Laudatio - Deutscher Literaturfonds

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Klaus Voswinckel
Laudatio auf Moshe Kahn
Lieber Moshe, meine sehr geehrten Damen und Herren,
es gibt einen Satz von Novalis, der heißt, Schriftsteller seien Sprachbegeisterte. An
diesen Satz musste ich denken, als man mir antrug, die heutige Laudatio zu halten, denn
er gilt in besonderem Maße und auf eine wunderbare, über alle engen Grenzen
hinwegreichende Weise für den diesjährigen Preisträger des Paul-Celan-Preises: Moshe
Khan – der als Übersetzer ein von der Sprache Entzündeter ist, entzündet vom
italienischen Original, das er übertragen hat, und mit der funkenschlagenden Kraft
begabt, die Sprachwelt im Deutschen noch einmal neu zu finden und zu erfinden.
Moshe Kahn wird hier für sein Gesamtwerk geehrt – und insbesondere für sein Opus
Magnum, die Übersetzung des gewaltigen, mehr als 1400 Seiten langen Buchs „Horcynus
Orca“ von Stefano D`Arrigo, das ein Buch vom Meer ist, auch vom Meer der Sprache und
der Sprachen. Gewissermaßen haben hier zwei extreme Unternehmungen, zwei
lebenslange Obsessionen zueinandergefunden, und es ist ein Glück (eigentlich auch etwas
für die heutige Zeit Ungewöhnliches, ganz und gar Gegenläufiges), dass solch ein Buch und
solch eine Übersetzung jetzt im Deutschen vorliegen.
Soviel vorweg.
Mit Moshe Kahn verbindet mich seit vielen Jahren nicht nur die Nähe zu Italien,
sondern etwas, das sehr viel mit dem heutigen Preis zu tun hat: Es ist Paul Celan. Unser
erstes Zusammentreffen, Anfang der 70er Jahre, stand ganz in seinem Zeichen. Ich hatte
gerade meine Doktorarbeit über Celan fertig geschrieben – und hatte Celan auch dazu bis
zu seinem Tod verschiedene Male in Paris besucht. Und Moshe, der zu dieser Zeit in Rom
lebte, hatte vor kurzem zusammen mit Marcella Bagnasco zum ersten Mal Gedichte von
Celan ins Italienische übersetzt. Eines Tages erschien er bei mir in München, vermittelt
von meinem Doktorvater, Werner Vordtriede. Da stand er also jetzt neben mir an der
Bücherwand, erzählte mir von Ingeborg Bachmann, die er regelmäßig in Rom besuchte,
und wünschte sich klärende Hinweise und Formulierungen zu Celan, die er in seinem
Nachwort benutzen konnte, so dass ich ihm die ganze noch ungedruckte Doktorarbeit in
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die Hand gab. 1976 erschienen die italienischen Übersetzungen dann bei Mondadori. Das
war seine erste Übersetzungsarbeit, ein ziemlich tollkühnes Unternehmen.
Dass Moshe Kahn gleich mit den Schwierigsten begonnen hat, erzählt im Grunde viel
über ihn. Das Leichte, schon gar das Gefällige scheint ihm nie sehr behagt zu haben. Wenn
er sich von etwas angezogen fühlt, dann von dem, das so komplex und von sprachlicher
Energie geladen ist, dass sich seine Einbildungskraft daran entfalten kann. Von Celan,
ganz am Anfang, bis hin zu Stefano D´Arrigo scheint es ein weiter Weg zu sein, sie sind auf
den ersten Blick auch äußerst gegensätzlich, der eine, D´Arrigo, in überquellender,
überbordender Ausführlichkeit und Opulenz, der andere, Celan, bis aufs Äußerste
reduziert und mit einer sprachlich-gestischen Neigung zum Verstummen.
Aber wenn man genauer hinsieht, treffen sich beide ganz zweifellos in ihrem
unbedingten Anspruch an die Sprache (Celan würde sagen, im Anspruch der Sprache an
den Schreibenden), auch in ihrem dauernden Versuch, die Sprache durch eine Fremdheit
hindurch neu hörbar und erfahrbar zu machen, sie ihrem schnellen Konsum zu entziehen
und zum Klingen zu bringen. Klar ist jedenfalls, dass Spuren von Celan bis in die
Übersetzung von „Horcynus Orca“ hineinreichen und, wir werden es sehen, in ihr
wiederzufinden sind.
