Rede zu neuen Altersbildern

Die Rede im Internet:
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Bundespräsident Joachim Gauck
zu neuen Altersbildern in einer Gesellschaft des längeren
Lebens anlässlich der Ausstellungseröffnung
„Dialog mit der Zeit“
am 31. März 2015
in Berlin
„Dialog mit der Zeit“ – ein wunderbarer Titel für eine Ausstellung
über die Kunst des Alterns. Hier im Kommunikationsmuseum, das mir
genauso gut gefällt wie Ihnen, Frau Dr. Kugler, kann man den
demographischen Wandel tatsächlich so konkret, so persönlich und so
interessant erleben, dass Lust auf ein Gespräch entsteht. Das wird den
Besuchern sicher viel Spaß machen. Ich bin gerade ein bisschen sehr
beschäftigt, sonst würde ich mich vielleicht auch als Senior Guide
bewerben. Geht im Moment nicht – nehmen Sie gern meine jetzige
Präsenz als Unterstützung Ihres Anliegens. Ich wünsche den Erfindern,
den Partnern und Förderern der Ausstellung, dass sie nach Frankfurt
am Main nun auch in Berlin ein großes Publikum erreichen werden.
Wer die Debatte über den demographischen Wandel verfolgt, der
liest immer wieder die These, mit dem Älterwerden seien nicht nur
Risiken, sondern auch Chancen verbunden. Die Tatsache, dass die
meisten von uns heute älter werden können als ihre Eltern, Großeltern
und Urgroßeltern, erscheint dann aber meistens doch als Problem.
Diskutiert wird in der Regel das Management von Defiziten: der
Ärztemangel auf dem Land, der drohende Pflegenotstand oder die
Engpässe in unseren Sozialkassen.
Es ist ja richtig: Probleme können entstehen, wo nur noch wenige
junge Menschen nachwachsen, wo die Älteren sich dann auf sich allein
gestellt sehen. Solche Schwierigkeiten dürfen und wollen wir nicht
ausblenden.
Gerade
die
großen
ethischen
Fragen
zur
Selbstbestimmung bis hin zum Umgang mit Grenzsituationen wie
Demenz und Sterben – all das fordert unsere Aufmerksamkeit.
Zugleich aber sollten wir uns vermehrt den Möglichkeiten der
gewonnenen Jahre zuwenden, und ich freue mich, dass wir alle
miteinander, die wir hier versammelt sind, daran arbeiten. Lassen Sie
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uns das Alter bewusster neu denken – in Bildern vom Alter und vom
Älterwerden, die auch die Potentiale dieser Lebensspanne beschreiben.
Dann kann es uns gelingen, aus der alternden Gesellschaft eine noch
stärker selbstbestimmte und starke Gesellschaft des längeren Lebens
zu formen.
Wie das geschehen kann und welche Veränderungen für einzelne
Menschen, aber auch in Gesellschaft und Politik notwendig sind,
darüber möchte ich heute sprechen.
Bewusst oder unbewusst setzen viele das Älterwerden mit Verfall
und Verlust gleich und übertragen diese Vorstellung automatisch auf
die
Gesellschaft.
Die
Logik
lautet:
Wie
der
Einzelne
seine
Leistungsfähigkeit in den höheren Jahren einbüßt, so wird auch unsere
Gesellschaft insgesamt schwächer, wenn ihr Durchschnittsalter steigt,
wenn die Zahl älterer Menschen zunimmt und wenn der Anteil der
Jüngeren schrumpft.
Diese These ist, jedenfalls in ihrer Pauschalität, falsch. Ihr
anzuhängen, ist fatal, denn sie kann zur sich selbst erfüllenden
Prophezeiung werden. Im ungünstigen Fall plant ein ganzes Land seine
Zukunft in düsteren Farben. Da haben wir Deutschen eine gewisse
Neigung. Deshalb ist es so wichtig, überholte Vorstellungen vom Alter
grundlegend in Frage zu stellen.
