Dr. des. Grischka Grauert, Promovend von Prof. Fohrmann

Sehr geehrte Damen und Herren, lieber Herr Fohrmann,
in Wolfgang Herrndorfs Roman tschick soll der Held, Maik Klingenberg, im Deutschunterricht eine
sogenannte Reizwortgeschichte schreiben.
Ich zitiere aus tschick: "Falls jemand nicht weiß, was das ist, Reizwortgeschichte geht so: Man
bekommt vier Wörter, zum Beispiel 'Zoo', 'Affe', 'Wärter' und 'Mütze', und dann muss man eine
Geschichte schreiben, in der ein Zoo, ein Affe, ein Wärter und eine Mütze vorkommen. Wahnsinnig
originell. Der reine Schwachsinn."
Wer nun weiterliest, der erfährt, dass Maik Klingenbergs Reizwortgeschichte Mutter und die
Beautyfarm alles andere als schwachsinnig ist, auch wenn der Protagonist durch sie bei seinen
Mitschülern den Spitznamen Psycho erhält.
Lieber Herr Fohrmann, nach sechs Jahren Rektorat haben Sie sich dazu entschieden, wieder zurück
in die Wissenschaft zu gehen. Sechs Jahre sind eine lange Zeit. Daher habe ich mir überlegt, sechs
Reizwörter zu wählen, die ich mit Ihnen und Ihrer Lehre verbinde – eines für jedes Jahr Ihres
Rektorats – und basierend darauf mein Grußwort an Sie zu schreiben. Das soll in Ihnen, Herr
Fohrmann, Vorfreude wecken in die hoffentlich fröhliche Wissenschaft zurückzukehren. Und Ihnen,
sehr geehrte Damen und Herren, die Sie Herrn Fohrmann vielleicht eher aus seiner Rektorenzeit
kennen und die Sie sich vielleicht fragen, was Jürgen Fohrmann wohl im ganz normalen
Universitätsbetrieb für ein Lehrer und Mensch für seine Studenten sein mag, möchte ich einige
meiner persönlichen Erlebnisse erzählen.
Ich habe mich für die folgenden 6 Reizwörter entschieden: 1) Samurai-Filme 2) Linienführung 3)
Bananenflanke 4) König Ödipus 5) Fontane und sechstens die Redewendung 'zum Punkt kommen'.
Es war an einem Dienstagnachmittag. Wir saßen im Bibliotheks- und Arbeitsraum IV des
Germanistischen Instituts der Universität Bonn unter einer etwas angestaubten Büste von Thomas
Mann. Bezeichnenderweise weiß ich nicht mehr genau, welcher theoriebeladene germanistische
Text an diesem Tag im Seminar von Herrn Fohrmann von uns unter die Lupe genommen wurde.
Woran ich mich aber noch sehr genau erinnere, ist, dass an irgendeinem Punkt die Diskussion ins
Stocken geriet. Wir Studierenden hatten, wie man so sagt, den Faden verloren. Mit einem Mal
beendete Herr Fohrmann das etwas betretene Schweigen, indem er sagte, dass einiges am Inhalt des
Textes ihn an den Verlauf von klassischen Samurai-Filmen erinnerte.
Nicht einer von uns 'braven Literaturwissenschaftlern' wäre auch nur im Traum auf die Idee
gekommen, diesen Text mit Schwerter schwingenden Männern, die durch Bambuswälder springen,
in Verbindung zu bringen. Aber nach etwas Nachdenken konnten wir Herrn Fohrmann Recht geben
und der überraschende Denkanstoß ließ den Motor der Diskussion wieder anspringen. Ich
persönlich finde diesen Vorfall deshalb so schön, weil er mir gezeigt hat, dass einen manchmal die
Dinge weiterbringen, die nicht unmittelbar vor der eigenen Nasenspitze liegen. Und dass es ab und
zu nicht schadet, die disziplinären Scheuklappen ein wenig zur Seite zu schieben und einen Blick in
die Ferne zu riskieren oder, wie es in tschick heißen würde, ohne Führerschein einfach mal nach
"Jottwehdeh" zu fahren.