Moshe Kahn ist ein Polytrop, ein Polýtropos, ein Weitgereister. Oder, wie man es ja
auch übersetzen kann: ein Bilderreicher. Er hat in Italien gelebt, eine Zeitlang in Sizilien,
im Elsass, in Israel, in der Nähe von Salzburg, von wo aus er mich und meine Frau des
öfteren besucht hat, dann in Berlin, wo er im Moment wohnt, aber auch im rumänischen
Temeshwar und in Marrakesch, wo Teile des deutschen „Horcynus Orca“ entstanden sind.
Egal wo er hingekommen ist, hat er sich immer gleich mit bestimmten, ihm lieben
Möbelstücken umgeben, hat eine Aura für sich geschaffen. Er ist bei allen Umzügen und
Reisen kein Hotelmensch, sondern ein Wohnungsmensch geblieben – vielleicht auch
deshalb, weil er so ausgesprochen gern ein Gastgeber ist, ein großzügiger, ungemein
weitherziger, seine Gäste wunderbar umsorgender Gastgeber. Dass er dabei, nebenher
bemerkt, auch ein professioneller Koch ist, gehört womöglich zum Beruf des Übersetzens
mit hinzu: die Dinge abzuschmecken, die Ingredienzen des Geschmacks zu kennen und
dabei die Worte nicht aus dem Blick zu verlieren. Wir haben ganze Tage und Abende
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kochenderweise mit ihm verbracht und haben seinen Erzählungen zugehört, die
unerschöpflich waren.
Denn Moshe, wenn ich es richtig sehe, ist kein Mensch des Begriffs, sondern des
Erzählens. Die Welt ist für ihn da, um sich in Worten auszubreiten und dem Verlauf der
Dinge immer neu Gestalt zu geben.
Er hat sich mit vielem beschäftigt, mit Musik, mit Theater, auch mit Film. Zeitweilig
hat er eine kleine Filmproduktion gehabt. Erst in den 80er Jahren ist er ganz und gar zum
Übersetzer geworden. Aber da hat er dann, wenn man sich die Namen und Titel ansieht,
gleich eine Fülle von Schriftstellern übersetzt, zumeist aus dem Italienischen, aber auch
aus dem Französischen und Englischen.
Zu den berühmtesten, wiederkehrenden Autoren gehören Pasolini, Andrea Camilleri,
Primo Levi, Stefano Benni und Luigi Malherba – es ist ein guter Teil der wichtigen
italienischen Literatur der Nachkriegszeit bis heute, ich will nicht alle aufzählen, habe sie
auch gar nicht alle gelesen. Aber ich möchte doch zwei herausheben, die mir besonders
wichtig und lieb geworden sind:
Einmal ein Buch von Roberto Calasso: „Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia“ –
das ist eines der schönsten Bücher über die griechische Mythologie, das ich kenne, weil es
den Mythos noch einmal sehr eigenwillig bis zu seinen Randzonen durchstreift und neu
erzählt. Es macht die Vergangenheit nicht vergangen oder nostalgisch, sondern befragt sie
von heute. So kann man in Calassos Buch wieder erfahren, dass Europa – Sie erinnern
sich, Europa – eine asiatische Prinzessin ist. Europa kommt aus dem Orient, welch eine
heilsame Gedankenklärung! Und man kann lernen, dass der Mythos seine Varianten nicht
um einen inneren Kern herum bildet, sondern selber bis heute hin aus diesen Varianten
besteht. Die Variante ist immer noch einmal der Ursprung der Erzählung. Moshe hat das
in allen Abschattierungen und ironischen Girlanden geradezu süffig und elegant ins
Deutsche gebracht. Als ich es las, hatte ich den Eindruck, dass man besser nicht
übersetzen kann.
Das andere ist ein eher unbekanntes Buch: „Das Haus der Häuser“ von Andrea
Giovene, einem späten Nachfahren der neapolitanischen Herzogin von Giovane, von der
Goethe in seiner Italienischen Reise spricht und in deren Gegenwart er, durchaus erotisch
angeturnt, durch die Luke eines Fensters einen nächtlichen Ausbruch des Vesuvs erlebt
hat. Jetzt sind wir im zwanzigsten Jahrhundert. „Das Haus der Häuser“ ist der dritte
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Band der monumentalen „Autobiografia di Giuliano di San Severo“, die Andrea Giovenes
Lebenswerk darstellt, und es erzählt von einem Wunschhaus, das sich der adlige Giuliano
di San Severo in einer Art Flucht aus der Zeit und auch vor seiner Familie in einer
verlassenen Gegend Kalabriens erbauen will – ohne zu ahnen, dass er dabei mehr und
mehr in das Leben der Bauern und Fischer des kleinen Küstenorts hineingerät und am
Ende jeden Stein des Hauses, der umständlich von weither mit bloßen Händen oder auf
einem Muli gepackt herbeigeschafft werden muss, mit einer Geschichte verbindet. Er lernt
das Leben neu. Giovenes Buch ist wenige Jahre vor dem von D´Arrigo erschienen, man
kann durchaus Beziehungen zwischen ihnen sehen, und so wunderbar sich diese ruhige,
untergründig vibrierende Geschichte in Moshe Kahns Übersetzung liest, so sehr harrt
Giovenes weiteres Werk im Deutschen immer noch der Entdeckung. Das nur in die Runde
geworfen.
