßen – er hätte ihm
nicht geglaubt.
Aber beides waren Tatsachen.
Er nickte erneut. Eine Axt sauste herab.
Jason Morrow machte einen weiteren Schritt und noch einen.
Und die Schweine verstummten, eines nach dem anderen.
3.
Dr. David Leppington nippte an seinem Kaffee und überlegte, ob er
sich noch ein weiteres Stück Kuchen bei dem Mädchen hinter dem
Tresen bestellen sollte. Es erschien ihm unglaublich gierig – das Stück
Bakewellkuchen, das er gerade gegessen hatte, war riesig gewesen –
aber nun ergriff ihn die Urlaubsstimmung endgültig, und er war bereit, aus seinen Ferien das Beste zu machen.
Ich könnte einfach zum Tresen gehen und das Mädchen – hübsch,
blond, rot lackierte Fingernägel – fragen, ob sie mir irgendwelche
guten Restaurants empfehlen kann, ihr zuhören, bis sie ein paar aufgezählt hat, und sie danach zum Essen einladen. Mach schon David,
hörte er eine Stimme in sich. Gib dir einen Ruck.
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Er war sprichwörtlich frei wie ein Vogel, seit er sich von Sarah
getrennt hatte. Nun, es war weniger eine Trennung gewesen, sie hatten sich nur langsam Stück für Stück voneinander entfernt, bis sie
beide an dem Punkt angelangt waren, an dem ihnen klar wurde, dass
es für beide nicht mehr so weitergehen konnte. Wenigstens war es
eine schmerzlose Trennung für sie beide – vor allem, da sie ja nicht
zusammengelebt hatten.
Er beobachtete die blonde Bedienung, wie sie im Café herumging,
die Tische abwischte und Speisekarten und Zuckerstreuer zurechtrückte. Er überlegte gerade, wie er sie am besten ansprechen konnte,
als er das Glitzern von Diamanten an ihrem linken Ringfinger entdeckte. Verdammt!, dachte er. Naja, er hatte noch zwei Wochen in
Leppington vor sich – falls die Stadt irgendetwas Interessantes für
ihn bereithielt. Er grübelte darüber nach, ob er nicht schon in ein
paar Tagen zur Küste weiterfahren sollte.
Er trank einen weiteren Schluck Kaffee. Durchs Fenster konnte er
die aufgetürmten Wolken über den vier Türmen des Bahnhofshotels
hängen sehen. Die Krähe war verschwunden.
Noch zwanzig Minuten, und er könnte im Hotel einchecken. Die
Verlockung eines heißen Bades war groß nach der langen Zugfahrt
von Liverpool hierher. Da er noch etwas Zeit totschlagen musste,
zog er einen der beiden Briefe aus der Tasche. Er war von Dr. Pat
Ferman, einem der beiden Allgemeinärzte der Stadt; er hatte David
gebeten, darüber nachzudenken, seine Praxis zu übernehmen, wenn
er sich in sechs Monaten in den Ruhestand verabschiedete. Ich bin
mir sicher, dass Ihnen die Arbeit in Leppington gefallen würde, hieß es
in dem Brief, und Sie könnten sowohl beruflich als auch gesellschaftlich viel erreichen, gerade da Ihre Familie schon seit Jahrhunderten mit
Leppington verbunden ist … Der Brief war in freundlichem Plauderton
gehalten und erwähnte Davids Onkel, George Leppington, seit 30
Jahren ein guter Freund und Nachbar von Dr. Pat Ferman – so stand
es zumindest in dem Brief. David hatte seinen Onkel nicht mehr gesehen, seit er im Alter von sechs Jahren aus der Stadt weggezogen war.
Sollte er das Angebot annehmen und Allgemeinarzt in dem kleinen Kaff, aus dem seine Vorfahren stammten, zu werden? Er wusste
es wirklich nicht. Die Vorstellung, in einem Landrover durch die
Straßen zu kurven, war irgendwie durchaus reizvoll. Er würde nicht
mehr Tag für Tag in einem langweiligen Büro im Kreiskrankenhaus
sitzen, wo nichts weiter von ihm erwartet wurde, als die Diagnose
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eines anderen Arztes entweder abzulehnen oder zu bestätigen, oder
irgendwelchen Schlipsträgern zu erklären, dass weniger Schnaps und
mehr Bewegung nicht schaden könnte. Dabei konnte man sich genauso gut ans Meer stellen und der See erklären, dass die Flut heute
draußen bleiben soll. Die See würde vielleicht sogar eher darauf hören als diese Anzugträger mit ihrer vielen Kohle, die danach schrie,
in teuren Restaurants verpulvert zu werden.
Ein älteres Pärchen kam in das Kaffee. Sie bestellten Gebäck, heiße
Schokolade und setzten sich an einen Fenstertisch. Er bemerkte, wie
sie in seine Richtung starrten. (Sieh nur Ethel. Es ist ein Fremder in
der Stadt! – Nein, man musste nicht Gedanken lesen können, um zu
wissen, was sie dachten.)
David warf einen Blick auf die Uhr über dem Tresen. Zehn Minuten noch. Als er den Brief zurück in seine Tasche steckte, streifte
ein anderer Umschlag seine Finger, ganz so, als würde er versuchen,
Davids Aufmerksamkeit zu erregen.
Er hatte den Brief bis jetzt noch nicht geöffnet, obwohl er Katrinas
Handschrift gut genug kannte, um zu wissen, von wem er war.
Ok, David, du bist entspannt, bist vom Kopf her so weit, dass du damit jetzt umgehen kannst; mach schon, lies das verdammte Ding; sieh‘s
dir an und fertig.
Er zog den weißen Umschlag aus seiner Tasche und riss ihn schnell
auf.
Schau, David, das war vollkommen schmerzlos, oder? Lies ihn, zerreiß ihn und wirf ihn in den Mülleimer in der Ecke.
Aber er wusste, er würde es nicht tun. Er würde ihn Dutzende
Male lesen, bevor er ihn wegwarf.
Er zog den Brief aus dem Umschlag und in dem Moment, als er
ihn öffnete, wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er hätte es
noch hinausschieben sollen – soweit, bis du dich mit ein paar Bierchen
betäubt hast, dachte er plötzlich wütend. Du musst das nicht machen.
Du hast diese Frau seit fünf Jahren nicht mehr gesehen.
Er öffnete den Brief. Das erste, was ihm ins Auge fiel, war die Fliege
die mit Tesa über die Worte »Liebster David« geklebt war. Die Fliege
sah seltsam unförmig unter dem Klebeband aus. Sie hatte keine Flügel. Sie waren nicht herausgerissen, sondern mit einer Schere sorgfältig abgeschnitten worden. Er schob den Brief zurück in den Umschlag
und stopfte ihn wieder in seine Tasche.
Bitterkeit stieg in ihm hoch.
47
4.
Sie drängten durch die tiefsten Tunnel nach oben. Sie waren hungrig,
suchten nach Futter. Sie bewegten sich schnell, zielstrebig, kletterten
die Gänge aufwärts, die sich unter der Oberfläche dahinschlängelten,
und obwohl sie sich durch vollkommene Dunkelheit bewegten, leiteten sie uralte Instinkte, die tief in ihren Genen verankert waren.
Als sie ihr Ziel erreicht hatten, warteten sie, die Gesichter nach
oben gewandt, wissend, dass gleich die Flut kommen würde. Spannung lag in der Luft, und ihre Körper zitterten vor Aufregung.
Dann kam es, ein Sturzbach donnerte in Hunderte offener Mäuler.
Das plätschernde Geräusch füllte die Höhle.
Sie hielten Mahl. Ihre Nahrung war warm, nass und süßlich. Bei
Licht hätte man die Farbe gesehen: Rot. Sehr rot.
5.
Zack! Die vier Kasper lagen vor ihm im Gras zu seinen Füßen. Ging
einfach, oder?
Der Mann strich sich über seinen kahlrasierten Schädel. Die Narbe
von seinem Augenwinkel bis zum Ohr sah aus wie mit rotem Lippenstift gezogen und pulsierte. Das tat sie immer, wenn er Ungeziefer
zertrat. Er hatte sich die Knöchel seiner rechten Hand aufgerissen, als
er einem der Versager in sein Babygesicht geschlagen hatte, aber er
spürte es nicht. Er wischte seine blutigen Fäuste an Brennnesseln ab
und spürte auch jetzt nichts.
»Sperrt die Lauscher auf«, sagte er zu den Halbstarken, die am
Boden lagen, stöhnten und Blut spuckten. »Ab jetzt macht ihr, was
ich euch sage. Kapiert?«
»Oooh ... Scheiße.«
Zack!
Er haute dem, der vor ihm herumkroch, nochmal eine rein.
»Ihr werdet tun, was ich euch sage – habt ihr das gefressen?«
»Fick dich«, blubberte einer – Spucke, Blut und Sabber in seinem
Mund.
Zack! »Ich bin ...« Zack! »... der Boss!« Zack! »Habt ihr das endlich
geschnallt?« Zack, zack!
Er zog die Kids auf die Beine und watschte sie noch einmal ordent48
lich ab. Nachdem er ihnen fünf Minuten tüchtig aufs Maul gehauen
hatte, schienen sie langsam zu verstehen, wer hier den Ton angab.
»Ohren auf. Runter auf Knie mit euch. Und da bleibt ihr, bis ich
euch erlaube, dass ihr euch wieder bewegt. Kapiert?«
Köpfe nickten.
»Also, auf was wartet ihr noch?«
Die Vier, die sich immer noch Blut und Tränen aus dem Gesicht
wischten, gingen langsam auf die Knie – wie vor ihrem König.
Die Narbe im Gesicht des jungen Mannes pulsierte stärker – wie
wenn Strom von seinem Auge zum Ohr schießen würde.
Er fühlte sich gut; er fühlte sich stark wie ein Monster, das direkt
aus der Hölle kam.
»Ich sag euch das nur einmal: Ich bin hier der, der den Ton angibt,
klar?«
Die Vier sahen demütig hoch. Und alle vier nickten gehorsam.
Scheiße, ist das geil, dachte er zufrieden. Endlich zurück im Geschäft.
6
Electra Charnwood sperrte die Tür zum Keller des Bahnhofshotels
auf.
»Electra? Sie können sich bei meiner Mutter, die Bücher über alles liebte, für diesen netten Namen bedanken«, sagte sie jedes Mal,
wenn jemand danach fragte – und grinste dabei säuerlich. Sie war
35, ziemlich groß, attraktiv, und das schwarze Haar reichte ihr bis
zu den Schultern. Electra fühlte sich gleich einem Kuckuckskind in
fremdem Nest geboren. Und das schien mehr als nur pure Einbildung ihrerseits zu sein; sie hatte niemals das Gefühl gehabt, wirklich
hierher zu gehören, und sie schloss die Möglichkeit nicht aus, dass
ihre Eltern sie in einem Weidenkörbchen im Fluss Lepping gefunden hatten. Möglicherweise lag sie mit dieser Vermutung gar nicht
so falsch: Ihre dunklen Haare – fast blauschwarz – und ihre markante Nase hatten etwas Semitisches, das sie aussehen ließ wie eine
Ägyptische Prinzessin. Sie besaß in der Tat wenig Ähnlichkeit mit
ihren Eltern – grauen Mäusen mit Sommersprossen, die alles waren,
nur nicht groß.
Electra war beileibe nicht gertenschlank, sondern eher knochig,
und mancher Bierfahrer piff ihr anerkennend hinterher, wenn sie
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Bierfässer in den Lift zum Keller wuchtete. Wie zum Beispiel, wenn
ihr besoffener, ewig von Kreuzschmerzen geplagter Hausmeister
wieder einmal nicht zur Arbeit erschienen war – wie so häufig am
Montag. (»Muss eine Erkältung sein«, schnieft er dann ins Telefon;
oder: »Ich glaube, mich hat die Migräne erwischt.« Oder: »Ist schon
wieder der blöde Weisheitszahn, Sie wissen ja gar nicht, was ich für
Schmerzen habe.«) Einmal war sie so angefressen, als er wieder das
Märchen vom Weisheitszahn erzählte, dass sie ihn ins Auto packte
und zu ihrem Zahnarzt nach Whitby fuhr, ihn auf den Behandlungsstuhl drückte und mit grimmiger Befriedigung hörte, wie der
Zahnarzt Jim klar machte, dass über ein Dutzend Zahnfüllungen
dringend nötig waren. Das Gesicht des armen Mannes wurde daraufhin kreidebleich.
Sie hätte mehr Gründe gehabt, den Burschen hinauszuwerfen,
als sie Finger und Zehen besaß, aber wenn er zur Arbeit erschien,
war er sehr gewissenhaft – so lange sie ihm genug zu Trinken gab.
Es machte ihm nichts aus, länger zu bleiben und aufzuräumen, die
Aschenbecher auszuleeren und die Gläser zu polieren. Und wenn sie
es zuließ, dass er sich genügen Mut antrank, war er der einzige, der
tapfer genug war, mitten in der Nacht in den Keller zu gehen.
Electra knipste das Kellerlicht an. Licht und Schatten haben in
meinem Keller nur einen trügerischen Frieden geschlossen, sagte sie
sich immer. Wenn das Licht anging, wich die Dunkelheit immer nur
so weit, wie es unbedingt nötig war.
Electra huschte schnell die Treppe hinab. Sie mochte es nicht, hier
unten zu sein, mochten den Keller nicht, hatte ihn nie gemocht, so
lange sie zurückdenken konnte. Aber die Furcht, die sie als Kind
empfunden hatte, war einem anderen Gefühl gewichen: Eine seltsame Art von Gleichgültigkeit hatte sich im Laufe der Zeit in ihr
breitgemacht.
Sie überprüfte die Regale mit Wein, Softdrinks und Schnaps. Es
war von allem genügend da und sollte bis Ende der Woche ausreichen, denn es war ziemlich unwahrscheinlich, dass eine Horde von
Weinfreunden in das Hotel einfiel. Leppington war keine Touristenattraktion – außer man interessierte sich für riesige Schlachthäuser.
So stand Electra im Keller – möglichst weit weg von den Wänden
und deren Schatten – und ließ ihren geübten Blick über Getränkekartons, Bierfässer und Plastikleitungen wandern, die das Bier zu
den Handpumpen oben in der Bar transportierten. (Irgendwann
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würde sie elektrische Pumpen installieren lassen – aber das hatte keine
Eile.)
Sie stellte zufrieden fest, dass alles an seinem Platz war. Nach den
Geräuschen, die letzte Nacht von hier unten an ihr Ohr gedrungen
waren, hatte sie erwartet, einen Scherbenhaufen vorzufinden. Aber
es war alles wie immer. Trotz des riesen Lärms und Getöses gab es
nichts, das nicht an seinem Platz gestanden wäre.
Und jetzt zur eisernen Tür am Ende des Kellers. Los, Electra. Du
kannst es, wenn du es willst.
Sie machte sich bereit, den Schritt in die Dunkelheit zu wagen.
Du hättest eine Taschenlampe mitnehmen sollen, du dumme Kuh,
schalt sie sich selbst. Und erneut ergriff sie jene Gleichgültigkeit.
Es wird passieren, es wird geschehen, und du kannst nichts dagegen
tun.
Sie hielt inne und fuhr sich mit der Zunge über ihre trockenen
Lippen.
Ich sollte nicht hier sein, sagte sie sich. Ich gehöre nicht hierher.