Lassen Sie mich mit dem Individuum beginnen. Wohl die meisten
von uns kennen das Bild von der Lebenstreppe. Der Augsburger Jörg
Breu der Jüngere hat es schon 1540 als Holzschnitt verewigt. Während
der folgenden Jahrhunderte griffen etliche Künstler das Motiv auf. Die
Treppe beginnt unten links mit der ersten Stufe, einem spielenden
Kind, Sinnbild des ersten Lebensjahrzehnts und der Jugend, der Phase
des Lernens und der Vorbereitung auf das sogenannte „eigentliche
Leben“. Mit zwanzig folgen junge Liebe und Heirat, mit dreißig sind die
eigenen Kinder da – ja, meine Damen, so war das in alten Zeiten–, mit
vierzig der berufliche Erfolg, mit fünfzig der Höhepunkt des Lebens –
meistens verkörpert durch einen stattlichen Mann mit Anzug und
Zylinder. Danach geht es dann nur noch abwärts. Sechzig, siebzig,
achtzig und neunzig zeigen bloß noch ein einziges Thema: die
fortschreitende Hinfälligkeit und Vergreisung. Das Alter erscheint nur
noch als eine Phase der Ruhe und des Abschiednehmens.
Das Bild vom Abstieg auf der Lebenstreppe prägt bis heute
unsere
Vorstellungen
vom
Alter,
obwohl
sich
viele
Tatsachen
inzwischen deutlich verändert haben – auf individueller wie auf
gesellschaftlicher Ebene. Auch wissenschaftliche Erkenntnisse, die
unsere Perspektive korrigieren könnten, gibt es zur Genüge. Das
beginnt mit der Lebenserwartung, die in den Industrieländern wie
Deutschland in den vergangenen 100 Jahren um rund dreißig Jahre
gestiegen ist. Zivilisatorische Errungenschaften haben es ermöglicht:
die
wirtschaftliche
Entwicklung,
bessere
Ernährung,
bessere
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Wohnbedingungen,
persönliche
Vorsorge,
ein
leistungsfähigeres
Gesundheitswesen, mehr Bildung und weniger körperlich belastende
Arbeit.
Diese Entwicklung hat einen doppelten Effekt. Wir werden nicht
nur immer älter, sondern bleiben auch länger gesund. Gesundheitlich
betrachtet ist ein 70-jähriger Mensch heute – im Vergleich zur
Vorgängergeneration – erst sechzig Jahre alt. Hinzu kommt: Die
geistige Leistungsfähigkeit älterer Menschen ist von Generation zu
Generation deutlich gestiegen. Alternsforscher haben nachgewiesen,
dass bei aktiver Lebensweise nicht nur die körperliche, sondern auch
die geistige Fitness länger aufrechterhalten werden kann. Das heißt,
wir können die Biologie zwar nicht einfach ausschalten, wir können
jedoch die eigene Entwicklung positiv beeinflussen, und das in einem
stärkeren Maß, als lange Zeit angenommen.
Die Lebenstreppe früherer Jahrhunderte bildet die Realität also
längst nicht mehr ab. Aber die neue Wirklichkeit ist in unserer
Vorstellungswelt und teilweise auch in unserem gesetzlichen Regelwerk
noch nicht richtig angekommen. Tatsache ist: Für die meisten von uns
geht es ab fünfzig nicht unaufhaltsam abwärts. Es folgt eher ein
Hochplateau,
eine
früher
sehr
seltene
Lebensphase
in
guter
körperlicher und mentaler Verfassung, die persönliches Fortkommen
oder auch Neuorientierung ermöglicht. Die Wissenschaft sagt uns: Als
Individuen
haben
wir
die
Möglichkeit,
diese
Hochplateau-Zeit
auszudehnen. Und als Gesellschaft haben oder hätten wir es in der
Hand, die Chancen dieser Lebensphase möglichst vielen zu eröffnen.
Wenn wir rechtzeitig handeln, muss die schrittweise Abnahme von
Potenzen im Alter nicht bedeuten, dass eine Gesellschaft ohne
Potentiale entsteht. Das ist entscheidend. Das muss in unsere Köpfe
hinein.
Was also ist zu tun? Die erste Konsequenz muss heißen: Beim
demographischen Wandel geht es nicht allein um die gewonnenen
Jahre und die Belange älterer Menschen. Altern beginnt bei der Geburt.