Wie ist ein solches produktives Querdenken aber möglich, wenn man sich nur und ausschließlich
auf einer Geraden bewegt? Das ist so lange schwer, wie man die Gerade nur als mit dem Lineal
gezogen zulässt. In Ihrer Antrittsrede zum Rektor vor sechs Jahren haben Sie, Herr Fohrmann, einen
sehr schönen Satz zum Thema Linienführung gesagt, den ich hier gerne noch einmal aufgreifen
möchte: "In sozialen Systemen – und die Wissenschaft ist ein soziales System – ist die kürzeste
Verbindung zwischen a und b oft nicht als gerade Linie realisierbar." Und wenig später sagten Sie
noch: "Und weil die kürzeste Verbindung von a und b oft keine gerade Linie ist, sind Lebensläufe
nicht mechanisch planbar." (Zitatende) Das Leben, etwas weiter gedacht, ist kein oder zumindest
nicht nur ein Modulbaukasten. Was ich und, ich denke viele andere auch, aus Ihren Veranstaltungen
an der Universität über den bloßen Lehrstoff hinaus mit nach Hause genommen haben, ist, auf eben
diese möglichen Krümmungen, Kurven oder Zick-Zack-Linien achtzugeben, die beim ersten
Hinsehen vielleicht einen Um- oder Abweg im Denken darstellen. Bei genauerem Hinsehen aber ist
es auf dem Weg häufig das Abwegige, das einen Orte finden lässt, die auf der geraden Linie
mechanisch vorwärtsschreitend nicht gefunden worden wären. Manchmal, um es mit dem Fußball
zu sagen, ist eine Bananenflanke vonnöten, bei der die Rotation des Balles ja auch dafür sorgt, dass
das Leder in der Luft sich nicht für die gerade Linie entscheidet.
Was für den Weg von a nach b gilt, das gilt auch für den Körper und die Form. Bei einem
Theaterworkshop mit dem Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann 2008 in Berlin sind Sie,
Herr Fohrmann, kurzerhand in die Rolle von König Ödipus geschlüpft. Sie sind aus dem Raum
gegangen und haben vor der Türe stehend so laut mit einem Fuß auf den Boden gestampft, dass Sie
uns Studenten damit geradezu das Fürchten gelehrt haben. Dieses rhythmische Stampfen, das das
Nahen des nicht nur von seinem Schwellfuß geplagten Ödipus in Szene setzte, benötigte weder
Maske noch Kostüm noch auswendig gelernten Text. Ganz unabhängig von der Geschichte bzw.
dem Plot hat uns dies gezeigt, dass Form und Körper nicht zwangsläufig festgelegt sind. "Der
menschliche Körper endet nicht in Linien", wie es in Balzacs Erzählung "Das unbekannte
Meisterwerk" heißt. Das bedeutet, ein bloßes Auftreten kann schon zu einer Verwandlung führen
und das vorher für 'fest und starr' gehaltene Bild eines Professoren (oder einer beliebigen anderen
Person) in eine Fließbewegung überführen, die in überraschenden neuen Formen mündet.
Lieber Herr Fohrmann, in Ihren Veranstaltungen ging es immer wieder darum, auf die
Beweglichkeit der Form achtzugeben. Zugleich aber, und dies ist wichtig, sollte Vielfalt dabei
keineswegs mit Beliebigkeit übersetzt werden, auch wenn eine Prise Kontingenz hier und da sicher
nicht schadet. Mitunter aber ist es auch genauso wichtig, einer geliebten (Lebens-)Form die Treue
zu halten. Sie haben mir einmal erzählt, dass Sie sich, wenn Sie sich in Berlin befinden, ganz gerne
ab und zu an das Ufer der Spree setzen, um ein wenig Fontane zu lesen. Fontane in Berlin, das ist
ein bisschen wie Moby Dick am Strand oder Der Zauberberg auf der Sonnenliege in der Kur. Ein
Literaturprofessor mit Fontane am Ufer der Spree, das ist, mit anderen Worten, eine so gerade Linie
von a nach b, dass sie schon wieder kurvig wird. Und es ist ein klares und, wie ich finde, schönes
Bekenntnis zu dem, was Ihnen am Herzen liegt.
Ein Reizwort ist noch übrig geblieben: die Redewendung "zum Punkt kommen ...". Lieber Herr
Fohrmann, dazu komme ich nun: ich wünsche Ihnen für den Lebensabschnitt nach dem Rektorat,
die Rückkehr in die Wissenschaft sowie die Fertigstellung Ihres Buchprojektes alles alles Gute und
bin mir sicher, dass Sie Ihren künftigen Studenten – so wie mir – ein guter Lehrer sein werden, der
viel Raum zum Denken lässt, im Zweifelsfall aber auch darauf pocht, dass es – sei es Haus-,
Bachelor- oder Doktorarbeit – irgendwann an der Zeit ist, zum Punkt zu kommen ...
Vielen Dank.