Als wenn ihre Worte die Vergangenheit verändern könnten. Klar,
sie war ein aufgewecktes junges Ding gewesen, damals in der Schule;
sie war mit Preisen für ihre schulischen Leistungen ausgezeichnet
worden; sie hatte auf der Uni Englisch studiert; sie hatte einen Job
als Reporter bei einem Fernsehsender in London ergattert. Mit 25
war sie kurz davor, als Co-Moderatorin von Wirtschaft am Abend vor
der Kamera zu stehen – und dann lief ihr alles aus dem Ruder. Ihre
Mutter starb völlig unerwartet. (Dad hatte sie auf dem Kellerboden
gefunden, die Augen aufgerissen und eiskalt, die Hände in einen
Besen verkrallt – in die Borsten, nicht in den Stiel.) Electra war nach
Hause gefahren, um bei der Beerdigung dabei zu sein. Dann, genau
an dem Tag, als sie zurück nach London wollte, um sich wieder
ihrer glänzenden Karriere zu widmen (und um den metallicblauen
Porsche abzuholen, den sie sich bei einem Händler in Hampstead
bestellt hatte), erlitt ihr Vater einen Schlaganfall.
Da sie weder Bruder noch Schwester hatte, blieb ihr nichts anders
übrig, als selbst das Hotel weiterzuführen – und ihre TV-Karriere
ein- für allemal an den Nagel zu hängen.
Ihr Vater würde für mindestens sechs Monate ans Bett gefesselt
sein, nicht in der Lage, auf die Toilette oder sonstwo hin zu gehen, ja
nicht einmal den Buchstaben »R« konnte er richtig aussprechen.
»Electwa. Vergeude deine Zeit nicht mit all dem. Du hast eine
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glänzende Kawwiewe vor diw«, sagte er – oder versuchte es zumindest, und bemühte sich dabei, seine Worte so verständlich wie möglich auszusprechen.
»Mach dir keine Sorgen, Dad. Sobald wir einen Geschäftsführer
für das Hotel gefunden haben, gehe ich nach London und mache
dort weiter.«
Bald darauf starb er, genau im selben Jahr wie ihre Mutter. Und
während sie zusah, wie man seinen Sarg in das Grab hinabließ, hörte
sie wieder seine Stimme in ihrem Kopf: Twauewe nicht um mich,
Electwa, odew vewsuche es wenigstens.
Natürlich fand sie keinen Geschäftsführer. Und jetzt, zehn Jahre
später, hing sie noch immer in diesem verdammten Hotel fest. Ihre
TV-Karriere hatte sie ein für allemal begraben, zusammen mit ihrem
geliebten Vater. Verdammt. Dieses Hotel war keine gute Geldanlage;
es war eher wie ein verfluchtes Virus, das in ihren Adern darauf lauerte, losschlagen zu können. Der Lärm letzte Nacht im Keller hätte
selbst einen Heiligen dazu gebracht, mit dem Saufen anzufangen.
Danke, Mum, danke, Dad. Warum habt ihr mir nicht gleich bei
meiner Geburt einen Pfahl durchs Herz getrieben und fertig? Der
plötzliche Anflug von Bitterkeit überraschte sie. Ihre Augen brannten, sie knirschte mit den Zähnen und bemerkte, dass sie ihre Fingernägel in die Handflächen grub.
Mit einem Mal trat sie in den Schatten am Ende des Kellers, dort,
wo er sich verengte wie ein Gang –
Da ist kein Gang, Electra. Nur eine Wand, eine Sackgasse …
Sie konnte vor sich nur Dunkelheit erkennen und streckte ihre
Arme aus, um sich voranzutasten. Dann spürte sie es. Kalt und hart.
Die Eisentür, vor der sie sich als Kind so gefürchtet hatte.
Auch ihre Mutter hatte davor Angst gehabt. (»Da sind Geräusche
auf der anderen Seite«, sagte sie immer. »Manchmal denke ich, da
drüben laufen Leute rum.« Dad hatte sie jedes Mal ausgelacht und
gesagt, dass auf der anderen Seite der Tür nichts wäre als längst nicht
mehr benutze Kellerräume.)
Aber Mum hatte immer darauf bestanden, dass sie etwas gehört
hatte, selbst noch am Tage ihres Todes. Und dann hatte er sie gefunden. Tot – im Keller. Sie war einsam gestorben und bereits eiskalt,
als man sie fand. Die Augen aufgerissen. Den Besen verkehrt herum
in den Händen, wie Erzengel Gabriel, der Dämonen bekämpft. »Sie
hat sich vow Angft angepinkelt, Electwa«, hatte ihr Vater kurz vor
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seinem Ende gemurmelt. »Angepinkelt, Electwa. Kannst du diw das
vowstellen? Deine Muttew hätte sich geschämt, wenn sie ...«
Nun, sie würde davon nichts mehr erfahren. Sie war mausetot.
Mit den Fingern tastete sie die beiden Vorhängeschlösser ab, die
die Tür versperrten. Sie zuckte mit den Achseln und versuchte die
Dinger mit einem ziemlich harten Ruck aufzubekommen.
Mit fünfzehn hatte sie in der Schule mal eine Dokumentation gesehen über einen Soldaten, der eine ziemlich große Waffe einhändig
abfeuerte. Den Kolben auf die Hüfte gestützt, in einer Hand die
Munition, hob er die Knarre hoch wie ein Baby, lud sie und feuerte
sie dann ab; das Mündungsfeuer war so stark, dass es die Blätter von
den Bäumen riss. Die meisten ihrer Klassenkameradinen schwätzten
– Dokumentationen über den Krieg war NICHTS, was Mädchen
interessierte. Aber Electra hatte etwas Außergewöhnliches gesehen:
Die Kameraden dieses Schützen hatten sich alle hinter einem Erdwall verschanzt, weil ihre Gegner oben am Hügel ausgeschwärmten
und auf den Soldaten feuerten.
Natürlich, der einsame Schütze, der auf einer kleinen Lichtung am
Waldrand stand, musste damit rechnen, das ihn jeden Augenblick
Hunderte von Geschossen, die durch die Luft schwirrten, durchlöchern und töten würden. Aber er kümmerte sich nicht darum. Er
feuerte und feuerte – bis er tot umfiel.
Schon damals ahnte Electra, dass dieser Film irgendwie ihr Leben
beeinflussen würde. Und jetzt versetzte sie sich vollkommen in diesen totgeweihten Schützen hinein.
Sie fühlte sich, als wenn sie eine hoffnungslose Schlacht führte.
(Nicht das Hotel. Nein, das warf gutes Geld ab.)
Der Tod rast auf mich zu, dachte sie. Nicht in Form einer Kugel.
Nein, irgendwie anders. Aber genauso tödlich. Sie konnte es spüren
– so, wie man sein Blut in den Adern spürt.
In genau diesem Moment schlug die Glocke an der Rezeption an
und brach den Zauber.
Seufzend trat sie aus den Schatten und ging zur Kellertreppe.
Vielleicht ist es mein Märchenprinz; er kommt, um mich hier wegzuholen.
Aber sie wusste, dass dies im wahren Leben nie geschah. Märchenprinzen verirrten sich nicht in so ein lausiges Kaff wie Leppington.
Ihr blieb nichts anders übrig, als sich dem Angriff allein zu stellen,
genau wie der einsame Soldat im Film.
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KAPITEL 5
Dr. David Leppington trat durch die Eingangstür des Cafés hinaus
ins Freie. In wenigen Minuten würde er im Hotel auf der anderen
Seite des Marktplatzes einchecken können. Jetzt freute er sich wirklich auf eine heiße Dusche.
Er schwang seine Reisetasche über die Schulter.
Kaum, dass er ein paar Schritte in Richtung Hotel getan hatte, sah
er einen Mann mittleren Alters in einem leuchtenden, orangenem
Overall, der auf ihn zukam. Ein Blick in das angespannte Gesicht
des Mannes sagte ihm, das irgendetwas nicht stimmte.
»Hallo mein Freund«, rief er David zu, »gibt es im Café ein Telefon?«
»Ich glaube schon«, sagte David, und hoffte, dass es wirklich so
wäre. Gleichzeitig hörte er, wie von links jemand rief: »Tony, lass die
Feuerwehr am besten auch gleich ausrücken. Wir kriegen ihn nicht
von der Stelle weg.«
David warf einen Blick nach links, wo eine Gruppe Männer in
den selben orangenen Overalls – wahrscheinlich Straßenarbeiter – am
Ende der Straße an der Mauer des Schlachthauses um etwas herumstanden.
Davids Vorahnung verband sich augenblicklich mit seiner beruflichen Erfahrung. Eine Gestalt lag auf dem Boden. Im Geiste ging
er die verschiedenen Möglichkeiten durch: Herzstillstand, Asthmaanfall, Schlaganfall, Epileptischer Anfall.
Sein Herz schlug schneller, als Adrenalin in seine Adern gepumpt
wurde, und er eilte über das Kopfsteinpflaster hinüber zu der Stelle,
an der der Mann lag.
Der Mann trug auch einen dieser Overalls.
»Was ist passiert«, fragte David laut und deutlich.
»Wer sind denn Sie?« Der Frager schien mehr überrascht als verärgert zu sein.
»Ich bin Arzt. Was ist geschehen?«
»Das Werkzeug unseres Kumpels hat sich im Abfluss verhakt.« Er
deutete auf eine einmeterlange Stange mit einem Haken vornedran,
die neben einem Haufen sandigen Schlamms lag. Das Gerät sah aus
wie die große Ausgabe einer Kneifzange.
54
»Als er versuchte, das Mistding freizubekommen, hat er sich da
unten die Hand eingeklemmt.«
»Hier, halten Sie mal!« Er reichte seine Tasche einem der Arbeiter
und ging neben dem eingeklemmten Mann, der mit dem Gesicht
nach unten auf dem Boden lag und dessen Arm im Abfluss steckte,
in die Hocke. David sah den Arm nur bis zum Handgelenk, denn
ölig-schwarzer Matsch verdeckte Hand und Finger. Der Abfluss
selbst war ein ganz normaler Gully, wie man ihn neben jeder Straße
findet. Den Eisendeckel hatte man hochgehoben und ein Stück daneben auf den Boden gelegt.
»Hallo, ich bin Arzt«, sagte er zu dem Mann. »Können Sie Ihre
Finger bewegen?«
Keine Antwort.
»Haben Sie Schmerzen?«
Blöde Frage. David sah, wie der Mann mit hervorquellenden Augen auf seinen Arm starrte, der im Gully steckte. Er war kreidebleich. Seine Halsmuskeln waren angespannt, als ob er jeden Funken Willenskraft dazu benötigte, nicht laut zu schreien.
»Wie heißen Sie? Können Sie mich verstehen? Nennen Sie mir
bitte Ihren Namen.«
Wieder keine Antwort. Der Mann starrte in den Abfluss, in dem
seine Hand feststeckte, wie jemand, der weiße Mäuse und rosa Elefanten sieht.
David blickte zum nächstbesten Arbeiter hoch, einem Mann mit
grauen Bartstoppeln, nahe der 50. »Wie heißt er?«
»Ben Connor.«
»Wie lange ist Ben schon so eingeklemmt?«
»Zehn Minuten. Zuerst dachten wir, er will uns auf den Arm nehmen. Solche Scherze –«
»Habt ihr versucht, ihn herauszuziehen?«
»Klar. Aber er hängt fest.«
»Ben«, sagte David ruhig. »Ben, können Sie mich hören?«
»Er hat sich doch nur die Hand eingeklemmt«, sagte ein jüngerer
Arbeiter verdrießlich, die Mütze tief ins Gesicht gezogen.
»Nein. Mir gefällt sein Gesichtsausdruck nicht«, gab David zurück
und rief sich seine Notfallausbildung ins Gedächtnis. »Er hat einen
Schock.«
»Sind Sie sich da ganz sicher?«
»Ziemlich sicher.«
55
»Und warum?«, fragte der junge Mann mit der Mütze ungläubig.
»Er hat sich nur seine verdammten Finger eingeklemmt.«
»Mit einem Schock ist nicht zu spaßen, glauben Sie mir!« David berührte den Mann. Seine Haut fühlte sich kalt und feucht an.
Bleich. Ohne Zweifel, die Anzeichen eines Schocks. Er prüfte den
Puls. Schnell und viel zu kräftig. Schock. Absolut sicher.
»Wir müssen seinen Arm da rausbekommen«, sagte er zu dem älteren Arbeiter.
»Und wie? Ha‘m wir doch schon versucht.«
»Einen Moment mal.« Er kniete sich neben Ben, der immer noch
in den Abfluss stierte, als würde da gleich etwas Ungeheuerliches
auftauchen. »Ben … können Sie mich verstehen?«
Keine Antwort. Seine Augen glänzten auf seltsame Art und Weise.
»Ben … wir müssen Ihren Arm da rausbekommen.«
»Meine Finger …«, antwortete der eingeklemmte Mann, und eine
morbide Faszination lag in seiner Stimme.
»Ihre Finger«, sagte David ruhig. »Was ist mit Ihren Fingern?«
Der Mann schluckte. Seine Blicke lösten sich von seinem Arm, der
in der Brühe im Abfluss verschwand. »Meine Finger … irgendetwas
beißt mich in die Finger.«
»Etwas beißt Sie in die Finger?«
»Ratten«, sagte der junge Mann angriffslustig, als er auf seinen
eingeklemmten Arbeitskollegen hinabsah. »Die verdammten Ratten
haben ihn erwischt.«
»Da unten gibt es keine Ratten«, sagte der ältere Mann. »Ich habe
noch nie eine einzige Ratte in diesen Abflüssen oder in diesem Teil
der Kanalisation gesehen, mein ganzes Leb…«
»Au!«
Mit Bens Selbstbeherrschung war es endgültig vorbei. Er sah hinunter in den Abfluss, brüllte vor Schmerzen und keuchte, während
sein Gesicht noch bleicher wurde.
»Meine Finger. Sie fressen meine Finger … autschautschautsch.«
Noch ein Stöhnen, dann sackte er nach vorne. David schaffte es
gerade noch, seine Hand vor Bens Gesicht zu schieben, bevor es auf
der Eiseneinfassung des Abflusses aufschlug.
»Was ist mit Ben?«, fragte der ältere Mann.
»Er ist ohnmächtig geworden.«
»Dann spürt er ja jetzt nichts mehr«, verkündete der jüngere Arbeiter selbstgefällig.
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Im nächsten Augenblick kam ein Mann angerannt – derselbe, der
wegen des Telefons gefragt hatte. »Feuerwehr und Rettungsdienst
sind unterwegs. Hey, was ist denn mit Ben los? Er ist nicht –«
»Nein«, sagte David rasch. »Ist er nicht. Und ich möchte, dass sich
daran auch nichts ändert.«
»Sie meinen –«
»Ich weiß nicht, was mit seiner Hand da unten los ist«, schnitt ihm
David das Wort ab, »aber er hat einen Schock.«
»Die Feuerwehr wird gleich hier sein«, sagte der junge Mann in
einer Art und Weise, die David langsam auf den Wecker ging. »Warum warten Sie nicht einfach, bis die Feuerwehr da ist?«
»Weil er Anzeichen von Blutverlust zeigt – der Schock muss ziemlich schwer sein.«
»Aber … er kommt wieder in Ordnung«, fragte der ältere Mann
mit aufgerissenen Augen.
