Datum: 23.05.2015 Neue Zürcher Zeitung 8021 Zürich 044/ 258 11 11 www.nzz.ch Medienart: Print Medientyp: Tages- und Wochenpresse Auflage: 114'209 Erscheinungsweise: 6x wöchentlich Themen-Nr.: 038.143 Abo-Nr.: 1094437 Seite: 21 Fläche: 59'714 mm² Wenn versunkene Welten in Farbe leuchten Farbfotografie vor dem Ersten Weltkrieg aus den Archiven von Albert Kahn im Museum Rietberg Für die Idee der Völkerverständigung durch eine grenzübergreifende Kulturforschung setzte der französische Bankier Albert Kahn sein immenses Vermögen ein. Sein «Archiv des Planeten» ist eine globale Sammlung der allerersten Farbfotografien. den farbigen Lichtbildern auch eine nam. Noch bevor August Sander 1929 Möglichkeit, die Solidarität der Völker untereinander gegen hochlebende Nationalismen aller Art zu festigen. Dafür setzte der romantische Utopist, der er neben seinem Fortschrittsglaube auch war, sein ganzes Vermögen ein. Kahn förderte und nutzte für seine Pläne zu- sein Riesenwerk «Antlitz der Zeit» mit Porträts von Menschen des 20. Jahrhunderts veröffentlichte, wurde solcherwei- se ein Archiv von über 70 000 Farbbildern aus über vierzig Ländern geschaffen, das dem universalen An- spruch entsprechend «Les Archives de gleich das von den Brüdern Lumire la planete» betitelt wurde. entwickelte farbfotografische Verfah- Philip Meier ren der sogenannten Autochrome. Er So bunt ist in unseren Köpfen die Welt beauftrage Fotografen, um die Welt zu frühestens seit den fünfziger Jahren. reisen, die verschiedenen LebensforJene hingegen vor dem Ersten Welt- men der Menschheit zu studieren und krieg war stets eine in Schwarz-Weiss - die Sitten aller Länder und Völker fotosieht man von den nachkolorierten Rei- grafisch festzuhalten. sebildern ab, die Sujets von damals zeiZwischen 1912 und 1930 beschäftigte gen. Das war bis anhin so: Die Ausstel- Kahn über ein Dutzend Assistenten, um lung «Welt in Farbe» im Museum Riet- das Riesenwerk zu verwirklichen, dem berg ändert unsere Sicht auf die Welt durch die Bankenkrise von 1929 allerradikal. Viel zu wenig bekannt ist näm- dings die Mittel ausgehen sollten. Seilich, dass bereits in den zehner Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Farb- nen Operateuren bleute er derweil ein, nicht das Spektakuläre zu suchen, sonfotografie erfunden worden war. Leuchtende Kartoffelstärke Es sind Bilder von zart schillerndem Kolorit und einmaliger Aura - ohne jedwede Nachbearbeitung. Der technische Aufwand zur Herstellung solcher Autochrome war indes erheblich. Die Glasplatten wurden mit orangerot, grün und violett eingefärbten KartoffelstärkeKörnchen und einer lichtempfindlichen Emulsion bestrichen. Dichte Filter und unempfindliches Filmmaterial erforderten direktes Sonnenlicht und lange Belichtungszeiten. In der Ausstellung des dern sich an die ganz gewöhnlichen Museums Rietberg gezeigt werden Ab- Nacktheit unerwünscht Tätigkeiten der Menschen bei der Ar- züge der Original-Glasplatten, die zu beit und zu Hause zu halten. Tabu Es war zu jener Gründerzeit, als die waren - dies ganz entgegen der Gepflo- Projektionszwecken ähnlich wie die viel Technisierung die Lebenswelt zutiefst genheiten der Zeit - Aufnahmen von späteren Diapositive verwendet wurveränderte. Immer schnellere Verkehrs- nackten Frauen und nackten Kindern. den. Im Rietberg präsentiert werden So wurden die ersten Farbfotogra- überdies nur allerfrüheste Beispiele aus mittel wie Dampfer, Eisenbahn und Flugzeuge beförderten die Sehnsucht fien überhaupt von so berühmten Sujets der Zeit vor 1915. und Lust der Reisenden. In dieser allge- wie der Chinesischen Mauer, des Taj Die Menschen darauf weisen eine meinen Aufbruchstimmung gelangte Mahal oder von Cheopspyramide und stets etwas steife, distanzierte Würde der französische Bankier Albert Kahn (1860-1940) im Diamantenhandel in Südafrika zu sagenhaftem Reichtum. Als überzeugter Anhänger des Fortschritts und der Wissenschaft erkannte Kahn