Wir müssen das verlängerte Leben insgesamt in den Blick nehmen.
Und wir müssen die Lebenszeit neu strukturieren. Wir brauchen neue
Muster für lange Lebensläufe, neue Verflechtungen von Lernen, Arbeit
und Privatem.
Das kann schon im Kindergarten, in der Schule beginnen. Wie
bereitet man junge Menschen auf eine Zukunft vor, in der immer mehr
dreistellige Geburtstage gefeiert werden? Wenn wir deutlich länger
leben, dann darf Lernen nicht nur bis vierzig oder fünfzig, sondern
muss bis sechzig, siebzig und darüber hinaus möglich sein. Mir fällt
gerade ein, dass ich mich auch persönlich eignen würde als Exponat
dieser Ausstellung. Jedenfalls muss es auch bei älteren Menschen
möglich sein, die Phase des Lernens auszudehnen – auch unter
Menschen mit wenig Ausbildung in der Jugend. Da gibt es noch eine
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Menge Potentiale. Zudem: Wenn wir weniger werden, kommt es mehr
denn je auf die Güte der Bildung und auf die Entwicklungschancen
jedes
Einzelnen
an.
Dann
kommt
noch
etwas
hinzu.
In
der
Einwanderungsgesellschaft, zu der wir geworden sind, gilt: Wir müssen
allen Menschen, die bei uns leben, die Möglichkeit zur Teilhabe und
zum sozialen Aufstieg eröffnen.
Auch hier kann uns eine neue Vorstellung vom Alterungsprozess
helfen.
Früher
ähnelte
die
bekannteste
Graphik
der
Bevölkerungsstatistik einer Zwiebel – in der Mitte die stärksten
Jahrgänge.
Heute
gleicht
die
Graphik
eher
einem
Pilz.
Der
Geburtenrückgang seit den 1960er Jahren hat die unteren Jahrgänge
deutlich ausgedünnt. Oben prangt derzeit der Schirm mit den Alten.
Wer dieses Bild vor Augen hat, versteht: Wenn der Stamm des Pilzes
dünn ist, muss er zugleich sehr stabil sein, um den Schirm tragen zu
können. Mehr denn je stehen wir vor der Aufgabe, dafür zu sorgen,
dass in unserem Bildungssystem niemand verloren geht. Noch ist das
leider nicht der Fall. Ich weiß natürlich, dass das eine äußerst
schwierige Aufgabe ist, übrigens auch eine kostspielige Aufgabe. Aber
wenn wir uns diese Graphik vor Augen halten, wissen wir: Es lohnt
sich, hier Mühe und auch Mittel zu investieren. Wir müssen die
Veränderungen in unserem Bildungssystem abbilden, darauf reagieren.
Die Lebensspanne, die uns nach der Schule erwartet, wird immer
länger und die Halbwertzeit des Wissens, das wir erworben haben, wird
immer kürzer. Experten empfehlen deshalb eine neue Lernkultur, einen
Ansatz, der früh vermittelt, dass es nicht nur um das Reproduzieren
von Antworten auf Prüfungsfragen geht, sondern vor allem um die
langfristige
persönliche
Entwicklung.
Wer
an
den
Pilz
aus
der
Bevölkerungsstatistik denkt, kommt auch nicht um die Einsicht herum:
Die lange lebende muss zu einer lange lernenden Gesellschaft werden.
Es geht um eine neue Einstellung zum Lernen, aber auch um Neugier
in einem längeren Leben. Es geht zugleich um neue Anreize und
institutionelle Lösungen, wo die alten Modelle nicht mehr tragen.
Wir stehen damit vor der Aufgabe, Berufsbiographien so zu
verändern, dass der Einzelne lange leistungs- und anpassungsfähig
bleibt – und unsere Gesellschaft produktiv. Die neue Verflechtung von
Lernen, Arbeit und Privatem soll unser Land wettbewerbsfähig halten
und jedem Einzelnen so viele Optionen wie möglich eröffnen –
Optionen für ein erfülltes Dasein. Forscher gehen davon aus, dass auch
dieser Prozess früh beginnen muss. Der bei weitem wichtigste
Einflussfaktor ist Abwechslung im Berufsleben, besonders für Menschen
mit
einfachen,
sich
ständig
wiederholenden
Tätigkeiten.