»Nur wenn wir seine Hand da rausbekommen. Glauben Sie mir,
ein Schock tötet einen Menschen genauso sicher wie eine Kugel.«
»Und was schlagen Sie vor?«
David deutete mit dem Kopf auf vier Männer, die ihm als die
Stärksten erschienen. »Sie, Sie, Sie und Sie.« Er merkte, wie Bewegung in die Sache kam, und konzentrierte sich darauf, das Leben des
Mannes zu retten. »Packen Sie ihn am Overall. Bei DREI ziehen Sie,
und zwar gerade nach oben. So hart Sie können. Alles klar?«
»Aber –«
»Bitte tun Sie, was ich Ihnen sage. Das Leben Ihres Kollegen hängt
davon ab. Ok, richtig zupacken. Und ziehen Sie unbedingt senkrecht
nach oben, sonst schnappt sein Arm geradewegs aus dem Ellbogengelenk.« Sein Blick flog von Mann zu Mann: Sie würden seine Anweisungen genauestens befolgen. »Ok. Eins, zwei, drei – ziehen!«
Sie zogen, während David den Kopf des Bewusstlosen hielt. Die
ersten paar Zentimeter ging es ganz leicht – bis der Arm gestreckt
war. David blickte hinab in den Abfluss: Das Wasser rund um Bens
Finger sah aus wie schwarzer Sirup. Die Hand steckte fest. Als wenn
jemand sie einbetoniert hätte.
»Nächstes Mal bitte mit mehr Kraft!«
Der jüngere Mann maulte: »Sie renken ihm noch den Arm aus.«
»Einrenken geht schneller als Wiederbeleben. Sein Puls ist schon
ziemlich schwach.« David holte tief Luft und nahm den Kopf des
Mannes in seine Hände. »Auf DREI – Eins, zwei, drei … Jetzt!«
57
Diesmal bissen die vier Männer die Zähne zusammen und
strengten sich an, bis die Adern an ihren Hälsen hervortraten. Sie
zerrten an Ben wie bei einem Tauzieh-Wettbewerb.
Der eingeklemmte Mann stöhnte leise, öffnete die Augen, und
verdrehte sie, bis man nur noch das Weiße sah. Obwohl er bewusstlos war, bahnte sich der Schmerz einen Weg durch seinen Körper bis
zum Gehirn.
»Los, noch fester!«
David sah sich den Arm an. Er glich Plastik, das man dehnt. Die
Zugkraft der vier Männer war enorm. Er stellte sich vor, wie die Sehnen und Muskelfasern den Punkt erreichten, an dem sie rissen.
Los doch, los …
Menschen sind zäh … der Arm wird schon nicht abreißen … aber
zum Teufel, sieh nur, wie er sich dehnt. Das Schultergelenk kann
jeden Moment herausspringen.
»Jjjjja!«
Ein jeder in der Runde atmete genau in der Sekunde auf, als die
Hand aus dem Abfluss schnalzte; der Mann wurde hochgerissen wie
eine Puppe, und beinahe hätten die vier Männer dabei ihr Gleichgewicht verloren.
»Gut, horchen Sie genau zu.« David war selbst über den ruhigen
Befehlston überrascht, den er anschlug. »Legen Sie ihn auf den Boden. Langsam. Vorsichtig. Treten Sie bitte zurück.« David brachte
den Bewusstlosen routiniert in eine stabile Seitenlage, indem er ein
Bein packte und auf seine Seite herüberzog. Dann überprüfte er, ob
Mund und Rachen frei waren. Der Atem ging immer noch flach
und schnell.
»Jesus, schaut euch seine Hand an«, sagte einer der Männer.
»Ratten. Ich hab euch gesagt, es sind Ratten.«
»Und ich sage euch, da unten gibt es keine Ratten!«
»In jeder Kanalisation gibt es Ratten.«
»Nicht hier. Ich war vierzig Jahre lang da unten.«
»Und was hat dann seine Hand so zugerichtet?«
David war viel zu beschäftigt, die Lebensfunktionen zu überprüfen, um sich in die allgemeine Ratten-Debatte einzumischen.
Doch endlich konnte er seine Aufmerksamkeit dieser Hand zuwenden. Vorsichtig hob er den muskulösen Arm des Mannes mit
beiden Händen hoch. Durch das Wasser des Kanals war er bis zu
den Ellbogen schwarz. Er sah genauer hin.
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Teufel auch, was für eine Sauerei.
Die Gummihandschuhe hingen in Fetzen vom Bund der Handschuhe herab.
»Ich hab‘s Ihnen gesagt, Doc.« Schon wieder der junge Man mit
der schwarzen Mütze. »Jetzt erzählen Sie mir bloß nicht, das wären
keine Ratten gewesen.«
David antwortete nicht. Er musste sich zuallererst um den Verletzten kümmern.
Die Hand war voll von Schlamm, schwarz wie Öl, und stank nach
Kanal. Und überall war Blut. Er sah, dass Mittel- und Zeigefinger
an den Knöcheln abgetrennt worden waren, der Daumen an der
Stelle, an der er in den Handwurzelknochen überging. Die blutigen
Stümpfe sahen aus wie zerhackte Würstchen. Teile der Knochen
ragten weiß aus all dem Dreck und Blut.
David suchte die zerfledderten Überreste des Gummihandschuhs
nach abgetrennten Fingern ab. Nichts.
Er hob Bens Arm, um die Blutung zu verlangsamen und sah einen
der Männer an. »Im Café habe sie bestimmt einen Erste-HilfeKasten. Bitte holen Sie ihn … warten Sie, ich brauche außerdem
eine Rolle Frischhaltefolie, eine Plastiktüte voller Eiswürfel und ein
paar saubere Handtücher.«
Der Mann stellte keine weiteren Fragen, sondern stürmte direkt
zum Café hinüber.
Der junge Mann mit der schwarzen Mütze sagte: »Warum stoppen
sie die Blutung nicht einfach mit einem Druckverband?«
»Ich möchte, dass er blutet.«
»Wie bitte?«
»Ich kontrolliere die Blutung. Sie wäscht den Dreck aus seinen
Wunden.«
»Aber –«
»Halt endlich die Klappe, Stevo.« Der alte Mann klang, als wäre
seine Geduld erschöpft. »Lass den Doktor machen.«
David blickte dankbar zu dem älteren Arbeiter hoch. »Sie könnten
mir einen Gefallen tun und so viel wie möglich aus dem Abfluss
herausholen.«
»Möglicherweise seine Finger?«
David nickte. »Wenn wir sie finden, kann sie ihm ein Chirurg vielleicht wieder annähen.« Als der Mann auf den Abfluss zuging, fügte
David hinzu: »Nehmen Sie ein Werkzeug – nicht Ihre Hände.«
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»Und nimm dich vor den Ratten in acht, Greg«, ergänzte der Jüngere.
»Ich hab dir doch gesagt, da unten gibt‘s keine Ratten.«
»Und was hat dann Bens Finger abgetrennt, hä?«
Der Ältere zuckte die Achseln und konzentrierte sich darauf, den
Dreck aus dem Abfluss zu schaufeln.
David betrachtete sich stumm die verwundete Hand. In der Tat,
es könnten Ratten gewesen sein, die die Finger abgeknabbert hatten,
aber um einen solchen Schaden anzurichten, hätten sie Stunden gebraucht – normalerweise lagen derart zugerichtete Mordopfer lange
Zeit tot im Gebüsch, wo die Ratten ihr grausiges Werk vollbringen
konnten, bevor man sie fand. Darüber hinaus sahen die Wunden
gar nicht wie Rattenbisse aus: Die Knochen waren zersplittert, nicht
abgenagt. Und als er vorsichtig etwas Dreck wegwischte, entdeckte
er weitere Bissspuren an Hand und Finger. Sie hatten die Haut nicht
durchdrungen, aber sie hatten Male hinterlassen, die einem sehr
großen »C« ähnelten.
Diese Male waren klar zu erkennen, aber es war nahezu ausgeschlossen, dass sie ihm zugefügt worden waren, als seine Hand im
Abfluss steckte. Sie mussten früher am Tag entstanden sein.
(Möglicherweise selbst zugefügt?)
Der Arbeiter kam mit dem Erste-Hilfe-Koffer und all dem, was
David ihm aufgetragen hatte, zurück.
Während David arbeitete, standen eine Menge Gaffer mit weit
aufgerissenen Augen um ihn herum.
Das ist sicherlich interessanter als Krankenhausserien im Fernsehen,
nicht wahr, Mrs. Jones – man kann das Blut beinahe schmecken?
Die Stimme in seinem Kopf hätte ihn beinahe dazu gebracht, so
eine Bemerkung loszulassen, aber er wollte auf keinen Fall von seiner Arbeit abgelenkt werden. Seine Finger bewegten sich flink und
geschickt, während er die offenen Wunden versorgte. Das Blut des
Mannes rann ihm so sehr über die Hände, dass er sie am Handtuch
aus dem Café abwischen musste; nur sein Unterbewusstsein registrierte, dass auf das Handtuch ein Bild von der Abtei in Whitby
gedruckt war. Er würde es der Ambulanz mitgeben, um es zu entsorgen.
»Und, Glück gehabt?«, rief er dem grauhaarigen Arbeiter zu, der
im Abfluss herumstocherte.
»Alles, was ich erwischen konnte, habe ich rausgeholt.«
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»Prima.«
»Soll ich es nicht doch mit den Händen versuchen?«
»Lieber nicht, das Risiko ist zu hoch.«
»Und was soll ich nun damit anfangen«, fragte er und deutete auf
den Haufen Schlamm neben sich.
»Ich werde ihn durchsuchen.« David legte die Hand des Verwundeten vorsichtig auf ein zusammengerolltes Handtuch.
»Möchten Sie, dass ich seine Hand hochhalte?«, fragte ein junges
Mädchen.
»Nein, danke. Es ist gut so.« Natürlich wäre es ideal gewesen, wenn
jemand die Hand hochgehalten hätte, aber er wollte nicht, dass das
Blut des Mannes noch mehr Leute besudelte. »Aber Sie könnten
ein Auge auf ihn werfen und mir Bescheid geben, wenn sein Atem
stockt oder wenn er zu sich kommen sollte. In Ordnung?«
Sie lächelte und nickte, froh darüber, behilflich sein zu können.
»Vielen Dank.« David ging zu dem Haufen Schlamm hinüber, der
aussah wie Dünnschiss. Er versuchte so wenig wie möglich durch
die Nase zu atmen, um den Gestank nicht riechen zu müssen, nahm
zwei Bleistifte aus seiner Brusttasche und hielt sie wie chinesische
Essstäbchen. (Schau an, David, all die Fress- und Saufgelage beim
Chinesen waren doch nicht umsonst.) Mit dieser improvisierten
Pinzette begann er alles aus dem Haufen zu fischen, das so aussah,
als könnte es dem armen Ben gehören, der drüben auf dem Gehsteig
lag. Zweige, Blätter, Zigarettenkippen, ein altes Feuerzeug und eine
ausländische Münze – alles was der Regen in den Rinnstein gespült
hatte. Dann entdeckte er etwas, das aussah wie ein Würstchen. Wie
mit Essstäbchen fischte er das Ding heraus, als wäre es eine saftige
Garnele.
Er hielt das Ding hoch, um es besser erkennen zu können.
Bens Daumen.
»Ist es … na, Sie wissen schon …«, fragte der Arbeiter.
David nickte. »Der Daumen. Aber leider keine Spur von den anderen Fingern.«
Er drehte sich um zur gaffenden Menge und wickelte den Daumen in Frischhaltefolie ein.
Stevo mit der schwarzen Mütze sagte: »Machen Sie ihn nicht sauber?«
»Nein.«
»Und warum nicht? Er ist voller Scheiße und so Zeug.«
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»Sie dürfen niemals einen abgetrennten Finger reinigen. Die Leute
im Krankenhaus kümmern sich darum.« Dann sah er das junge
Mädchen an. »Was macht unser Patient?«
Sie flötete, sichtlich erfreut, dass er von ihr Notiz nahm: »Sein
Atem hat sich verlangsamt …« Dann fügte sie noch schnell an: »Genau wie sein Puls.«
»Haben Sie seine Handgelenke angefasst?«
»Nein, ich hab den Puls am Hals kontrolliert.«
»Gut gemacht, danke.« Er schickte ihr ein Lächeln hinüber und sie
errötete, sichtlich mit sich selbst zufrieden.
Ein gutes Kind. Nicht wie Stevo, dessen Stimme klang, als würde
er lieber eine Schlägerei anzetteln, als Anteil am Schicksal seines Arbeitskollegen zu nehmen. »Sie müssen den Finger abwaschen«, sagte
Stevo. »Schauen sie sich bloß seinen Zustand an.«
»Glauben Sie mir, ich weiß was ich tue.«
»Und sie sind wirklich Arzt?«
»Natürlich.« Er schenkte dem Mann ein gekünsteltes Lächeln.
»Nun, wenn Sie so nett sein würden, das einen Moment für mich zu
halten, mein Herr.«
Er nahm Stevos Hand und legte den abgetrennten Daumen hinein – jetzt fein säuberlich in Folie verpackt. Der abgebrochene
Daumennagel, der wie eine Muschelschale aussah, lugte durch das
durchsichtige Plastik. Fetzen von Fleisch und Stevos Haut waren nur
noch durch das Plastik getrennt.
Als Stevo die Augen verdrehte, nahm David das Päckchen mit
dem Daumen, wickelte es in ein sauberes Taschentuch und legte es
vorsichtig in die Tüte mit den Eiswürfeln.
Stevo schaute den Daumen an, der nun im Eis lag. Er wurde weiß
wie Käse und eine Sekunde später klappte er zusammen und lag
leichenblass auf dem Gehweg.
»Herrjemine«, sagte einer der Arbeiter. »Was sollen wir mit ihm
anstellen, Doc?«
»Lassen Sie ihn einfach liegen.« David unterdrückte das Grinsen,
das sich in sein Gesicht schleichen wollte. »Er wird gleich wieder zu
sich kommen.«
Er schrieb die Personalien des Verletzten – Name, Zeitpunkt des
Unfalls – auf die Rückseite seines Zugtickets und steckte es in die
Tüte zu dem Daumen. Sie würden die Informationen brauchen,
falls sie ihn überhaupt abholten.
62
Mal den Teufel nicht an die Wand!
Und schon raste die Ambulanz mit Blaulicht heran, die Feuerwehr
hinterdrein.
Von jetzt an lief alles wie geschmiert. Innerhalb weniger Augenblicke wurde der Verletzte in die Ambulanz verfrachtet; David übergab die Tüte mit Eis und dem Daumen darin dem Notarzt. Er
wünschte sich, dass er auch die anderen Finger aus dem Abfluss
hätte bergen können. Aber wenigstens hatte sie den Daumen. Die
Mikrochirurgie war immerhin so weit fortgeschritten, dass man den
Daumen mit hoher Wahrscheinlichkeit würde retten können. Und
mit diesem wichtigen Finger, den Affe und Mensch gleichermaßen
besaßen, sollte die Behinderung des Mannes nicht so schwer ausfallen. Die Ambulanz rauschte mit kreischenden Sirenen davon. Die
Feuerwehrleute versuchten, noch mehr Schlamm aus dem Abfluss
herauszubekommen, aber David bezweifelte, dass sie die Finger finden würden.
Stevo saß am Straßenrand und sah aus, als wenn er sich jeden
Moment übergeben müsste. Er war schweißüberströmt und fächelte
sich mit seiner schwarzen Mütze Luft zu.
Die anderen Arbeiter bedankten sich bei David und wollten ihm
die Hand schütteln. Aber als sie das ganze Blut daran sahen, schlugen
sie ihm lieber freundschaftlich auf die Schulter und versprachen,
ihm ein Bier auszugeben, falls er sich in eine der dreizehn Kneipen
Leppingtons verirren sollte.
Sobald die Show vorüber war, zerstreute sich die Menge.