Nun also: „Horcynus Orca“, Stefano D´Arrigos großes Epos von Heimkehr, Tod, Krieg
und Vergeblichkeit, das genau vor vierzig Jahren, 1975, in Italien erschienen ist und nach
einer langen Zeit des Halbschlafs und der Halbvergessenheit in diesem Frühjahr,
gleichsam neu entdeckt, im Deutschen herausgekommen ist.
Es ist die Hebung eines verborgenen Schatzes. Und wir verdanken es Moshe Kahn, dass
er da ist. Denn er hat das Buch ja nicht nur übersetzt, acht Jahre lang, sondern er hat sich
über noch viel mehr Jahre hin auf die Suche nach einem Verlag gemacht und schließlich,
nach vielerlei Desinteresse und Kopfschütteln, Egon Ammann als Mitstreiter gefunden.
Mit Egon Ammann, der schon andere geheime Größen in den Blick gerückt hat wie
Pessoa oder Mandelstam, war plötzlich der Weg offen für ein so gewaltiges, den üblichen
Rahmen sprengendes Projekt. Es kam noch einmal ins Straucheln, als der AmmannVerlag eingestellt wurde. Aber dann ging es weiter zu Fischer, jetzt mit Ammann als
betreuendem Lektor. Und seit diesem Jahr kann man das Buch in Händen halten, dick
und gewichtig, quer zur Zeit stehend, weit entfernt von unserer heutigen Häppchen- und
Kurzweilkultur.
In den deutschen Kritiken hat man sofort von einer literarischen Sensation gesprochen,
von einem Jahrhundertroman, einem Meisterwerk, einem prächtigen Sprachpalast – und
hat damit zugleich das Buch und die Übersetzung gemeint. Auch hat man „Horcynus
Orca“ mit anderen literarischen Großunternehmungen wie dem „Ulysses“ von Joyce, der
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„Recherche“ von Marcel Proust oder dem „Mann ohne Eigenschaften“ von Musil in
Verbindung gebracht. Dazu noch, da es ein Meerbuch ist, das auf gleiche Weise von
Menschen und von Fischen handelt, von Menschen, die gegen Fische kämpfen, mit
Fischen sprechen oder von ihnen bis in die Träume hinein verfolgt werden, hat man es in
Beziehung zu Melvilles „Moby Dick“ gesehen, zumal auch sein Titel, „Horcynus Orca“,
eine archaisierende Form des lateinischen orcinus orca, den Schwertwal oder Killerwal
bezeichnet. George Steiner z.B. hat gesagt, „Horcynus Orca“ sei die europäische Antwort
auf „Moby Dick“. Tatsächlich ist der Text, im Italienischen und im Deutschen kein
bisschen weniger, voll heimlicher Anspielungen auf vergangene Literatur – er trägt sie als
Gedächtnisspuren in sich, so wie das Meer Spuren vergangener Schiffe und Schiffbrüche in
sich trägt.
Vor allem aber hat er eine eigene Sprache.
Stefano D´Arrigo, der 1919 in Sizilien geboren ist und dessen Roman ganz in der Nähe
seines Geburtsorts spielt, hat auf sehr kunstvolle Weise immer wieder Bestandteile des
Sizilianischen ins Italienische hineingemischt, Worte aus der Fischersprache und
Ausdrücke, in denen frühere Sprachen und Kulturen Siziliens aufblitzen, sei es nun das
Arabische, das Griechische, das Normannische oder das Sikulische. Zum Teil sind das auch
Neologismen und poetische Erfindungen D´Arrigos – genug Herausforderung für einen
Übersetzer, der das ins Deutsche bringen will.
Worum geht es? Das Buch spielt im Oktober 1943 rings um die Meerenge von Messina
zwischen Skylla und Charybdis. Es erzählt über gerade mal fünf Tage hin, und das auf fast
eineinhalb tausend Seiten, von der Rückkehr des desertieren Matrosen Ndrja Cambrìa, der
nach der italienischen Kapitulation sein Schiff verlassen hat und sich von Neapel aus zu
Fuß auf den Heimweg nach Sizilien macht. Das Problem ist: er kann nicht von Skylla
nach Charybdis übersetzten, weil alle Fährboote, auch die Fischerboote, im Krieg zerstört
worden sind. Sie kennen Skylla und Charybdis wahrscheinlich von Homer her, wo sie zwei
Ungeheuer an der Küste sind, die sich die Schiffe und die Seefahrer aus dem Meer greifen.