Mehr
Abwechslung würde Arbeitnehmern ermöglichen, gesünder alt zu
werden und länger leistungsfähig zu bleiben. Studien zeigen: Körper
und Geist bleiben umso länger vital, je vielfältiger die Berufsbiographie
ist. Vielfach kann ein Wechsel alle paar Jahre, sei es ein Wechsel der
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Aufgabe in einem Unternehmen oder gar des Berufes, schädliche
Routine vermeiden helfen.
Daraus
folgt
zum
einen
die
Notwendigkeit,
die
berufliche
Weiterbildung anzupassen. Dozenten müssen sich darauf einstellen,
dass Lernende aller Altersgruppen vor ihnen sitzen. Zum anderen
müsste unser Arbeitsmarkt erheblich durchlässiger werden. Arbeiten in
Deutschland ist ja oft mit der Erwartung verbunden, sich in einem
begrenzten Berufsfeld auf vorgezeichneten Pfaden möglichst geradlinig
fortzuentwickeln. Wer einen Beruf gelernt oder ein Fachstudium
absolviert hat, soll im gleichen Bereich seine Stelle finden und später
dort vielleicht befördert werden. Branchen- oder Berufswechsel,
freiwillige Neuanfänge gar, sind bei uns eher die Ausnahme. Der
demographische Wandel schafft nun Gründe und wohl bald auch den
nötigen Druck, um das zu verändern. Für viele verbindet sich damit die
Hoffnung,
dass
der
steigende
Fachkräftebedarf
die
Arbeitswelt
modernisiert und dem Einzelnen größere Freiräume in der Gestaltung
seines
Erwerbslebens
verschafft.
Ich
glaube:
Wir
sollten
diese
Entwicklung nicht abwarten, sondern die Einsicht aktiv fördern, dass
sich Fähigkeiten zwischen Berufen und Branchen übertragen lassen,
und dass alle einen Nutzen davon haben.
Auch die Verteilung von Arbeitszeiten im Lebenslauf und tradierte
Beförderungsmuster sind grundsätzlich zu überdenken. Es muss nicht
dabei bleiben, dass vierzig als magisches Alter für den Aufstieg gilt.
Motto: Wer es bis dahin nicht geschafft hat, kann einpacken. Es muss
auch nicht dabei bleiben, dass junge Eltern in der sogenannten „Rush
Hour“ des Lebens, zwischen dreißig und vierzig, mit Kindern und
Karriere systematisch überfordert werden. Auch mit fünfzig oder
sechzig kann man aufsteigen und Führungspositionen erreichen. Eine
der wichtigsten Botschaften des demographischen Wandels heißt doch:
Wir gewinnen Lebenszeit. Es geht darum, diese Zeit sinnvoll zu nutzen
und zu verteilen.
Das
beginnt
schon
mit
der
Benennung
dieser
Abschnitte.
Irreführende, jedenfalls sehr einseitige Assoziationen weckt zum
Beispiel das Wort „Ruhestand“. Für Mediziner beschreibt Ruhestand das
genaue Gegenteil von dem, was sie uns für das Alter empfehlen. Sie
wollen, dass wir aktiv sind in diesem älteren Stadium. „Aktivität“ heißt
bei ihnen das Zauberwort, körperlich wie mental. Wer möglichst
gesund altern will, der soll beweglich bleiben, Routinen abstreifen und
Neues wagen. Wo existieren eigentlich noch die klassischen Bilder von
Pantoffeln und „verdienter Ruhe“ und Gemütlichkeit? Ich habe mir das
früher für mich selber, ehrlich gesagt, so vorgestellt. 65 und dann
Ruhe. Irgendwie kam es anders. Jetzt merke ich, dass das einen Sinn
macht. Kurzum: Diese Bilder funktionieren nicht in einer Gesellschaft,
in der es nicht mehr um die „letzten Jahre“, sondern eben oft um
Jahrzehnte geht, die nach dem Renteneintritt folgen. Das neue Alter
steht längst vor unseren Augen, aber in Umfragen zeigen viele
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Menschen
noch
immer
die
Neigung,
ihre
Erwartungen
an
das
Älterwerden an den eigenen Großeltern zu orientieren.