David blieb allein zurück und sah sich nach seiner Tasche um. Als
er sie aufhob, musste er feststellen, dass die Henkel ziemlich blutund dreckverschmiert waren. Egal. Es fühlte sich gut an, wenn man
von Zeit zu Zeit ein nützliches Zahnrad im Getriebe des Lebens sein
durfte.
Als er über den Marktplatz auf das Hotel zuging, fragte er sich, was
wohl die Hand des Mannes festgehalten und Finger sowie Daumen
abgetrennt hatte, als wären es dünne Salzstangen.
Ratten konnte es jedenfalls nicht gewesen sein.
Und die Bissmale an seiner Hand …
Sie konnten ihm nicht zugefügt worden sein, als die Hand im Abfluss feststeckte. Daran zweifelte David keinen Augenblick.
Sie stammten eindeutig von einem Menschen.
63
KAPITEL 6
Es war kurz vor zwei Uhr, als David Leppington das Hotel betrat.
Die Rezeption befand sich an einer runden Wand, die den eleganten
Schwung der Treppe fortführte. Dahinter stand eine groß gewachsene Frau mit Haaren, die so schwarz waren, dass sie beinahe schon
blau schimmerten, und redete auf einen Mann ein.
Der Mann, hemdsärmlig und mit einer Schürze bekleidet, hielt
ein Paar nagelneuer Stahlvorhängeschlösser in der Hand.
»Und Sie sind sich ganz sicher, Miss Charnwood?«, sagte er.
»Absolut, Jim.«
»Aber die alten Schlösser sind völlig in Ordnung.«
»Trotzdem. Bringen Sie diese beiden zusätzlich an.«
»An der Tür im Keller?«
»Genau da, Jim.«
»Ich muss doch schon das Leergut heraufschaffen …«
Er weigerte sich zwar nicht, die Arbeit zu tun, aber es klang so,
als würde er sie liebend gerne auf den Sankt-Nimmerleinstag verschieben.
»Das Leergut kann warten.« In ihrer Stimme schwang ein kühler
Befehlston mit. »Bringen Sie bitte diese Schlösser an.«
»So wie die alten?«
»Genau so, Jim. Danach mache ich ihnen einen schönen Kaffee
… einen Irish Coffee.«
Der Mann nickte, als ihm die Frau an der Rezeption noch weitere
Aufgaben auftrug.
David nützte die Zeit, um sich in der Lobby umzusehen.
Das Hotel hatte schon bessere Zeiten gesehen, aber es sah sauber
aus. Auf alle Fälle war es nicht heruntergekommen. Der Plüschteppich war von gedecktem Purpur und die hohen Fenster zierten
Seidenvorhänge – auch Purpur, was allem eine viktorianische Note
verlieh.
»Dr. Leppington?«
Die Frau an der Rezeption schenkte ihm ein Lächeln als Willkommensgruß.
Er lächelte ebenfalls. »Guten Tag, ich habe letzte Woche per Fax
reserviert.«
64
»Willkommen im Bahnhofshotel. Ich bin Electra Charnwood, die
Besitzerin.«
Die Frau lächelte nun etwas breiter, kam hinter der Rezeption hervor und hielt ihm die Hand in einer Art und Weise hin, die ihm sehr
männlich vorkam.
»Besser nicht«, lachte er, stellte seine Tasche ab und streckte ihr
beide Hände entgegen.
»Um Himmels Willen, das passiert ja auch nicht oft, dass jemand
mit blutverschmierten Händen hereinkommt.«
Sie war nicht schockiert, sondern schenkte ihm ein Lächeln, als
wüßte sie über die Sache vorhin Bescheid .»Tut es sehr weh?«, fragte
sie.
»Glücklicherweise ist das nicht mein Blut; selbst im Urlaub lässt
mich mein Beruf einfach nicht los.«
»Sind Sie Chirurg?«
»Nein«, lachte er, »nur ein ganz normaler Arzt, der Rückenschmerzen und zu hohen Cholesterinspiegel behandelt.«
»Ganz schön versaut«, sagte sie und sog die Luft zwischen den
Zähnen ein. »Sie müssen sich die Hände waschen. Kommen Sie
mit.«
»Ähm, danke ... aber bitte nicht in der Küche.«
»Sie sind der Arzt. Im Abstellraum gibt es auch einen Ausguss, und
kein Mensch bereitet dort Speisen zu.«
Sie hielt ihm die Tür auf, sodass er unter ihrem Arm hindurchschlüpfen musste wie unter einem Bogen. Er war zwar groß, aber
sie stand da wie eine Statue, und so musste er sich wenigstens nicht
allzu sehr bücken.
»Haben Sie Desinfektionsmittel?«, fragte er und sah ihr zu, wie sie
den Wasserhahn aufdrehte.
»Geht Alkohol auch?«
»Absolut.«
»Mit fremdem Blut sollte man heutzutage vorsichtig sein.«
»Ja – sicher ist sicher.«
»Ich erinnere mich an meine Jugend –«
Sie redet, als wäre sie immer noch neunzehn, dachte er, aber weit
über die dreißig kann sie auch noch nicht sein, obwohl sie Ihre Kleidung älter aussehen lässt. Sie war ganz in Schwarz gekleidet mit einer
langärmeligen Bluse, die ihr etwas Altmodisches verlieh, als wollte
sie zu einer Kostümparty gehen.
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»Ich erinnere mich an meine Jugend«, sagte sie. »Wenn sich einer
deiner Freunde schnitt, dann musstest du den Dreck aus der Wunde
saugen.«
»Das war nichtmal damals eine besonders gute Idee. Sind Sie sicher, dass Sie das nehmen wollen?«
Die Frau schraubte den Deckel von einer Wodkaflasche. »Glauben
Sie mir, das Zeug würden Sie nicht trinken wollen. Es ist Industriealkohol. Wissen Sie, ich musste die Führung des Hotels von heute
auf morgen übernehmen, als mein Vater schwer erkrankte«, erklärte
sie. »In jenen Tagen war ich unerfahren und dumm, und man hat
mich mehr als einmal übers Ohr gehauen. Bei so einer Gelegenheit
hat mir ein zwielichtiger Händler zwei Dutzend Flaschen Wodka
angedreht – nur dass es kein Wodka war. Wahrscheinlich werden Sie
blind, wenn Sie das Zeug trinken.«
Sie goss die klare Flüssigkeit über seine Hände, die er über das
Waschbecken hielt.
Während er sie säuberte, sagte die Frau mit einem Anflug von
Bewunderung: »Heilige Scheiße, haben Sie vorhin etwa jemandem
das Leben gerettet?«
Er lächelte und schilderte ihr in knappen Worten, was geschehen
war.
»Etwas hat ihn gebissen?«, hakte sie nach.
»Einer der Arbeite dachte, es wäre ein Rattenbiss.«
»Ratten also.«
»Die Verletzung sah aber überhaupt nicht nach einem Rattenbiss
aus. Und ein anderer Arbeiter schwor Stein und Bein, dass es in dieser
Gegend gar keine Ratten gibt.«
»Dr, Leppington, glauben Sie mir, hier in der Gegend gibt es massig Ratten. Und jede Nacht strömen sie in mein Hotel.«
Er blickte sie an, und wusste nicht, warum sie so etwas geradeheraus zugab. Dann sah er das verschmitzte Lächeln auf ihrem Gesicht.
»Oh – darf ich davon ausgehen, dass es sich dabei um zweibeinige
Ratten handelt?«
»Ganz genau. Ihr natürlicher Lebensraum ist die Hotel-Bar, die
jedermann offen steht, und sie halten Ausschau nach ihresgleichen«,
fuhr sie fort. »Aber anders als gewöhnliche Ratten, die sich einen
Partner auf Lebenszeit suchen, ist diese spezielle Spezies nur auf
eines aus: einen One-Night-Stand.«
66
Er sah ihr in die Augen und fragte sich, ob sie wohl aus eigener,
bitterer Erfahrung sprach.
Aber es sah nicht so aus.
Sie tröpfelte erneut ein wenig von dem falschen Wodka auf seine
Hände. »Genügt das?«
»Ja, prima, das reicht. Ich nehme noch etwas Seife.«
»Im Spender sind Papiertücher.«
»Danke.«
»Brauchen Sie noch irgendetwas?«
»Nein.« Er lächelte. »Vielen Dank.«
Sie taxierte ihn einen Moment lang mit ihren blauen Augen, und
als sie bemerkte, das ihm das unangenehm zu werden begann, sagte
sie: »Sie sind also ein Leppington?«
»Mein Vater hat hier gelebt, ich bin hier geboren.«
»Aber Sie sind nicht geblieben?«
»Meine Eltern zogen fort, als ich sechs war.«
Sie lächelte gequält. »Einer von den Glücklichen, die es geschafft
haben, von hier wegzukommen.«
»Mein Vater war Biochemiker, und er ging dahin, wo es Arbeit
gab.«
»Liverpool?«
David nickte, während er das Papierhandtuch zusammenknüllte
und in den Abfalleimer warf. »Aber den Liverpooler Akzent habe ich
mir bewusst nicht angewöhnt.«
»Und was treibt sie zurück in die alte Heimat?«
»Neugierde. Ich habe den Ort nicht mehr gesehen, seit ich sechs
war.«
»Es gibt wirklich nicht viele Menschen, nach denen ein Ort benannt wird.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob das nicht andersherum lief.«
»Oh, glauben Sie mir«, sagte sie, »ihre Vorfahren gaben diesem
Ort seinen Namen.«
»Offensichtlich war es eine umtriebige Sippe.«
»Auf jeden Fall haben sie deutliche Spuren hinterlassen.«
»Darf ich Sie so verstehen, dass die Leppingtons nicht sonderlich
beliebt waren?«
»Kommt darauf an, wer die Geschichte gerade erzählt.« Sie spielte
mit einer ihrer glänzenden blauschwarzen Haarsträhnen. »Des einen
Freund ist des anderen Feind.«
67
David krempelte seine Ärmel herunter. »Als ich einem alten Mann
erzählte, dass ich Leppington heiße, blickte er mich an, als würde er
mir am liebsten einen Pflock durchs Herz rammen.«
Sie lachte. »Möglicherweise sitzt er gerade zu Hause und schnitzt
sich einen.«
»Sie glauben also ernsthaft, dass ich eines Nachts aus dem Schlaf
gerissen werde, weil der Mob mit brennenden Fackeln und Mistgabeln durch die Straßen zieht und mich einen Kopf kürzer machen
will?« Es war nur eine scherzhafte Bemerkung gewesen, aber insgeheim fragte er sich, ob es in der Stadt nicht so etwas wie verborgene
Abneigung gegen Seinesgleichen gab.
»Das war im Mittelalter, Doktor. Heutzutage werden Menschen
schon umgebracht, wenn sie jemanden nur schief ansehen.«
»Ich werd‘s mir merken.«
Sie schmunzelte. »Im Ernst, ich glaube nicht, dass Sie sich Sorgen
machen müssen. Der wahre Grund, warum sich die Leppingtons
derart unbeliebt gemacht haben, war der Verkauf des Schlachthauses. Ein zwielichtiger Geschäftsmann hat es erworben, aber er
hatte nie ernsthaft vor, sein Geld mit Fleischhandel zu verdienen. Er
plünderte die Pensionskasse, nur um die Kohle dann umgehend in
Monte Carlo zu verspielen.«
»Also haben wir – die Leppingtons – uns gar nichts zu Schulden
kommen lassen?«
»Die Leute in der Stadt haben einen Sündenbock gebraucht«,
sagte sie leichthin. »Alles sauber? Gut. Ich fülle jetzt die Anmeldung
aus, dann zeige ich Ihnen Ihr Zimmer.«
Er folgte Electra, die zur Rezeption zurückging. Eigentlich wusste
er nicht viel über die Geschichte seiner Familie – zumindest was die
Seite der Leppingtons anging. Niemand hatte je mit ihm darüber
gesprochen. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass er schon bald mehr
als genug darüber erfahren würde.
Draußen begann es zu donnern und ein frischer Regenguss fiel auf
die Stadt der Leppingtons.
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KAPITEL 7
1.
Also los, David, sagte er streng zu sich selbst. Schieb es nicht länger
auf die lange Bank. Es ist höchste Zeit, dass du diese Sache zu Ende
bringst.
Es stellte seine Tasche auf die Kofferablage und setzte sich dann
aufs Bett.
Regen klatschte gegen das Fenster.
Er zog Katrinas Brief aus der Tasche, öffnete ihn und überflog die
wenigen Zeilen, die mit einem braunen Filzstift geschrieben waren.
Er las sie und hielt dabei eine Hand vor den Mund – ein Zeichen dafür, wie traurig und unglücklich er tief im Innern war. Wenn jemand
die Finger an die Lippen legt, dann ist das nichts anderes als ein unbewusstes Erinnern eines Kindes an die Mutterbrust; für Kinder wie
für Erwachsene eine Geste, die ihnen Erleichterung verschafft. David kannte diese menschliche Verhaltensweise natürlich von seinem
Studium, zu dem auch Vorlesungen in Psychologie gehört hatten.
Aber dieser Brief beschäftigte ihn so sehr, dass er in diesem Moment
nichts weiter war als ein Irgendjemand, der Trost brauchte – und
kein Arzt.
Als er den Brief ein zweites Mal gelesen hatte, wobei er die Fliege
absichtlich ignorierte, die mit Tesa auf die linke obere Ecke des Papiers geklebt war, warf er ihn in den Papierkorb.
Warum zerreißt du das verdammte Ding nicht und spülst es das Klo
hinunter?
Weil ich weiß, dass ich ihn noch einmal lesen muss, bevor ich ihn
endgültig vernichte.
Es reicht, David! Warum musst ausgerechnet du immer den Messias
spielen und das Kreuz der anderen tragen?
Es waren immer wieder die selben Gedanken, die ihm im Kopf
herumspukten, sobald die Post einen Brief von Katrina brachte.
Er schaute aus dem Fenster und fragte sich, ob ein flotter Spaziergang hinauf in die Hügel Katrinas Geist aus seinem Kopf vertreiben
würde – ja, möglicherweise, Dr. Leppington.
Los, gib es schon zu, du bist von ihr besessen.
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Die Marktleute packten ihre Sachen zusammen, da es anfing stärker zu regnen. Er sah auf die Einmündung hinab, an der er sich noch
vor ein paar Stunden damit abgerackert hatte, um die Hand des
Arbeiters freizubekommen. Kurz dachte er daran, im Krankenhaus
anzurufen und sich zu erkundigen, wie es dem Mann ging.
Willst du schon wieder den Messias spielen und die Bürde eines Menschen auf deine Schultern laden? Ist es das, warum du Arzt geworden bist?
Nicht um Leute zu heilen, sondern um ihre Pein auf dich zu nehmen? Bist
du so etwas wie ein Vampir, einer, der nicht vom Blut, sondern vom Leid
anderer lebt? Schluss damit, Leppington.
Katrinas Briefe hatten jedes Mal die gleiche Wirkung auf ihn – wie
Gift. Hey, du bist ein netter Junge. Wie wäre es, wenn du zur Abwechslung mal nett zu dir selbst wärst?
Er ging hinüber zu einer Kommode, auf der als netter Willkommensgruß ein Topf, Teebeutel, löslicher Kaffee und ein Tütchen mit
Biskuits für die Gäste angerichtet war.
Ok, mein Rezept für dich lautet. Vergiss den Brief!
Leichter gesagt als getan.
Katrina West war seine erste große Liebe gewesen. Schon in der
Schule waren sie unzertrennlich; sie machten die Hausaufgaben zusammen und sie aßen zusammen. Und – natürlich – sie schliefen
miteinander. Für beide war es das allererste Mal. Es war an jenem
denkwürdigen Wochenende im August gewesen, als seine Eltern in
den Urlaub gefahren waren, und er alleine zu Hause blieb.