Aber es gibt diese Orte ja wirklich, Scilla und Chariddi.
Ndrja sucht nach Helfern und gerät dabei in die eigenartige matriarchalische
Gesellschaft der Feminotinnen, die an der kalabrischen Küste leben, das sind zugleich
mythische und ganz reale Gestalten, eine Vermischung aus Händlerinnen,
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Schmugglerinnen, zaubermächtigen Frauen und Prostituierten – Puffabfall, so übersetzt
es Moshe Kahn einmal, sbordellate, und an einer anderen Stelle heißt es, dass sie wie die
Delphine, die hier Feren heißen (von lateinisch ferus - wild, ungezähmt), vielleicht
ursprünglich von den Sirenen abstammen. Mit Hilfe einer Feminotin namens Ciccina Circè
(einer Circe also) gelingt es schließlich, die Meerenge zu überqueren. Aber wer an
glückliche Heimkehr denkt, irrt. Auf der anderen Seite trifft Ndrja überall auf Spuren von
Verletzung und Verheerung, die der Krieg hinterlassen hat, und er stirbt am Ende des
Buches bei einer heimlichen Regatta, mit der er sich Geld für ein neues Fischerboot
verdienen wollte, durch eine verirrte Kugel, die von einem der aliierten Kriegsschiffe
abgefeuert wurde.
Was hier nach Handlung klingt, ist im Buch eher ein endloser Wellengang. Das
Hypnotische, das von D´Arrigos Sprache ausgeht und das in Moshe Kahns Übersetzung
auf ganz eigene Weise wiederkehrt, rührt von dem erzählerischen Umgang mit der Zeit
her, die sich immer wieder dehnt, nicht auf ein Ziel zuläuft, sondern sich im Kreise dreht,
mäandert, fortdriftet und einen beiseitezieht.
Filmisch gesprochen, ist das Buch eine gigantische Zeitlupe, die im Laufe des Romans
immer noch weiter zunimmt, aber nicht so, dass sie erstarren würde, sondern genau
umgekehrt: je mehr sie sich verlangsamt, desto mehr treten andere Einzelheiten aus ihr
hervor, eine andere Zeit, eine andere Art von Wahrnehmung.
Erst auf Seite 834 taucht der große Schwertwahl „Horcynus Orca“ auf, und er geistert
von nun an durch die Meerenge von Messina: ein alles verschlingendes Ungeheuer, eine
Tödin, wie Moshe Kahn übersetzt, auf eine schillernde Weise zugleich unsterblich und dem
Tod geweiht, nachdem ihm die Delphine die Schwanzflosse abgefressen haben. Die Fische,
auch die Delphine haben hier, vielleicht weil sie dem Menschen so verwandt sind, immer
etwas Unheimliches, ja Feindliches, sie sind keine freundlichen Wesen, wie wir es aus den
Mythen kennen – und die Menschen, die Fischer, Pellisquadre genannt, sind ebensowenig
gute Fischer: sie fischen inzwischen mit Bomben, mit Dynamit, auch das eine Folge des
Krieges.
Die Entstehung dieses Buches, genau wie die seiner Übersetzung, hat Zeit gebraucht.
Eine erste Fassung von 1957 hieß „La testa del delfino“, der Kopf des Delphins, andere
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Episoden kamen hinzu, und aus ihnen wurden 1958 ungefähr hundert Seiten in der von
Elio Vittorini und Italo Calvino herausgegebenen Zeitschrift Menabò veröffentlicht.
Plötzlich war D´Arrigo ein klingender Name in Italien, und man erwartete mit Spannung
sein Buch. Als die Fahnen schon fertig waren und D´Arrigo für seine Korrekturen noch
etwas Zeit erbat, wurden aus den erwarteten wenigen Monaten: 14 Jahre. Erst 1975 ist
D`Arrigo mit seinen Korrekturen fertig geworden, und der Umfang des Manuskripts hatte
sich inzwischen fast verdoppelt.
Das ist ein ziemlich einzigartiger Vorgang. Da hat ein Autor nicht nur den Moment
seines Ruhms um 14 Jahre verzögert. Er hat sein Werk auch ganz offensichtlich wichtiger
gefunden als jeden schnellen Erfolg. Seine Instanz war nicht die literarische Öffentlichkeit
oder gar der Kulturbetrieb, sondern etwas Anderes.