Nun wissen wir es alle: Mentalitätswandel braucht Zeit, und er
verläuft auch nicht immer geradlinig. Die Werbebranche zeichnet ja
schon lange ein ganz anderes Bild: Da ist immer von den Best Agers
die Rede, das sind diese fitten, fröhlichen, auf der ganzen Welt
umherreisenden Alten. Sie erobern die Welt, als seien sie in einem
großen Vergnügungspark, mit Elektrofahrrad oder Yogamatte. Es fehlt
eine ausgewogene Vorstellung davon, dass ältere Menschen nicht nur
Konsumenten, sondern auch Produzenten in unserer Gesellschaft sein
können – und sein wollen! Es fehlt der Gedanke, dass es den Meisten
doch ein großes Bedürfnis ist, gebraucht zu werden, tätig zu sein,
etwas beizutragen. Kurz, es fehlen die unzähligen Erfahrungen derer,
die im vorgerückten Alter erfüllenden Aktivitäten nachgehen. Alter
bietet aber die Freiheit, genau das zu tun! Familien, Nachbarschaften
und Ehrenämter können von dieser Freiheit profitieren, und sie tun es
bereits in großer Zahl. Warum nicht auch unsere Unternehmen?
Wer dieser Frage nachgeht, muss sehr verschiedene Positionen
und Perspektiven berücksichtigen. Das führt mich zum viel zitierten
Dachdecker, der aus gesundheitlichen Gründen mit fünfzig sagt: „Ich
kann die Arbeit in meinem erlernten Beruf nicht mehr leisten“. Das
gönnen wir ihm, es steht ihm zu, so zu sprechen. An diesem Beispiel
wird die Notwendigkeit des Wandels unserer Arbeitswelt besonders
deutlich. Wie kann der gelernte Dachdecker künftig noch viele Jahre
lang am Erwerbsleben teilhaben, seine Fähigkeiten einbringen, ohne
noch auf das Dach klettern zu müssen? Vielleicht kann er ja Ziegel
ordern und verkaufen, statt sie selber zu verlegen. Vielleicht kann er
sein Wissen über Geschäftsabläufe und Projekte an einer anderen
Stelle im Unternehmen einsetzen. Oder vielleicht kann er seine
Fertigkeiten an die nächste Generation weitergeben und sich in der
Ausbildung der Jugend engagieren. Alternativen braucht auch die
Erzieherin, die nach dreißig Berufsjahren im turbulenten Kindergarten
woanders neu anfangen will und sollte. Warum nicht in einem
Mehrgenerationenhaus, zum Beispiel? Oder schauen wir auf die
sogenannten Space Cowboys, sie haben schon heute ihre Nische für
ein aktives Alter gefunden: Ehemalige Mitarbeiter eines deutschen
Autoherstellers werden ins Unternehmen zurückgeholt, um jüngere
Kollegen bei der Entwicklung neuer Produkte zu unterstützen. Den
Innovationsgeist der Jugend ergänzt der ältere Experte durch seine
langjährige Erfahrung. Wir wissen längst: Das ist eine produktive
Mischung.
Sind wir als Gesellschaft bereit, für die große Bandbreite an
Möglichkeiten
im
Alter
eine
entsprechend
Gestaltungsoptionen vorzuhalten?
große
Bandbreite
an
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Im Koalitionsvertrag von 2013 wurde notiert: „Ältere Beschäftige
sind unverzichtbar im Arbeitsleben. […] Wir werden den rechtlichen
Rahmen für flexiblere Übergänge vom Erwerbsleben in den Ruhestand
verbessern“.
Die Legislaturperiode ist bekanntlich noch lange nicht zu Ende.
Ich fürchte allerdings, dass die Diskussion über dieses Thema allzu
schleppend verläuft und der nötige Wandel der Arbeitswelt noch nicht
entschlossen genug vorangetrieben wird.