In diesem Alter konnte man allein zu Hause mächtig Spaß haben.
Katrina hatte ihren Eltern eine plausible Erklärung geliefert, warum sie unbedingt zu ihm musste, und sie hatten achtzehn heiße
und aufwühlende Stunden in seinem schmalen Bett verbracht. Sie
waren siebzehn gewesen – damals.
Siebzehn. Das ist schon ganz schön spät, um seine Jungfräulichkeit zu verlieren, dachte er. Aber besser spät als nie. Meine Güte, wie
groß hatte er sich nach diesem Wochenende gefühlt.
Nach der Schule trennten sich dann ihre Wege; er ging nach Edinburgh, um Medizin zu studieren, sie nach Oxford – und dort war
sie bald die Vorzeigestudentin der Loxteth High School. Ihre Fotos
tauchten in den Zeitungen auf; sie ging beim Bürgermeister ein und
aus; sie eröffnete die Sommerfeste.
Und innerhalb von sechs Monaten ging dann alles den Bach hinunter.
70
Eines Tages erhielt er einen Brief von Katrinas Mutter, in dem stand,
dass Katrina einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Er erinnerte
sich noch an jedes einzelne Wort darin. Offensichtlich unter Schock
stehend, hatte Mrs. West eine Reihe von abgehackten Sätzen zu Papier
gebracht, die an ein altertümliches Telegramm erinnerten.
Katrina ist im Krankenhaus. Ihr geht es schlecht. Wie sind sehr in
Sorge.
Und da befand sich Katrina noch immer. Nach monatelangen
Untersuchungen und eingehender Beobachtung hatte der Psychiater
paranoide Schizophrenie diagnostiziert.
Sehr häufig kann man Schizophrenie mit Chlorpomazin behandeln, und in seltenen Fällen auch mit ETC. In Katrinas Fall lag die
Ursache tiefer. Die Symptome waren vorhanden: Wahnvorstellungen
und Halluzinationen. Sie hörte Stimmen; sie war davon überzeugt,
dass sie von einer dunklen Gestalt verfolgt wurde – halb Mensch,
halb Tier. Sie schuf sich ihr eigenes – magisches – Abwehrsystem,
um die Angriffe dieser Mensch-Bestie abwehren zu können: Sie trug
immer Blau und sie putzte ihre Zähne in einer sehr speziellen Art
und Weise (sechs Mal auf und ab, dann drei Mal von links nach
recht, wobei sie immer wieder blau-blau-blau sagte). Jedes Mal,
wenn sie dieses Ritual nicht einhielt, steigerte sich ihre Angst derart,
dass sie Wahnvorstellungen bekam und man sie ruhigstellen musste.
Nach einiger Zeit bildete sie sich plötzlich ein, die Mensch-Bestie
sei ihr ehemaliger Freund, David Leppington, der eine teuflische
Transformation durchlaufen hatte und nun ihr Blut trinken und ihr
Herz verschlingen wollte.
Auf die Bitte ihrer Familie hin besuchte er sie fortan nicht mehr
im Krankenhaus; der Grund dafür lag fünf Jahre zurück: In dem
Augenblick, als sie sah, wie er mit einem Korb voll Obst die Station
betrat – er war so nervös gewesen, dass seine Hände schwitzten –,
kreischte sie wie besessen und rannte in kopfloser Furcht davon.
Und danach begann die Sache mit den Briefen. Ganz zu Anfang
schrieb sie ihm zwei- oder dreimal am Tag. Es ging immer um dasselbe Thema:
Lieber David
Ich weiß ganz genau was du willst. Ich kann fühlen, mit welcher Hingabe und Zielstrebigkeit du darauf aus bist, mir mein Blut zu stehlen.
Blut ist wertvoll; Blut ist Leben; Blut ist vergleichbar mit Rubinen;
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Rubine findet man überall – in Kronen, in der Erde; und die Erde trägt
uns, genau wie sie das Laken getragen hat, auf dem wir lagen, als dein
Penis hart in mich eingedrungen ist. Ich weiß nun, dass dieser Penis
nicht dazu da war, Leben zu spenden, sondern im Gegenteil, Leben
aus mir herauszusaugen, wie eine Röhre, durch die mein Blut abfließen
kann. Mein Blut sollte in deinen Adern kreisen …
Der Brief ging so weiter, eine chaotische Aneinanderreihung von
Gedanken – ein Beispiel für Schizophrenie wie aus dem Lehrbuch,
das er in seiner Studentenzeit gelesen hatte. Nur dass er damals nie
für möglich hielt, dass eine Person, die er liebte, jemals von so einer
heimtückischen Krankheit heimgesucht werden würde.
Ich weiß, du wirst mich töten, fuhr sie fort, willst mein Blut trinken
und mein Herz verschlingen. Ich werde in deinen starken Armen sterben.
Der klassische Verfolgungswahn – wie aus dem Lehrbuch.
Ich kann deine Schritte vor meinem Zimmer hören (und damit meinte
sie ihr Zimmer in der Klinik); deine nackten Füße mit schwarzen Sohlen wie bei einem Hund oder einer Katze …
Schizophrene können häufig Wahn und Wirklichkeit nicht mehr
unterscheiden.
Ich vertraue der Farbe Blau. Nur Blau kann mich jetzt noch retten.
Blau ist die Farbe des Himmels und der Adern unter meiner Haut, genau die Adern, in die du beißen möchtest, um mich auszusaugen. Dein
Penis wird erneut in mich eindringen und mir alles Blut nehmen. In
Wahrheit bist du ein Vampir, David Leppington. Bitte nimm sie, nicht
mich. (Ein blauer Strich führte vom Wort sie zur Fliege, die mit Tesa
angeklebt war.) Ich schicke dir mehr davon. Ganz bestimmt. Verschone
mich. Du bekommst mehr davon, sogar eine Katze, wenn es mir möglich ist. Verschlinge sie, nicht mich. Obwohl, ich sehe keinerlei Hoffnung
für mich. Ich werde in deinen starken Armen sterben …
Und so weiter und so weiter. Er riss die Packung Biskuits auf.
Der Regen, der an die Fensterscheibe trommelte, irritierte ihn über
das normale Maß hinaus. Und er wusste, dass irgendetwas nicht
stimmte. Katrinas Brief war wie ätzende Säure. Anders konnte man
es nicht beschreiben. Das verdammte Ding fraß sich in seine Gedanken. Er musste unbedingt –
Ein Klopfen an der Tür.
Er starrte die Tür einen Moment lang an, so gefangen in seinen
Gedanken an Katrina, dass er das Gefühl hatte, aus einem Traum
zu erwachen.
72
Nein nicht Traum – aus einem Alptraum.
Es klopfte erneut.
Er schüttelte den Gedanken ab und öffnete die Tür. Draußen
stand Electra mit einem Stapel frischer Handtücher. Sie lächelte ihn
freundlich an. »Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber ich wollte
Ihnen noch ein paar Handtücher bringen.«
»Oh, vielen Dank«, sagte er und nahm den Stapel etwas ungeschickt entgegen, da er in der einen Hand die aufgerissene Biskuittüte hielt und in der anderen ein angeknabbertes Biskuit.
»Die Reise hier zu uns herauf hat sie anscheinend hungrig gemacht.« Ihr Lächeln wurde noch eine Spur freundlicher, als sie sich
eine schwarzblaue Haarsträhne hinters Ohr strich.
»Ich vermute, schon.« Durfte er sie höflich bitten, hereinzukommen, oder würde sie so eine Geste falsch verstehen?, fragte er sich
und fühlte sich dabei wie ein unbeholfener Tölpel. Auf jeden Fall
war es unhöflich, sich so zwischen Tür und Angel zu unterhalten.
»Ich denke, ich sollte Sie darauf hinweisen, dass wir einen Wäscheservice haben, wenn Sie ihn benötigen. Und wir haben kein hauseigenes Fernsehprogramm, aber Sie können ein Videoabspielgerät
mieten – auf täglicher Basis.«
»Ich versuche mal, den Fernseher ein paar Tage nicht einzuschalten.« Er lächelte jetzt auch. »Die Vorteile des Landlebens genießen,
ein wenig Sport treiben. In letzter Zeit bin ich zum Stubenhocker
geworden.«
»Hm. Auf mich machen Sie den Eindruck als wären Sie ganz
schön fit, Dr. Leppington.«
»David … bitte nur David.«
»Ok, dann nur David.« Sie schmunzelte, als sie sich umdrehte.
»Oh, bevor ich es vergesse: Möchten Sie heute bei uns zu Abend
essen? Nicht als Besucher des Hotels, sondern als mein persönlicher
Gast?«
»Mal sehen. Ich habe eigentlich noch nichts anderes vor.« Er bemerkte, dass er zu stottern anfing und fragte sich, ob er dabei rot
geworden war. Diese Frau ging ganz schön ran.
»Es werden nur drei Leute anwesend sein. Sie, ich, und ein Langzeit-Mieter.«
Er zögerte. Er wollte sie nicht kränken, aber …
»Wir erfahren in diesem Kaff nicht besonders viel von der großen
weiten Welt.« Wieder dieses Lächeln. »Der letzte Gast, der mit uns
73
zu Abend aß, hat uns mit der erstaunlichen Nachricht überrascht,
dass Menschen am Mond spazieren gegangen sind.«
Er lachte amüsiert. »Ich nehme Ihre Einladung gerne an, Electra.«
»Wenn Sie dann um halb acht Uhr runter in die Bar kommen
würden – auf einen Aperitif oder so – auf Kosten des Hauses selbstverständlich. Sie sind schließlich ein berühmter Gast. Ciao.« Mit
einem weiteren, unergründlichen Lächeln auf den Lippen schwebte
sie den Korridor entlang.
David schloss die Tür und kam nicht umhin, sich zu fragen, ob
jemand heute Nacht wieder an der Tür klopfen würde. Er stellte sich
vor, wie Electra im Licht des Mondes vor der Tür stand. Und wenn
es so kommen sollte – wie würde er reagieren?
Inzwischen war es vier Uhr Nachmittag.
2.
Um halb sechs Uhr ging Bernice unter die Dusche ihres Hotelzimmers. Sie liebte das Gefühl, wenn die heißen, nadelfeinen Wasserstrahlen auf ihre nackte Haut trafen. Den ganzen Nachmittag hatte
sie mit Jenny und Angie im Packraum gearbeitet und die Blutegel
für den Versand fertig gemacht. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung, während sie immer wieder über schlüpfrigen Geschichten
von Jenny oder die Anekdoten lachten, die Angie zum Besten gab,
zum Beispiel, dass jemand ein Dracula-Themenhotel in Whitby aufmachen wollte.
Sie hatten Bernice gefragt, ob sie nicht nichts über Electra erzählen konnte, irgend ein schmutziges Geheimnis vielleicht, und ob sie
nicht dann und wann die Handelsvertreter, die bei ihr abstiegen, auf
eine Art und Weise verwöhnte, über die man nur hinter vorgehaltener Hand sprach.
»Natürlich tut sie solche Dinge«, quiekte Bernice, klebte dabei
Adressetiketten auf die Container mit den Blutegeln und bereitete
so die Ladung für den Kurierfahrer vor, der die Kisten dann abends
abholen würde.
»Los, erzähl schon«, sagten sie voller Neugierde. »Wie treibt sie es?«
»Das kann ich euch nicht erzählen.«
»Warum denn nicht?«
»Es ist un-aus-sprechlich.«
74
Angie pappte einen Aufkleber auf eine der Plastikboxen. »Unsere
Electra. Sie ist schon ein seltsames Ding, oder etwa nicht?«
»Leppingtons Antwort auf Morticia Addams«, fügte Jenny hinzu. »Hast du sie schon jemals zusammen mit einem Mann gesehen,
Bernice?«
»Mit einem lebenden, einem aus Fleisch und Blut, nicht.«
Die drei Frauen kicherten und kicherten.
Als Bernice nach der Arbeit ins Hotel gekommen war, hatte Electra sie aufgehalten. »Wir haben einen neuen Gast, Bernice. Er ist
einfach hinreißend. Ich habe ihn zum Abendessen eingeladen. Ich
dachte mir, wir beide könnten ein anregendes Gespräch gut vertragen.« Dann lächelte Electra anzüglich und fügte flüsternd hinzu: »Ich habe ihn direkt im Zimmer neben dir einquartiert.« Dann
schwebte sie davon mit einem »Drinks gibt es um halb acht. Zieh
dein bestes Kleid an und verspäte dich nicht. Der frühe Vogel fängt
den Wurm. Du kennst das ja …«
Bernice drehte sich so, dass ihr Rücken den Duschvorhang berührte und genoss die heißen Stiche der dünnen Wasserstrahlen. Sie
schloss die Augen und hob den Kopf, sodass ihr das Wasser übers Gesicht strömte. Obwohl die Nachricht erfreulich und sie selbst guter
Dinge war, versuchte ihr ihre Einbildungskraft, diese Wurzel allen
Übels, sofort wieder einen Strich durch die Rechnung zu machen.
Warum muss ich immer an diese Szene in Psycho denken?, fragte
sie sich. Ja, genau an diese eine Szene. Das Mädchen steht unter
der Dusche. Überall Dampf. Dann der Schatten, der sich auf dem
Duschvorhang abzeichnet. Der Umriss einer erhobenen Hand, die
ein Messer hält. Ich werde diese Vorstellung nicht los. Sie verdirbt
mir alles, worüber ich mich freue. Und nein, ich denke jetzt nicht
an die Videobänder im Schrank. Wenn ich jetzt nicht daran denke,
werde ich auch in der Nacht nicht aufwachen, um an sie zu denken.
Und ich werde mich nicht fragen, was mit dem Mann passiert ist,
der in meinem Zimmer gewohnt hat. Mike Stroud mit den blonden Haaren und der freundlichen Stimme … Hör auf, drüber nachzudenken, Bernice. Du weißt genau, dass es immer so anfängt …
Denke lieber an den neuen Gast im Zimmer nebenan.
Wie er wohl ist? Groß, braungebrannt, gutaussehend? Oder klein
und dick, mit Haaren, die ihm aus den Ohren wachsen?
Bernice schloss erneut die Augen und drehte den Rücken in den
Wasserstrahl. Das Wasser lief an ihr herab, über ihren Körper, hinab
75
zu den Füßen, nahm dabei den Geruch ihres Duschbades an, genau
wie ihr Körper, und gurgelte in das Abflussrohr, bevor es vier Stockwerke in die Tiefe fiel und in der Kanalisation verschwand.
Electra trug sorgfältig die Wimperntusche auf. Sie hatte wirklich lange Wimpern und im Spiegel sah sie ihr Haar stahlblau schimmern.
Draußen regnete es. Als Cleopatra, die Königin Ägyptens, und ihr
Geliebter, Marc Anton, die Schlacht bei Aktium verloren hatten,
wussten sie, dass das Römische Heer bald vor ihrem Palast in Alexandria stehen würde. Sie wussten, dass man sie töten würde. Aber
anstatt Trübsal zu blasen, bis ihr Ende gekommen war, gaben sie
ausschweifende Gelage, lauschten schöner Musik und liebten sich.
Electra legte eine Kette mit schwarzen Perlen an. Sie wusste, wie
Cleopatra und Mark Anton damals zumute war. Auch sie würde
alles herausholen, was das Leben ihr noch zu bieten hatte – egal wie
lange diese Leben noch dauern mochte.