Als Moshe Kahn ihn in den 80er Jahren besuchte, hat er dann erfahren, wie diese Zeit
der Korrekturen vor sich ging: D´Arrigo spannte Wäscheleinen quer durch sein
Wohnimmer, an die er die Fahnen hängte, und er klemmte mit Wäscheklammern andere,
neu hinzugeschriebene Seiten unter sie, die manchmal bis zum Boden reichten und sich
nach rechts zu links zu Leporellos weiten konnten – so dass die ablaufende Zeit oben an
der Wäscheleine noch einmal eine ganz neue Tiefendimension bekam. Auf diese Weise ist
erst die endgültige Form von „Horcynus Orca“ entstanden. Als das Buch erschien, sprach
Pasolini von „1257 Seiten reiner Poesie“.
Jetzt haben wir es also auf Deutsch. Und ich erinnere mich noch, wie Moshe einmal vor
vielen Jahren davon erzählte, er habe da ein Buch gelesen, von einem hierzulande völlig
unbekannten Autor, einer Art sizilianischem James Joyce, das er unbedingt übersetzen
wollte. Von da an war es sein Lebensprojekt. Die anderen Übersetzungen galten ihm jetzt
zeitweilig nur noch als Etüden, als Fingerübungen für „Horcynus Orca“. Und es scheint
tatsächlich so zu sein, dass seine Fähigkeiten umso mehr gewachsen sind, je schwieriger
die Aufgabenstellung war. Maike Albath, die sehr Kenntnisreiches und Schönes zu dieser
Übersetzung gesagt hat, formuliert es so: „Für Moshe Kahn ist keine Wortfindung zu
irrsinnig, keine Anspielung zu komplex, im Gegenteil, erst dann fühlt er sich richtig
herausgefordert und steigert sich, genau wie D´Arrigo, in wahre Wortdelierien hinein.“
Eben das ist es, was ich mit Novalis am Anfang Sprachbegeisterung nannte. Gewiss sind
ihm dabei viele Lektüren anderen Schriftsteller zugute gekommen, wie Kleist, Robert
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Walser, Arno Schmid, Hölderlin und eben auch Celan. Sie haben seinen Sprachsinn
geschärft und seine Sprachlust gesteigert.
Hinzu kommen Worterfindungen aus dem Jargon, die klingen, als würde es sie schon
geben, Worte wie „schlapphäbig“ , „Salzraff“ (für Salzschmuggel) oder „Mammellereien“.
Zur Orca gibt es einen Orcadaver, zur Fere gibt es eine Hungerfere, einen Ferhunger
und auch eine Triumfere.
An Celan klingen Worte wie „zerlippt“, „zerscherbt“ oder „glutschubiges Prusten“ an.
Moshe Kahn hat gar nicht erst begonnen, das Sizilianische durch irgendeinen deutschen
Dialekt nachzuahmen, sondern er ist in die Tiefe der Sprache mit ihren inneren
Strömungen und Eigenheiten getaucht und hat einen Reichtum daraus hervorgeholt, der
verblüffend ist. Er hat das Mäandern der Sätze, die weiten Bögen, die eine Vielfalt von
Themen und Formen ineinander schieben, immer auch musikalisch gelöst. Als
Orientierung galt ihm dabei Gustav Mahler, den er beim Übersetzen, wie er sagt, häufig
gehört hat.
Und da wir bei seinen Referenzpunkten sind, komme ich am Schluss noch einmal zu
Celan zurück, der ja bekanntlich das Übersétzen immer auch als eine Form des
Ü´bersetzens verstand, als Fährmannstätigkeit, von einem Ufer zum anderen.
In einem Brief an Peter Schifferli, den Leiter des Arche-Verlags, für den er Picassos
Text „Wie man die Wünsche beim Schwanz packt“ übersetzt hat, schreibt Celan, er
wünsche sich, dass seine Übersetzung nicht nur nach Zeilen, sondern auch nach
Ruderschlägen bezahlt würde.
Lieber Moshe, in deiner Übersetzung hört man die Ruderschläge beim Ü´bersetzten, du
hast Stefano D´Arrigo auf einzigartige Weise ins Deutsche gebracht. Und da das ganze
Buch ja gewissermaßen von nichts anderem als vom Ü´bersetzen handelt, vom
Ü´bersetzen von Skylla nach Charybdis, darf man dich mit doppeltem Recht einen
Fährmann der Sprache nennen. So wie Du können das nur sehr wenige. Ich freue mich,
dass du diesen Preis bekommen hast. Und ich gratuliere dir sehr dazu.