eine technische Revolution, wel- Sphinx gemacht. Es sind aber vor allem die Menschen, die Kahn interessierten und zwar in ihrem alltäglichen Umfeld. Es entstanden etwa Bilder einer Pari- auf. Die lange Belichtungszeit erforder- te Stillstehen, was bei kleineren Kindern, deren Gesichtchen oft etwas verschwommen sind, nicht immer gelang, ser Familie vor ihrer Wohnung in der wie auf einen Gruppenbild mit armeniRue du Pot-de-Fer, von Menschen auf schen Frauen und Mädchen 1912 in che die beschleunigte, sich schon damals der Piazza Bandiera e Moro in Venedig, Istanbul gut zu erkennen ist. zu globalisieren beginnende Lebenswelt von Frauen und Kindern bei der ZubeLächeln beim Fotografiertwerden bestens wiedergab: die Farbfotografie. reitung von Couscous in der Oase war damals auch noch nicht in den Köp- Während das Bedürfnis nach der Biskra in Algerien, von einem Der- fen. Allerdings gibt es in der Schau ein grossen weiten Welt sich in ein mediales wisch-Knaben im Mevlevi-Konvent der Fieber (schon damals!) auswuchs - Lon- Stadt Bursa in der Türkei, von einem don kannte über 500 Kinos, einer der Dorfbürgermeister mit Wasserpfeife im weltweit grössten Filmpaläste in Paris Innenhof seines Hauses in Tonkin, Viet- Bild von unglaublicher Gegenwart: Es zeigt zwei jüdische Mädchen vor einer Fayence-Wand (1909) in Tunesien, wobei das eine - bereits aus den Schuhen zählte über 3000 Plätze -, sah Kahn in Medienbeobachtung Medienanalyse Informationsmanagement Sprachdienstleistungen ARGUS der Presse AG Rüdigerstrasse 15, Postfach, 8027 Zürich Tel. 044 388 82 00, Fax 044 388 82 01 www.argus.ch Argus Ref.: 57945418 Ausschnitt Seite: 1/2 Datum: 23.05.2015 Neue Zürcher Zeitung 8021 Zürich 044/ 258 11 11 www.nzz.ch Medienart: Print Medientyp: Tages- und Wochenpresse Auflage: 114'209 Erscheinungsweise: 6x wöchentlich Themen-Nr.: 038.143 Abo-Nr.: 1094437 Seite: 21 Fläche: 59'714 mm² geschlüpft, um wohl eine Synagoge zu betreten - mit selbstsicher lächelndem Gesichtsausdruck posiert. Viele dieser Bilder sind rare Zeug- nisse längst versunkener Welten: so etwa Aufnahmen des Quartiers Pera in Istanbul (1912) oder der Judengasse in Wien (1913). Andere Ansichten wiederum wirken so zeitlos, als wären sie erst gestern gemacht worden: so das Bild mit einem indischen Mönch in einem Tempel in Ahmedabad von 1913. Wenig bekannter Schatz Seit Jahrzehnten schon ist dieser Schatz im viel zu wenig bekannten Pariser Mus& et Jardins Albert Kahn verwahrt. Das Museum befindet sich in Kahns court inmitten eines Grundstücks, in dem der grosse Enzyklopädiker diverse Biotope mit Pflanzen aus aller Welt anlegen liess - der wunderschöne japanische Garten ist eines davon. Nach seinem Konkurs in den dreissiger Jahren verarmte Kahn und starb wenige Monate nach dem Einmarsch der Nazis in Paris. Was an Hab und Gut übrig geblie- ben war, ging an den französischen Staat, darunter mit Villa und Gärten auch das vollständige Fotoarchiv. Die Ausstellung wurde bereits in drei deutschen Museen gezeigt, dort zum Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren. Vom Museum Rietberg übernommen wurde sie aber aufgrund der geistigen Verwandtschaft des Museumsgründers Eduard van der Heydt mit Albert Kahn. Wie dieser glaubte der gut zwanzig Jahre jüngere van der Heydt mit seiner Propagierung einer weltumspannenden, gleichwertigen Ars una, die er in seiner Zwei jüdische Mädchen vor einer Fayence-Wand in Tunesien, Aufnahme 1909. Sammlung mit universalem Anspruch abzubilden versuchte, einen Beitrag zur Völkerverständigung und zum Weltfrieden leisten zu können. Zürich, Museum Rietberg, bis 27. September. Katalog im Museumsshop Fr. 28.-. Medienbeobachtung Medienanalyse Informationsmanagement Sprachdienstleistungen ARGUS der Presse AG Rüdigerstrasse 15, Postfach, 8027 Zürich Tel. 044 388 82 00, Fax 044 388 82 01 www.argus.ch Argus Ref.: 57945418 Ausschnitt Seite: 2/2
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