Weit unter dem Hotel, in den gemauerten Röhren der Kanalisation,
strömte das Wasser durch absolute Dunkelheit. An einem kleinen
Zuflussrohr mischte sich warmes mit dem kalten Wasser im Hauptkanal. Dort, weit unten, prüften Nasen das Wasser und unterschieden künstlich erzeugte Gerüche von denen eines Menschen. Ein
freudiger Schauder überkam sie und sie zwängten ihre dicken Leiber
in den Tunnel. Zwischen dem Geruch des Shampoos und des Duschbades – Tarnvorrichtungen der modernen Zivilisation – witterten sie
einen Menschen. Er roch süß, verlockend, und der Geruch kündete
von dem Blut, das durch die Adern dieses Menschen pulsierte.
Oh, wie lange hatten sie schon gehungert. Das Verlangen nach
diesem Blut brannte wie Feuer in ihren Mägen. Nur menschliches
Blut konnte dieses Feuer löschen.
Ihre Zeit war gekommen.
Er hatte es ihnen versprochen …
3.
»Wo willst du in einer Nacht wie dieser hin?«
Er wollte nicht. Er musste.
»Ich habe es den Jungs auf der Arbeit versprochen.«
»Ich dachte, du wolltest dich nicht mit ihnen abgeben.«
76
»Tue ich auch nicht.«
»Und warum gehst du dann trotzdem?«
Jason Morrow sah hinab auf seine Frau, wie sie im Sessel hockte
und durchs Fernsehprogramm zappte, auf der Suche nach einer
Sendung, an der sie nicht schon nach zehn Minuten das Interesse
verlor.
»Ich muss«, sagte er. »John Fettner verlässt die Truppe.«
»Ich dachte, du kannst ihn nicht leiden?«
Ihre Stimme klang argwöhnisch. Sie wusste, dass er log.
»Natürlich kann ich nicht behaupten, dass er ein Freund von mir
wäre.« Er schlüpfte in seine Lederjacke. »Ich bin froh, wenn wir diese
faule Sau los sind. Aber ich gehöre jetzt zur Führungsebene, da wird
das von einem erwartet.«
»Wie lange wirst du wegbleiben?«
Nimm doch die Nachttischlampe, du alte Schlampe, dachte er
und spürte, wie die Wut in ihm hochkochte. Nimm einen Gummischlauch und prügle ein Geständnis aus mir heraus. Du wärst
überrascht, was du dabei erfahren würdest.
»Nur ein paar Stunden«, sagte er und versuchte, ganz ruhig zu
bleiben.
»Da ist ein Schokoladenriegel in der Anrichte. Holst du ihn mir
bitte?«
Als wenn nichts gewesen wäre, zählte er das Geld in seiner Tasche.
Genug, falls er dafür bezahlen müsste.
Sie zündete sich eine Zigarette an und drehte sie zwischen den
Fingern. Ich wette darauf, dass sie sich wünscht, die Zigarette wäre
meine Gurgel, dachte er voller Zorn. Schlampe. Du hast mich zu
dem gemacht, was ich jetzt bin. Du bis Schuld daran!
Er zwang sich zu einem Lächeln, aber sofort musste er sich oberhalb der linken Augenbraue kratzen. Wie immer, wenn er nervös
war. »Bis später, Liebling. Soll ich dir was vom Chinesen mitbringen?«
»In Ordnung. Wahrscheinlich ist das alles, was ich heute Nacht
noch von dir bekomme.«
»Ist eigentlich noch Bier in der Speisekammer?«
»Los, Jason.« Sie blies Rauchringe in die Luft und spitzte dabei die
Lippen. »Mach schon, lass deine Freunde nicht warten.«
»Bis später dann.« Genau in dem Moment, als er sie küssen wollte,
wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Fernsehprogramm zu,
77
und da sie nicht mehr zu ihm aufsah, küsste er sie auf die Stirn. Der
Geruch ihrer ungewaschenen Haare stieß ihn ab. Da war Zigarettenrauch noch angenehmer.
»Bis später also«, wiederholte er noch einmal.
»Hoffentlich.«
An der Tür hielt er inne und drehte sich noch einmal zu ihr um.
Sie war jetzt achtundzwanzig. Früher einmal war sie sehr hübsch
gewesen.
Eigentlich wollte er noch hinzufügen: »Ich liebe dich.« Solche
zärtlichen Worte waren ihm früher über die Lippen gekommen,
aber jetzt blieben sie ihm im Halse stecken.
Also schlüpfte er schnell in den Flur und hinaus durch die Hintertür, wo sein Auto am Straßenrand parkte.
Gott, wie er das hasste! Aber er musste es tun. Es war wie ein
schleichendes Gift. Alle paar Wochen spürte er, wie sich der Druck
in ihm aufbaute. Dann musste er Dampf ablassen, oder es würde ihn
zerreißen. Das wusste er. Und dann brachte er dieses Gift und den
Wahnsinn, diesen verdammten Wahnsinn, über die Stadt.
Er gab seiner Frau die Schuld an seinem ekelhaften Verhalten. Er
wünschte sich, er würde diese Dinge nicht tun. Und manchmal vergaß
er die ganze Sache sogar für ein paar Wochen. Und dann baute sich
der Druck wieder auf, stärker und stärker, und vergiftete sein Leben.
Schrei es hinaus, los. Es ist alles die Schuld dieser Schlampe.
Er sperrte den Wagen auf, klemmte sich hinters Steuer und
rammte den Schlüssel ins Zündschloss. Also, wo sollte er es zuerst
versuchen? In welchem Jagdrevier? Das seltsame Grinsen, das sich
auf seinem Gesicht abzeichnete, war kein Anflug von Humor. Es
war eher schon ein wildes und grauenerregendes Fletschen.
Jesus, das machte genauso viel Spaß wie russisches Roulette mit
einer Patrone in jeder Kammer. Es war nur eine Frage der Zeit, bis
es zum großen Knall kam. Dann wäre alles vorbei. Finito. Friede
seiner Asche.
Allmächtiger, Jason Morrow wusste – wusste ganz genau – warum
sich die Menschen selbst umbrachten. Sie verkrochen sich in eine
Ecke. Sie sahen keinen Ausweg mehr. Er kratzte sich wieder über der
linken Augenbraue. Wenn überhaupt, dann wusste er nur, dass er
diese Marotte von seinem Urgroßvater, William R. Morrow geerbt
hatte. Wenn der sich ertappt fühlte, dann kratzte er sich genau an
der selben Stelle über der linken Augenbraue.
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Kein Ausweg – kein Ausweg – kein Ausweg …
Vor hundert Jahren hatte es Urgroßvater Morrow genauso gemacht. Er hatte sich gekratzt, während er seine Unterschrift unter
seinen Abschiedsbrief setzte.
Dann während er sich noch kratzte … Kein Ausweg – kein Ausweg
– kein Ausweg … hatte er das Gas aufgedreht. Damals war das noch
eine tödliche Angelegenheit, da man Gas aus Kohle herstellte.
William Morrows Urenkel drehte den Zündschlüssel herum. Der
Motor sprang an.
Jason kratzte sich mit seinen Wurstfingern am Kinn.
Kein Ausweg.
Jason war sich dessen so sicher, als hätte jemand die Worte in
Leuchtfarbe an sein beschissenes Haus gepinselt.
Sein Urgroßvater hatte sich das Leben genommen. Doch sein Urenkel wusste nichts über die Geschichte seiner Familie, wusste nichts
über das, was weiter zurücklag als die Heldentaten seines Großonkels, der 1944 beim Sturm in der Normandie dabei war.
Jason Morrow würde nicht die Gelegenheit zu dieser Form der
Selbsttötung haben – wie man es heutzutage nannte.
Er würde sterben.
Sehr bald schon.
Und zwar auf eine furchtbare Art und Weise.
79
KAPITEL 8
1.
David Leppington hatte sich ein Baumwollhemd und eine leichte
Hose angezogen und ging die Treppe hinunter in die Lobby. Kein
Mensch war zu sehen, aber aus einer Tür hörte er Musik aus der
Jukebox und gedämpfte Stimmen. Wahrscheinlich war das die Bar.
Electra hatte ihn aber in die Lounge gebeten. Er sah sich um, entdeckte eine Glastür, über der in goldenen Lettern Lounge prangte,
und trat ein.
Eine Blondine mit auffallend braunen Augen stand hinter dem
Tresen und schaufelte Eiswürfel in einen großen Plastikkopf, über
dessen Augen der Name irgendeines Alcopops aufgedruckt war.
Katrinas Brief ging ihm nicht aus dem Kopf. Er musste an die Fliege
denken, die sie mit Tesa daran befestigt hatte.
Was Katrina wohl gerade tat, dort im Irrenhaus? Warf sie sich im
Bett herum und summte leise vor sich hin, während ihr der Speichel
aus den Mundwinkeln lief? Und stellte sich vor, wie ihr Exfreund
den Tesafilm abriss und sich die fette Fliege in den Mund stopfte?
Möglicherweise tat sie das. Vielleicht bildete sie sich auch ein, dass
er gerade vor ihrem Zimmer auf- und abging und es kaum erwarten
konnte, sie in den Hals zu beißen und …
Das Mädchen starrte ihn an. Wahrscheinlich vermutete sie, dass er
derjenige war, der zum Essen angekündigt war.
Bestelle ein Bier und lächle, sagte er zu sich.
»Hallo. Ein Guinness bitte.« Er kramte in seiner Tasche nach
Kleingeld.
»Sind Sie Dr. Leppington?«, fragte das Mädchen und klappte einen Schädeldeckel auf den Plastikkopf mit Eis.
Neuigkeiten sprachen sich schnell herum in Leppington.
»Erraten«, sagte er und lächelte dabei. »Ich habe Zimmernummer
407; soll ich es gleich bezahlen oder schreiben Sie es aufs Zimmer?«
»Weder, noch«, antwortete das Mädchen. »Ich bin ein Gast wie
Sie.«
»Oh, entschuldigen Sie bitte, ich dachte, weil Sie hinter der Bar
stehen …«
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»Ich helfe Electra nur ein wenig, weil der Hausmeister immer
noch nicht da ist, und bevor deswegen das Chaos ausbricht … ein
Guinness, oder?«
»Vielleicht sollten wir noch ein wenig warten?«
»Electra sagte, wir können uns selbst bedienen, und ich verstehe
was vom Zapfen«, erklärte das Mädchen, nahm ein leeres Glas und
ging zum Zapfhahn. »Der Trick dabei ist, das Glas genau im richtigen Winkel unter den Hahn zu halten. So etwa …« Sie achtete
dabei genau auf den weißen Bierschaum. »Und wenn man Guinness
einschenkt, dann sollte man das Glas nur zum Teil füllen und dem
Schaum etwas Zeit geben, sich zu setzen.«
Es sah, wie sie auf die Hand schielte, in der er das Geld hielt.
»Nein, das ist schon in Ordnung, Dr. Leppington«, sagte sie freundlich. »Sie sind Electras Gast. Das Bier geht aufs Haus.«
»Herzlichen Dank.«
Das Mädchen wischte sich die Finger an einem Geschirrtuch ab
und streckte ihm dann die Hand entgegen. »Freut mich, sie kennenzulernen. Ich bin Bernice Mochardi und wahrscheinlich gehöre ich
schon zum Inventar des Bahnhofshotels, da ich schon seit über zwölf
Wochen hier wohne.«
»David Leppington.« Er schüttelte ihr freundlich die Hand. »Zwölf
Wochen? Welcher Mensch hat denn so viel Urlaub?«
»Ehrlich gesagt arbeite ich hier in der Stadt. Ich bin immer noch
auf der Suche nach einer geeigneten Wohnung, aber je länger ich
in diesem Hotel lebe, desto weniger treibe ich meine Suche voran.
Es ist alles so einfach und bequem. Ich muss meine Wäsche nicht
selbst waschen und keine Betten machen. Klingt verrückt, was? Ist
aber so.«
David fand sofort Gefallen an ihr. Ihre braunen Augen waren genauso lebhaft wie ihr Lächeln, und sie schien ihm eine freundliche
junge Frau zu sein, die mit beiden Beinen fest im Leben stand.«
»Setzen Sie sich doch.« Bernice deutete auf die Stühle mit pflaumenfarbigem Bezug, die um schmiedeeiserne Tische standen. »Ich
mache mir nur eine Flasche Bier auf und dann geselle ich mich zu
Ihnen.«
David nahm den Tisch, der gleich neben dem Tresen stand. »Electra Charnwood scheint mir wie geschaffen für eine Hotelbesitzerin
zu sein. Aber viel verdienen wird sie an uns nicht, wenn sie uns die
Drinks alle spendiert.«
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»Es kommt auch nicht alle Tage vor, dass uns einer der berühmten
Leppingtons über den Weg läuft. Electra meint, die Wahrscheinlichkeit dafür wäre so gering wie die für einen Besuch der Königlichen
Familie.«
»Königliche Familie? Ich fürchte, da muss ich Electra enttäuschen.
Die einzige Krone, die ich habe, ist mein Haarkranz um meine beginnende Glatze.«
Sie lachte. »Erzählen sie keinen Unsinn. Sie haben doch noch jede
Menge Haare.« Dann wurde sie rot, als befürchtete sie, ein wenig zu
vertraulich geworden zu sein. »Machen Sie Urlaub hier?«
»Ich habe meine Reise nur kurz unterbrochen, weil ich wissen
wollte, wie die Stadt inzwischen aussieht.«
»Haben sie mal hier gelebt?«
Oh Mann, Neuigkeiten sprachen sich hier wirklich schnell herum.
»Ja, bis ich sechs war. Ich konnte mich kaum mehr an die Stadt erinnern. Aber ich kann mich vage daran erinnern, dass ich in diesem
Hotel schon mal ein Schinkensandwich gegessen habe.« Er lächelte.
»Solche Dinge prägen sich einem Sechsjährigen eben ein. Ich erinnere mich zwar an das Sandwich, aber nicht an das Aussehen des
Hotels.«
»Guten Abend, Dr. Leppington«, rief Electra gut gelaunt, als sie
die Lounge betrat. »Entschuldigen Sie bitte, David wollte ich sagen.
Guten Abend, Bernice.«
»Hi«, antwortete Bernice.
David stand auf und hatte irgendwie das Gefühl, dass er sich verbeugen sollte. »Guten Abend, Electra.«
»Bernice, ich sehe, du hast dich schon um das leibliche Wohl unseres Gastes gekümmert. Sehr schön.« Electra stand am andern Ende
des Raumes und sah in ihrer schwarzen, ledernen Hose und der weichen, purpurnen Seidenbluse einfach umwerfend aus.
»Ich bin meinem Zeitplan voraus«, sagte sie schnell, und sie kam
David dabei vor wie ein Offizier, der den Sturm auf die Bastille minutiös vorausplant. »Wir essen in genau zehn Minuten. Ist das in
Ordnung? Und Vegetarier haben wir zufällig auch keinen unter uns?«
David schüttelte den Kopf.
»Gut«, verkündete sie. »Genaugenommen sollte es heute Fisch
geben, weil Freitag ist. Aber da Leppington seine heidnische Vergangenheit nur schwer abschütteln kann, dachte ich, es wäre besser,
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wenn wir dafür ein paar Hirschsteaks auf den Tisch brächten, nur
zart angebraten natürlich.« Noch während sie sprach, ging sie voller
Elan um den Tresen herum zum Regal mit den Gläsern, genehmigte
sich einen ansehnlichen Gin-Tonic, nahm einen Eiswürfel aus dem
Plastikkopf und ließ ihn ins Glas klingeln. Danach kam sie herüber
an ihren Tisch, wobei die schwarze Lederhose im weichen Licht der
Barbeleuchtung schimmerte.