Dabei betrifft diese Aufgabe uns alle: die Bürgerinnen und
Bürger, die Gemeinde- und Landespolitiker, vor allem aber den
Bundesgesetzgeber und die Tarifpartner als Gestalter der wichtigsten
Altersgrenze – des Eintritts in die Rente. In Deutschland ist die
gesetzliche Rente bislang ausgerichtet, ein Ende zu definieren, keinen
Übergang. In anderen Ländern gibt es durchaus offenere Konzepte.
Deutschland steht hier noch am Anfang der Debatte.
Immerhin, es liegen einige konkrete Vorschläge auf dem Tisch,
beispielsweise eine Version von Teilzeit, in diesem Fall für Alte. Fünfzig
oder siebzig Prozent der üblichen Wochenarbeitszeit könnten für beide
Seiten ein Gewinn sein: Der Arbeitgeber profitiert von der Reife und
der Urteilskraft der Älteren. Der Arbeitnehmer leistet so viele Stunden,
wie er möchte und seine Gesundheit oder seine anderen Vorhaben,
etwa die Betreuung der Enkelkinder, es zulassen.
Flexible Renteneintrittsgrenzen und unser Sozialstaatsprinzip
müssen kein Widerspruch sein. Auch hier sind uns althergebrachte
Bilder noch im Wege. Die Vorstellung von der Arbeit als Last stammt
oft noch aus frühen Phasen der Industriegesellschaft, als schwerste
körperliche Arbeit die Regel war. Wo dies auch heute noch gilt – auch
heute gibt es ja noch diese Form der Arbeit –, wo also in der Industrie
oder etwa im Pflegebereich Menschen an ihre körperlichen Grenzen
kommen, da sind sie tatsächlich zu schützen und wirksam zu
entlasten. Andererseits kennen wir heute, in der Wissensgesellschaft
mit ihren so veränderten Arbeitsbedingungen auch in industriellen
Bereichen, eine Vielzahl von Arbeitsplätzen, die im Alter nicht als Bürde
empfunden
werden,
sondern
als
gewünschte
Fortsetzung
eines
aktiven, selbstbestimmten Lebens.
Deshalb möchte ich dazu einladen, umzudenken und dem
gewandelten Lebensgefühl vieler Menschen besser Rechnung zu
tragen. Was wir brauchen, ist eine neue Lebenslaufpolitik! Der Staat
steht in der Pflicht, die ganze Bandbreite von denkbaren Szenarien im
Alter zu berücksichtigen. Es geht also einerseits darum, Menschen vor
Überforderung zu schützen, andererseits auch darum, jenen, die es
wollen, Möglichkeiten zu eröffnen, sich einzubringen.
Alle Politikfelder sind deshalb gefordert. Bildung und Arbeit habe
ich schon genannt, Gesundheit, Wohnen, Infrastruktur und viele
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weitere müsste man hinzufügen. Wir werden dem demographischen
Wandel nur gerecht, wenn wir uns der Komplexität der Aufgabe stellen
und wenn wir lernen, politisch in größeren Zeiträumen zu denken, nicht
nur in Legislaturperioden. Man könnte es auch so formulieren: Eine
Gesellschaft des längeren Lebens braucht eine Politik des längeren
Atems! Das wünschen wir Ihnen, Herr Bundesminister Gröhe, und allen
anderen Verantwortlichen von ganzem Herzen.
Meine Damen und Herren, unsere Gesellschaft braucht in meinen
Augen noch etwas anderes: enge persönliche Beziehungen. Und zwar
zwischen den Menschen der unterschiedlichen Altersgruppen. Nur wenn
sich Alt und Jung begegnen und nicht voneinander absondern, können
wir einen der schwierigsten Dialoge führen: das Gespräch über
längeres Leben und die dennoch unausweichliche Endlichkeit unserer
Existenz. Aus meiner früheren Arbeit als Seelsorger weiß ich, wie sehr
es Menschen belasten kann, wenn sie sich in ihren letzten Jahren nur
noch als hilfsbedürftig, nur noch als passiv empfinden. Und wie kostbar
für sie der Augenblick ist, in dem sie sagen können: „Ich habe bis zum
Schluss getan, was ich konnte. Ich habe mein Leben gelebt“. So heißt
es dann, wenn sie ihre Fähigkeiten bis in ihre alten Tage einbringen
konnten. Das ist ein Ja zum Leben, auch in einer Phase, wo manchen
das Ja schwer fällt.
Genau das sehen wir auch in dieser Ausstellung. Eine ihrer
wichtigsten Botschaften lautet: Selbstbestimmung im hohen Alter ist
ein unschätzbares Gut. Wir sollten die Selbstbestimmung fördern, wo
immer wir können. Zugleich gilt jedoch: Der Mensch verliert seinen
Wert und seine Würde nicht, wenn er nicht mehr autonom handeln und
entscheiden kann, sondern auf andere angewiesen ist. Mir fällt gerade
ein, dass ich gestern einen Film gesehen habe, wo es um einen
Menschen ging, der in eine Demenz geriet, und wie schwierig es war,
ihm in diesem Zustand die eigene Würde und Selbstbestimmtheit
zuzuerkennen. Offensichtlich war auch, wie sehr die alten Bilder von
beeinträchtigten Menschen uns prägen. Oft ist der Gesetzgeber da
schon weiter als die Mentalität der Menschen.
Ich war eben bei der Hilflosigkeit stehen geblieben. Ja, die gibt
es. Aber vielleicht können wir diese Hilflosigkeit besser ertragen, wenn
wir uns eingestehen: Jeder Mensch ist in zwei Phasen des Lebens auf
besondere Unterstützung der Gemeinschaft angewiesen – ganz zu
Beginn und ganz zum Schluss. Bei einem Neugeborenen fällt es uns
leicht, die Abhängigkeit als etwas Natürliches und als natürliche
Verpflichtung für das Umfeld zu begreifen. Dieses Selbstverständnis
müssen wir für die letzte Phase des Lebens erst noch erringen – jeder
für sich und die Gesellschaft insgesamt.
Auch wenn es uns schwerfällt: Ich begrüße es sehr, dass so
sensible Themen inzwischen intensiver diskutiert werden. Und ich
begrüße es, dass hier im Museum für Kommunikation für solche Fragen
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Raum geschaffen wurde, dass ganz gezielt das Gespräch der Alten mit
den Jungen gefördert wird. Ich habe selbst Kinder, Enkel und Urenkel.
Schon um ihretwillen möchte ich Bundesgenosse all jener sein, die für
einen Perspektivenwechsel und zugleich für einen Interessenausgleich
der Generationen eintreten. Ich fürchte allerdings, dass der gern
verwandte Begriff der Generationengerechtigkeit dabei in die Irre
führen könnte. Denn auch in ihm schwingt ein Zerrbild mit, die
Vorstellung vom Kampf um Gerechtigkeit. Davon sind wir heute
glücklicherweise
Deutschland
weit
sind
entfernt.
gut
und
Die
familiären
belastbar.
Eltern
Beziehungen
und
in
Großeltern
unterstützen ihre Kinder und ihre Enkel.
Allerdings werden wir beweisen müssen, dass unsere Gesellschaft
auch dann noch solidarisch bleibt, wenn sich das zahlenmäßige
Verhältnis von Großeltern, Kindern und Enkeln weiter verändert – und
das wird es. Wenn Interessen unter neuen Mehrheitsverhältnissen
demokratisch auszuhandeln sind. Oder wenn immer mehr Alte auf
Unterstützung jenseits der eigenen Familie angewiesen sind. Deshalb
ist
mir
das
Bild
der
Generationenbegegnung
so
wichtig,
Generationenbegegnung und die Verständigung darüber, was wir
voneinander erhoffen und erwarten, was wir voneinander wissen
sollten und voneinander lernen könnten, nicht zuletzt, welche Konflikte
wir austragen müssen.