»Wie es scheint, habt ihr euch schon beschnuppert.« Sie lächelte geheimnisvoll über den Rand des Glases hinweg, bevor ihn ihre roten
Lippen berührten. »Ihr müsst euch eine Menge zu erzählen haben,
da ihr ja beide beinahe in der selben Branche arbeitet.«
»Aber nicht doch.« Bernice lachte.
David nippte an seinem Guinness und zuckte zusammen, weil es
eiskalt war. »Sie arbeiten im Krankenhaus?«, fragte er Bernice.
Die grinste wie ein kleines Mädchen und schüttelte den Kopf. »In
der Farm.«
»Der Farm?«
»Nicht in irgendeiner alten Farm«, fügte Electra hinzu und setzte
sich direkt neben David. Man sah dabei, wie athletisch gebaut sie
eigentlich war. »Die Farm.«
»Es ist eine Blutegelfarm«, erklärte Bernice.
»Gehören Blutegel nicht eher ins Mittelalter?« Electra nahm einen
großen Schluck Gin-Tonic. »Nein danke, ich vertraue da lieber auf
die moderne Medizin. Was meinen Sie, Doktor?«
»Blutegel finden in der modernen Medizin mehr und mehr Verwendung. Es ist nicht nur ihre Fähigkeit, Blut zu saugen, die sie
so wertvoll macht. Die Pharmaindustrie gewinnt aus ihnen einen
Gerinnungshemmer, der als Hirudin bekannt ist. Ich weiß, der Gedanke an Blutegel kann einem den Appetit verderben, genau wie
der Gedanke an Maden, aber beide haben durchaus nützliche Eigenschaften.«
»Aber sicher doch«, antwortete Electra gut gelaunt. »Mit Maden
behandelt man Verbrennungen und Verletzungen, bei denen die Gefahr von Wundbrand besteht. Oder etwa nicht?«
David nickte. »Maden fressen nur totes Gewebe, kein lebendiges.
Wenn sie richtig an den Wundrändern angesetzt werden – und ich
spreche hier von Maden, die zu medizinischen Zwecken gezüchtet
wurden – säubern sie die Wunde von totem, möglicherweise infiziertem Gewebe. Wenn sie ihre Arbeit verrichtet haben, entfernt
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man sie, und normalerweise heilt die Wunde dann schneller, sauberer und es entsteht weniger Narbengewebe als bei allen anderen
modernen Therapieformen.«
»Wir können also von unseren Ahnen noch so einiges lernen«,
sagte Bernice vorsichtig. »Blutegel kommen auch dann zum Einsatz,
wenn abgetrennte Gliedmaßen wieder angenäht werden. Die Mediziner können so sicherstellen, dass die verbundenen Arterien das
Blut sicher weitertransportieren.«
»Möglicherweise verwendet man Bernices Blutegel auch bei dem
Mann, den Sie heute gerettet haben«, sagte Electra zu David und
fixierte ihn mit stahlblauen Augen. »Aber Bernice weiß ja gar nichts
von der Sache, oder, Schätzchen?«
»Ich glaube, das ist auch kein besonders gutes Gesprächsthema so
kurz vor dem Essen«, antwortete David.
»Ach was, Bernice ist ganz schön hartgesotten, oder, meine Liebe?«
Also blieb David nichts anderes übrig, als die ganze Geschichte
noch einmal zu erzählen. Er erzählte alles genau so, wie es sich zugetragen hatte, ohne dabei zu übertreiben, und er freute sich über
das Interesse der beiden. All das drängte seine Gedanken an Katrinas
Brief in den Hintergrund.
»Und, war es eine Ratte?«, fragte Bernice, als er geendet hatte.
»Auch wenn die Schneidezähne einer Ratte härter als Stahl sind
und sie mit einem Druck von über 500 Kilogramm pro Quadratzentimeter zubeißen können, sahen die Wunden nicht so aus, als
stammten sie von einer Ratte. Die Anzeichen sprechen eher für
Quetschungen, nicht für Nager.«
»Überhaupt – es gibt keine Ratten in Leppington«, fügte Electra
hinzu. »Erstaunlich, was?«
»Wirklich schwer zu glauben«, antwortete David und lächelte sie
an. »Dieser Landstrich ist seit Urzeiten von der Wanderratte verseucht. Wir sehen sie nur nicht oft, weil sie sich normalerweise unterirdische Gänge gräbt oder in der Kanalisation lebt, anders als die
Hausratte, die oft im Dachgeschoss oder in Hecken anzutreffen ist.
So ganz nebenbei: Ich möchte nicht, dass Sie glauben, ich wollte
Ihnen hier eine Vorlesung über Ratten geben, aber ich muss gelegentlich Angestellte von Wasserwerken zum Thema Gesundheit und
Hygiene unterrichten; und wenn ich einmal mit dem Thema Ratten
angefangen habe, dann spule ich das wie selbstverständlich ab.«
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»Es gibt hier auch keine Hausratten.« Electra stand auf und ging
zur Bar, um sich einen neuen Gin-Tonic einzugießen. »Fragen Sie bei
den Kammerjägern nach. Die wissen nicht mal, dass es Leppington
gibt.«
»Wenn Sie doch eine Hausratte sehen sollten«, lachte David, »denken Sie an meine Worte: Sie ist alles andere als ausgerottet. Vor ein
paar hundert Jahren überschwemmte die Wanderratte unser Land
und man dachte lange Zeit, sie hätte die Hausratte verdrängt.«
Bernice rümpfte die Nase. »Wenn es keine Ratte war, die dem
Mann Finger und Daumen abgebissen hat – was dann?«
David zuckte die Achseln und beschloss, die Bissspuren, die von
einem Menschen stammen mussten, nicht zu erwähnen. »Ich kann
mir vorstellen, dass da irgendeine Maschine gewesen sein könnte,
etwa eine alte Pumpe, eine Hebanlage, die das Wasser irgendwohin
befördert.«
»Aber die Arbeiter hätten über so etwas doch sicherlich Bescheid
gewusst, oder?«
Er nippte an seinem Guinness. »Eine mysteriöse Angelegenheit.
Aber eines ist sicher –«
»Und das wäre?«
»Ich werde meine Finger bestimmt nicht da reinstecken, um das
auszuprobieren. Prost zusammen.«
2.
Jason Morrow fuhr durch die engen Gassen, die aus Leppington
hinauf in das hügelige Umland führten. Die Scheinwerfer tauchten
immer wieder Büsche, die sich im Wind bewegten, in ihr grelles
Licht. Für Jason sahen sie aus wie Schweine, und er hätte schwören können, dass sie neben seinem Auto herliefen und alles daran
setzten, mit ihm Schritt zu halten.
Er wollte zuerst dem Erholungsgebiet am Rande der Stadt einen Besuch abstatten. Vielleicht fand er dort, was er suchte. Dann
könnte er seinen verdammten, brennenden, vergiftenden Hunger
stillen. Wenn der erst einmal gestillt war, würde er für ein paar Wochen ruhig dasitzen können und seiner Frau dabei zusehen, wie sie
Schokolade in sich hineinstopfte und ein Bier nach dem anderen
trank und ihren Schweinsäuglein eine nicht enden wollende Diät
aus TV-Soaps gönnte.
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Vor ihm erhob sich ein riesiges Schild in der Dunkelheit:
LEPPINGTON COUNTRY PARK.
Er bog nach rechts ab; die Reifen knirschten auf dem Kies.
Jason Morrow würde nur noch etwa eine Stunde leben.
3.
Das Abendessen war ein voller Erfolg. David fand Bernice sofort
sympathisch, aber sein erster Eindruck von Electra war der, dass sie
dazu neigte, etwas hochnäsig, ja sogar eine Kratzbürste zu sein. Bald
jedoch begann auch sie, sich zu entspannen (kräftig unterstützt von
mehreren großen Gin-Tonic und dem Rotwein, der zu den Hirschsteaks serviert wurde). Sie sprachen nur über Belanglosigkeiten, obwohl Electra gelegentlich ganz interessante Bemerkungen über ein
Theaterstück von Shakespeare machte, das sie vor einiger Zeit gesehen hatte, oder Museen erwähnte, die sie in Barcelona, Rom oder
sonstwo besucht hatte.
Ihr Essen nahmen sie in einem kleinen Nebenraum ein, der von
der Hotelbar durch eine Wand mit Milchglasfüllungen abgetrennt
war. Gelegentlich erspähte David den Umriss der Leute, die in der Bar
tranken, und hin und wieder hörte man das Lachen der Männer.
Bernice hatte keinen rechten Appetit. Während des Essens tauchte
immer wieder das Bild von Mike Stroud mit seinen blonden Haaren
und seiner Brille vor ihren Augen auf – des Mannes auf dem Video.
Sie versuchte, sich an der Unterhaltung zu beteiligen, um diese Bilder aus ihren Gedanken zu verscheuchen. Aber schon bald ertappte
sie sich dabei, wie sie daran dachte, hinunter in den Keller zu gehen,
wo der Kampf des Mannes mit dem unsichtbaren Angreifer gefilmt
worden war.
Gleich morgen gehe ich hinunter, sagte sie sich, sobald Electra mit
dem Zug nach Whitby gefahren ist, um am Vormittag ihre Einkäufe
zu erledigen. Ich spiele dann Detektiv und finde heraus, was mit
ihm geschehen ist.
Sie nippte an ihrem Wein und betrachtete David Leppington.
Er lächelte und plauderte mit Electra. Über seinen blauen, jungenhaften Augen wölbten sich ein Paar dunkler Brauen, die ihn sehr
attraktiv aussehen ließen.
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Wenn er sie mit diesen blauen Augen anblickte, was sah er dann?
Er war immer das selbe Spiel, das sie bei solchen Gelegenheiten
spielte. Sie stellte sich vor, sie könnte sich durch die Augen der
anderen sehen. Würden ihm ihre braunen Augen und ihr blondes
Haar gefallen? Aber würde er nicht vielleicht denken, dass sie im
Vergleich zu Electra ungebildet und einfach gestickt wäre, da diese
ohne zu zögern Shakespeare oder sogar ein paar Zeilen von Oskar
Wilde rezitieren konnte – selbstbewusst und ohne lange nachdenken
zu müssen?
Und überhaupt, der blaue Nagellack war ein großer Fehler, schalt
sie sich selbst und schaute ihre blauen Fingernägel dabei an. Die
Dinger ließen sie aussehen, als wäre sie erst ein vierzehnjähriger Teenager. Und jetzt redeten die beiden auch noch über Sachen, von denen sie keine Ahnung hatte. Epstein. War das ein Bildhauer? Ein
Dichter? Oder doch ein Maler? Könnte sogar nur ein Nebendarsteller in einem x-beliebigen Film sein; sie hatte keine Ahnung.
Hoffentlich ist das Abendessen bald vorbei und ich kann mich in mein
Zimmer verziehen.
Morgen gehe ich in den Keller. Ich werde Detektiv spielen und herausfinden, wer der Mann mit der Brille ist – oder war –, und ich werde
herausbekommen, was mit ihm geschehen ist.
»Electra? Könnten Sie bitte einen Moment in die Küche kommen?« Bernice erwachte aus ihren Tagträumen. Eines der Barmädchen hatte Electra gerufen.
»Kann das nicht bis nach dem Kaffee warten?«, fragte Electra.
»Da ist jemand am Lieferanteneingang, der sie unbedingt sprechen möchte.«
»Und wer?«
»Hat er nicht gesagt.«
»Ein Mann?« Electra lächelte schief. »Mhmm. Vielleicht ist heute
mein Glückstag.« Sie wischte sich ihre Lippen an der Serviette ab.
»Wenn Sie mich bitte einen Augenblick entschuldigen wollen, die
Arbeit ruft.«
Electra schwebte hinaus, gefolgt von dem Barmädchen.
»Eine bemerkenswerte Frau«, sagte David zu Bernice mit einem
Lächeln.
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4.
Jason Morrow parkte seinen Wagen neben den öffentlichen Toilettenanlagen. Ringsherum war es stockfinster und er konnte nur ein
paar Baumwipfel gegen das Licht des Mondes erkennen. Er hielt
einen Moment inne und kratzte sich über der Augenbraue.
Los, bring es hinter dich. Dann kannst du zurück zu Miss Piggy und
dich vor dem Fernseher mit Wodka zulaufen lassen.
Er stieg aus und machte die Wagentür so leise wie möglich zu.
Hier bin ich, dachte er kläglich, wie ein Dieb in der Nacht.
Dann schlich er in Richtung der Herrentoiletten.
Nein, schwul war er nicht. Jedem, der dies von ihm behauptet
hätte, hätte er eine in die Fresse gehauen. Er hatte nur dieses bizarre
Verlangen – immer und immer wieder. Manchmal war es wie weggeblasen und ließ ihn für Wochen, ja Monate in Ruhe.
Ok, er hatte Sex mit Männern. Aber deswegen war er noch lange
nicht schwul. Der Gedanke daran stieß ihn ab. Er hatte nur dieses
verdammte Laster … diese Sucht … dieses Jucken …
Er betrat die Toiletten. Die Urinale waren verdreckt, verstopft
und stanken nach allem, was irgendjemand hineingeworfen hatte.
Eine einsame Neonröhre flimmerte und flackerte und beleuchtete
den Raum. Dies war der Ort, wo die ortsansässigen Schwulen ihre
Strichjungen trafen … nur dass er kein Schwuler war, dachte er
grimmig. Bei ihm war es nur ein bizarrer Drang, den er wieder und
wieder austreiben musste – wie ein Exorzist einen Dämon. Warum,
wusste er nicht; er hoffte, dass er eines Tages aufwachen würde und
alle wäre vorbei.
Hoffentlich wartete einer der Stricher in einem der Scheißhäuser,
dann könnte er es hinter sich bringen, und in zehn Minuten wäre
alles vorüber.
Verdammt ... die Kabinen waren alle leer.
Was nun? Rüber nach Whitby fahren?
Nein, das dauerte zu lange.
Vielleicht – wenn er einige Minuten wartete, vielleicht würde
dann eine dieser verlausten Schwuchteln auftauchen.
Er schloss sich in eine der Kabinen ein. Die Kloschüssel hatte
Sprünge, Toilettenpapier lag wie eine durchgeweichte Fußmatte auf
dem Boden, Tür und Wände waren mit Graffiti versaut.
Die Minuten verrannen, und er wartete stumm. Voller Spannung
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mit klopfendem Herzen. Er fühlte sich nicht gut bei dem Gedanken
an das, was er tun wollte – etwas das bemitleidenswert, widerwärtig,
abstoßend war.
Irgendwer würde hier vorbeikommen. Er war sich ganz sicher, so
wie sich ein verurteilter Mörder sicher sein konnte, auf dem Elektrischen Stuhl zu landen.
Die Neonröhre flimmerte und flackerte. Der Gestank brannte
ihm in der Kehle.
Dann setzte sein Herschlag für einen Augenblick aus.
Er hielt den Atem an und lauschte.
Draußen waren leise Schritte zu hören.
Sein Mund wurde trocken. Er schob den Riegel zurück und öffnete die Tür.
Und genau in diesem Moment ging das Licht aus.
5.
»Sollen wir ihn behalten?«
»Ich verstehe nicht …«, antwortete Bernice total verwirrt.
Nachdem Electra nicht aus der Küche zurückgekehrt war, hatte sie
nach ihr gesucht. Sie fand sie, wie sie sich aus dem Fenster zum Hinterhof lehnte, und ein merkwürdiges Lächeln huschte dabei über ihr
Gesicht.