Wer Anschauung sucht, für den gibt es Orte, an denen man viel
lernen kann. Ich bin jüngst in Arnsberg gewesen, in NordrheinWestfalen. Dort stellt man sich mit Hilfe kommunaler Programme ganz
gezielt
auf
die
länger
lebende
Gesellschaft
ein
und
übt
den
Generationendialog im Alltag. Das hat mir sehr imponiert. Gemeinsame
Freizeitangebote, Nachbarschaftshilfe, alterssensibler Wohnungs- und
Städtebau: All das funktioniert dort in Arnsberg und auch schon in
vielen anderen Gemeinden, weil Politik, Unternehmen und Freiwillige
sich
zusammengetan
und
Ziele
definiert
haben,
auch
Konflikte
aushandelt haben, und weil sie knappe Ressourcen nach klaren
Prioritäten einsetzen. Dazu gehört zum Beispiel der Leitsatz, dass
ehrenamtliches Engagement die nötigen hauptamtlichen Strukturen
braucht, damit der gute Wille der einzelnen Freiwilligen nicht ins Leere
läuft.
Die „sorgende Gemeinschaft“ ist mir als Schlüsselbegriff von
meinem Besuch in Arnsberg im Gedächtnis geblieben. Sie beschreibt
ein Umdenken, das in immer mehr Kommunen stattfindet und das ich
sehr befürworte. Es geht dabei nicht um irgendeine Spielart eines
modernen
Paternalismus,
Verantwortung
in
einer
sondern
Zeit,
um
in
der
gemeinsam
sich
getragene
Lebens-
und
Familienvorstellungen und -modelle stark ändern, in der wir neue
Konzepte brauchen, um das Miteinander gedeihlich zu organisieren.
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Wer diesen Begriff „sorgende Gemeinschaft“ konsequent zu Ende
denkt, der muss auch über Chancengerechtigkeit im Alter sprechen.
Auch die beginnt oder scheitert von klein auf. Wer arm ist – sei es an
Bildung,
sei
es
an
Geld
–
hat
nachweislich
eine
niedrigere
Lebenserwartung. Derzeit beträgt die Differenz in Deutschland bis zu
acht Jahre im Vergleich zu gebildeteren, wohlhabenderen Gruppen in
der Gesellschaft. Acht Jahre! Das darf uns nicht gefallen. Die Gründe
dafür sind vielschichtig. Die Konsequenz lässt sich für mich jedoch in
einem Satz zusammenfassen: Wir müssen alles dafür tun, dass alle
Menschen – egal in welche sozialen Umstände hinein sie geboren
wurden – gute Chancen auf ein langes und gesundes Leben haben.
Meine Damen und Herren, wenn ich mich hier im Museum für
Kommunikation umsehe, wird mir klar: Ich muss nicht allzu weit
reisen, um engagierte Botschafter für Veränderungen zu finden. Sie
sitzen ja vor mir, zum Beispiel die Senior Guides, die diese Ausstellung
begleiten, Frauen und Männer ab siebzig, die anderen Menschen
vermitteln, was sie selber begriffen haben, was sie selber leben. Ich
freue mich über diese Aktivität, gratuliere Ihnen und danke Ihnen. Sie
sind ja nicht einfach nur erklärende Begleiter, wandernde und
sprechende Schrifttafeln. Sie sind persönlich auch so etwas wie
Exponate. Sie sind Zeugen eines neuen Alters. Deshalb ist mein Dank
noch tiefer gegründet, als dass ich es einfach nur schön finde, was Sie
hier für andere Menschen tun. Ich freue mich wirklich sehr, dass Sie
diesen „Dialog mit der Zeit“, wie die Ausstellung heißt, wagen!
Und ich freue mich, dass Sie in den kommenden Monaten Gästen
jeden Alters vermitteln werden, was auch mir in meiner heutigen Rede
besonders wichtig war:
Die
zusätzlichen
Jahre
sind
ein
großes
Geschenk
in
den
Gesellschaften, in denen kultureller Fortschritt Wirklichkeit geworden
ist.
Es liegt an uns, dieses Geschenk verantwortungsvoll anzunehmen
und zu gestalten.
Es liegt an uns, Lebenszeit neu zu erkennen, neu zu bewerten
und neu aus ihr zu schöpfen.
Danke sehr.