»Ihn behalten«, wiederholte Electra und machte eine Kopfbewegung zum Fenster hinaus. »Du weist schon, als Schoßhündchen
oder als Spielzeug.«
Immer noch verwirrt blickte Bernice aus dem Fenster. Im kalten
Licht der Hinterhofbeleuchtung stand ein junger Mann, das Gesicht
voller Tattoos. Er trug Bierkästen von einem der Lagerräume da
draußen zum Hintereingang. Sein Schatten huschte über die Wände
des Hinterhofes und sah dabei aus wie der Umriss einer riesigen
Bestie.
»Der sieht aus, als wäre er gerade aus dem Knast ausgebrochen«,
sagte Bernice und erschauderte. »Mir gefällt nicht, wie er aussieht.«
»Mhhmm …«, machte Electra verträumt. »Er hat zweifellos seine
Qualitäten. Du starrst ihn doch selber unentwegt an, oder täusche
ich mich da?«
»Er sieht aus wie ein Monster. Vielleicht ist er ein Straßenräuber.«
»Wenigstens macht er sich nützlich. Jim, der Penner, ist schon
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wieder nicht zur Arbeit erschienen.«
»Und wer ist dieser Mann?«
Electra zuckte die Achseln. »Er ist einfach an der Tür aufgetaucht
und hat nach Arbeit gefragt – als Gegenleistung für ein paar Übernachtungen.«
Bernice sah Electra entsetzt an. »Du wirst ihm doch nicht etwa ein
Zimmer geben?«
»Warum denn nicht?«
»Er sieht aus wie ein Schläger.«
»Mhmm … möglicherweise. Aber vielleicht könnte er etwas Abwechslung in unser langweiliges Leben bringen – und Unterhaltung.«
Bernice lachte nervös. »Unterhaltung? Du scherzt wohl.«
»Ich meine es absolut ernst, meine Liebe. Hast du diese Narben in
seinem Gesicht gesehen? Und seine Tattoos? Ist er nicht die Männlichkeit in Person?«
»Electra, er sieht aus wie eine wildes Tier. Warum um alles in der
Welt willst du, dass er hierbleibt?«
»Ich bin sicher, da fällt mir schon etwas ein.« Sie lächelte wieder
dieses geheimnisvolle Lächeln.
Bernice war erschüttert. Sie fragte sich, ob da plötzlich ein Funken
Wahnsinn in Electra aufflackerte – selbstmörderischer Wahnsinn, genauer gesagt –, obwohl sie bisher so normal und anständig schien.
»Bitte, Electra, schicke ihn weg. Schau ihn doch an. Glaubst du
denn nicht, dass er dir gefährlich werden könnte?«
»Ich weiß, dass er mir gefährlich werden könnte. Jetzt nimm dich
zusammen, meine Liebe. Er kommt gerade zur Tür herein.«
6.
Er trat die Tür mit dem Fuß auf. Die Bierkästen trug er dabei mit
einer Leichtigkeit, als wären es Kissen voller Daunen. Die beiden
Frauen in der Küche konnten die Blicke nicht von ihm abwenden.
Die Größere lächelte. Sie trug eine eng anliegende Lederhose und
hatte Haare, die schwarzblau schimmerten. Die andere hatte blaue
Fingernägel und sah ziemlich erschrocken aus.
Sie hatten allen Grund, verängstigt zu sein.
Verdammte kleine Schlampen.
»Wo soll ich sie hinstellen?«, brummte er.
90
»Da, neben den Kühlschrank«, sagte die Große und lächelte noch
immer.
Er wusste, dass sie ihn gleich nach seinem Namen fragen würde.
Und er wusste auch, dass sie ihm ein Zimmer geben würde. Er
wusste nicht, warum er das so genau wusste. Er wusste es einfach,
so wie er wusste, dass heute Freitag war und morgen Samstag. Er
wusste es einfach und fertig.
Sein Name?
Welchen Namen würde er ihnen sagen?
Er setzte die Kisten ab. Die Flaschen klirrten. Bier schmeckte wie
Pisse. Er wusste nicht, warum Leute so etwas tranken. Alkohol, egal
welcher, war wie Pisse. Die Menschen flüchteten sich in Alkohol wie
Ratten sich in ihre Gänge verkrochen, wenn sie von Hunden gejagt
wurden.
»Das ist prima so«, sagte die Schlampe mit den langen Beinen.
»Oh, da ist Blut an Ihrer Hand. Haben sie sich verletzt?«
»Nein«, antwortete er. Das Blut war nicht von ihm.
»Was für ein Zufall.« Die Schlampe lächelte ihn an. »Zwei Männer
kommen am selben Tag in mein Hotel und haben Blut an den Händen. Denken Sie nicht auch, dass das ein Omen ist?«
Er starrte sie verständnislos an. Er lächelte nicht und er hatte auch
nicht vor, darauf zu antworten.
»Großartig.« Sie lächelte erneut, diesmal etwas gezwungen.
Plötzlich waren da diese Worte in seinem Kopf.
Vielen Dank, dass Sie mir aus der Klemme geholfen haben. Sie haben
den Tag wirklich gerettet. Kann ich Ihnen einen Drink anbieten Mr. –
wie war doch Ihr Name?
Er schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln. Manchmal tauchten die
Worte in seinem Kopf auf, bevor sie die Schlampen und Fotzen
überhaupt aussprachen.
Die großgewachsene Schlampe sagte, immer noch ein Lächeln
im Gesicht: »Vielen Dank, dass Sie mir aus der Klemme geholfen
haben. Sie haben den Tag wirklich gerettet. Kann ich Ihnen einen
Drink anbieten Mr. – wie war doch Ihr Name?«
Es war wichtig, dass man Leuten, Maschinen, Plätzen einen Namen gab. Das wusste er. Im Gemeinderat seines Heimatortes hatte
es eine Frau gegeben, die hatte sogar ihrem Auto einen Namen
verpasst. Das beeindruckte ihn schwer. So etwas verlieh wirkliche
Macht. Mächtige Menschen gaben den Dingen einen Namen. Und
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er hatte richtig gelegen, was die Frau anging: Sie wurde an die Spitze
des Gemeinderats gewählt. Und dann hatte sie sich einen nagelneuen BMW gekauft. Dem gab sie auch einen Namen. Er hatte
seine Lektion gelernt. So weit, so gut. Wenn du die Macht besitzt,
den Dingen einen Namen zu geben, dann hast du die Macht zu tun,
was immer du willst. Er würde Flüssen und Städten neue Namen
geben – Namen, die Jahrtausende überdauerten. Die Menschen, die
seiner Heimatstadt ihren Namen gaben, waren mächtig gewesen. Sie
hatten Macht über Leben und Tod. Davon war er überzeugt.
Und Macht war gut.
Deshalb gab er sich in jeder Stadt, in die er kam, einen anderen Namen. Dieses Mal musste er gar nicht lange nachdenken. Der
Name sprang geradewegs in seinen Kopf.
Einfach so.
Wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
Seine Haut kribbelte, als sich der Name in sein Gehirn bohrte.
»Entschuldigen Sie, wie war doch Ihr Name?« Die größere
Schlampe wurde langsam nervös, weil er sie so seltsam anstarrte.
Und die kleinere mit den blauen Fingernägeln stand vor ihm wie
versteinert.
Lächle die beiden an, sagte er sich, dann fühlen sie sich gleich
besser. Er lächelte also ein wenig breiter, aber dem Lächeln fehlte es
an Wärme.
»Ich heiße Jack«, sagte er. »Jack Black.«
»Vielen Dank Mr. Black. Ich bin Electra Charnwood.« Sie streckte
ihm die Hand entgegen. Himmel, die hatte vor nichts Angst. »Es
gibt da ein Apartment mit Küchenzeile im Nebengebäude. Da können sie wohnen – falls sie den Job wollen.«
Er bemerkte, wie die andere Schlampe, die mit den blauen Fingernägeln, ihre Freundin verängstigt ansah.
Und er hörte die Stimme in seinem Kopf, die so laut schrie, dass
sie selbst die Leute im Ort noch hören mussten: Nein, Electra. Du
musst verrückt sein. Absolut verrückt. Der Verbrecher darf nicht hierbleiben. Er ist eine hässliche Ausgeburt der Hölle. Er wird stehlen. Er
wird Schlägereien anzetteln. Mach was du willst, aber schicke ihn fort.
Er bringt nur Ärger.
Damit hat sie natürlich Recht, dachte er eiskalt.
Zu spät. Ich bleibe.
92
7.
Es war stockfinster und Jason Morrow konnte die Hand nicht vor
Augen sehen. Das Licht war genau in dem Augenblick erloschen, als
die Tür aufging.
Aber er spürte, dass etwas hier war – etwas Lebendes, etwas Atmendes. Ein Mann, der aus demselben Grund hier war wie er.
Beide kannten die Spielregeln.
Sie waren hier, um Sex zu haben. Und man brauchte den anderen
dabei nicht zu sehen oder zu hören. Man würde sich abtasten und
befummeln, und der Stärkere von beiden würde seinen Schwanz zuerst reinstecken.
Die ganze Scheiße würde nur wenige Minuten dauern.
Ein ungeschriebenes Gesetz besagte, dass man dem anderen genug
Zeit geben musste, um ungesehen wieder zu verschwinden.
Draußen strich der Wind durch die Bäume. Jason lief ein Schauer
über den Rücken.
Gut möglich, dass er den Mann da vor ihm, keine fünf Schritte
entfernt, gut kannte. Es mochte einer seiner Arbeiter sein oder ein
Polizist. Oder der Mann vom Kiosk, der ihm jeden Morgen auf dem
Weg zur Arbeit die Zeitung verkaufte. Das war jetzt unwichtig, genauso unwichtig wie der Gestank von Pisse und Desinfektionsmitteln in diesem rabenschwarzen Loch.
Der Mann atmete schwer. Hatte er Asthma? Oder war er einfach
geil auf das Gefummel und einen schnellen Fick – hier in einer Herrentoilette, mitten im Nirgendwo?
Jason wartete darauf, dass er betatscht wurde. Das war in Ordnung.
Er presste die Lippen zusammen. Küssen kam für ihn nicht in
Frage. Er mochte es nicht, wenn ihn ein Mann küsste.
Schnell öffnete er den Reißverschluss. Sein Penis begann steif zu
werden. Er fummelte ihn aus der Unterhose heraus und spürte die
kalte Luft, die um die heiße, empfindliche Haut strich.
Der Mann atmete schwer. Jason fühlte seine Bewegungen in der
Dunkelheit, fühlte, wie er sich zu seinem Penis hinunterbeugte.
Jason schloss die Augen und wartete auf die Lippen, die ihn gleich
berühren würden.
Jetzt konnte er den Atem des Mannes spüren, der seine Haut streichelte.
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Gütiger Himmel, der Mann stank abscheulich. Als wenn er in
einem modrigen Kellerloch geschlafen hätte.
Dann elektrisierte ihn eine Berührung. Etwas presste sich gegen
seinen Penis.
Lippen … war sein erster Gedanke.
Aber es waren keine Lippen.
Es waren Zähne.
»Hey! Hör auf, verdammt, duuhuhuuu…«
Er kreischte. Höllische Schmerzen schossen wie flammende Blitze
durch seinen Körper. Er hörte das Klicken zweier Zahnreihen, die
sich trafen, nachdem sie Haut, Fleisch, Blutgefäße und die Harnröhre
durchtrennt hatten.
Er schrie ein weiteres Mal und musste kotzen; er ruderte wie wild
mit den Armen; seine Fäuste trommelten gegen die Fiberglaswände
der Toilettenkabine. Im nächsten Augenblick lag er flach auf dem
Rücken, mitten in der Pisse. Er schrie und krümmte sich. Egal was
er tat, wie er sich auch wehrte, der andere ließ seinen Penis nicht los,
der jetzt nichts mehr als ein blutiger Stumpf war.
Und dann begann er, daran zu saugen.
8.
Wind kam auf. Er wirbelte altes Papier über den Hof. Bernice sah
es im Licht des Halogenscheinwerfers herumflattern wie Vögel in
einem wahnsinnigen Reigen.
Sie war wütend und erschrocken zugleich über Electras Entscheidung. Sie sah, wie Electra Jack Black eine Tasse Milch heiß machte –
wenn Jack Black überhaupt sein richtiger Name war. Es fiel Bernice
schwer, nicht andauernd die Tattoos in seinem Gesicht anzustarren
oder die große rote Narbe, die vom Auge bis zum Ohr reichte und
aussah, als hätte jemand versucht, mit einem roten Filzstift eine Brille auf seine Haut zu malen.
Oh Gott, der Bursche war der Ärger in Person.
Der Wind pfiff über das Dach des Hotels und es klang wie ein
leises Jammern.
Auf dem Hof wirbelten die Papierfetzen herum, als jagten sie sich
gegenseitig. Und über das Dach des Nebengebäudes, das einmal ein
Stall gewesen war, lugte der zunehmende Mond wie die Spitze eines
silbernen Fingernagels.
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Bernice erschauderte.
Alles schien ihr so unwirklich. Die Art, wie dieses Tier von einem
Mann mitten im Raum stand, mit seinen muskelbepackten Armen.
Wie Electra ihm die Tasse mit heißer Milch hinhielt, als wollte sie
einem Gott eine Opfergabe darbieten.
Ihre Kopfhaut kribbelte. Sie dachte: Was geschieht mit mir? Vielleicht ist es der Schlafmangel, vielleicht aber auch dieses verdammte
Video, das mich schon viel zu lange in seinen Bann geschlagen hat.
Warum fühle ich mich so eigenartig … so seltsam?
Sie betrachtete
beiden Menschen in der Küche. Und wieder
Ende derdie
Leseprobe
stellte sie sich vor, sie könnte auch sich selbst sehen, als wenn jemand
die ganze Sache auf Video festhalten würde. Sie bildete sich ein, sich
selbst sehen zu können, wie sie sich an die Wand lehnte und sich vor
lauter Nervosität mit ihrer rechten Hand den linken Unterarm rieb,
als erwartete sie geradezu, dass sich der Mann ein Fleischerbeil griff
und Electra in zwei Hälften schlug.
Der Wind frischte auf, sein Jammern wurde lauter. Es klang wie
das Wehklagen einer Mutter, die sich über ihr totes Kind beugt.
Bernice erschauderte wieder.
Es kam ihr vor, als würde alles in Zeitlupe ablaufen. Der Mann
brauchte unendlich lang, bis er seine Hand ausstreckte und die Tasse
von Electra entgegennahm.
Der Mond schien hell durch das Küchenfenster.
Im Hof wirbelten die Papierfetzen herum und herum und herum.
Irgendjemand öffnete die Tür, die in die Lobby führte.
Es war Dr. Leppington.
Sie sah, wie er die Küche betrat. Er hatte eine Edelstahlschüssel
voller Kartoffelbrei in den Händen. Das Licht in seinem Rücken war
so grell, dass er aussah wie ein Schatten – schwarz und gesichtslos.
Als wenn seine Stimme von ganz weit her kommen würde, hörte sie
ihn sagen: »Ich dachte es wäre das Beste, wenn ich mich ein wenig
nützlich mache.«
Wieder stellte sie sich vor, wie sie im hintersten Winkel der Küche stand, als wäre sie eine winzige Spionagekamera, die alles genau
aufnahm: Electra und den tätowierten Schlägertyp mitten im Raum;
Dr. Leppington mit der Edelstahlschüssel in der Hand. Und sich
selbst, wie sie mit weit aufgerissenen Augen und dem Rücken zur
Wand in der Ecke stand.
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