Der Schrank Wie Deutsche und Italiener die - Deutschlandfunk

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DeutschlandRadio/DEUTSCHLANDFUNK
Hintergrund/Feature
Redaktion: Karin Beindorff
Sendung:
16. Januar 2007
19.15 - 20.00 Uhr
Der Schrank
Wie Deutsche und Italiener die Vergangenheit entsorgen
Von Ruth Jung
Co-Produktion DLF/RBB
URHEBERRECHTLICHER HINWEIS
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Deutschlandradio
- Unkorrigiertes Manuskript -
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Atmo (Zikaden)
O-Ton mit Atmo: Via Crucis (Kreuzweg) in Sant’Anna di Stazzema, eine Führung
draußen im Gelände; auf italienisch
O-Ton Enio Mancini
Questa è Anna,
Sprecher 1:
Auf diesem Relief ist Anna dargestellt, sie war das kleinste Kind. Anna Pardini,
zwanzig Tage alt und das jüngste Opfer von Sant’Anna. Dieses Kind hatte das Unglück, nicht sofort tot zu sein. Wenn man die Skulptur genau betrachtet, erkennt man,
dass Hände und Füße fehlen. Als sie auf sie feuerten, haben sie ihr die Hände und
Füße regelrecht weggeschossen. Noch vierzig Tage hat sie gelitten, dann ist sie gestorben.
O-Ton Rechtsanwältin Gabriele Heinecke
Es geht um Mord oder Totschlag. Bei Totschlag wäre die Tat verjährt, bei Mord wäre
sie nicht verjährt und die Staatsanwaltschaft hat inzwischen eine Vielzahl von Zeugen vernommen, wonach die Täterschaft, jedenfalls soweit es einen hinreichenden
Tatverdacht erfordert, für bestimmte Menschen festgestellt worden ist, insbesondere
für einen Herren, der auch in Italien abgeurteilt ist, das ist Herr Sommer. Er lebt hier
in Hamburg und es ist sehr wahrscheinlich, nach dem was uns vorliegt an Akten,
dass er den Befehl zu diesem Massaker erteilt hat.
O-Ton Enio Mancini
Gerhard Sommer (…) lui ha detto nell’ suo interrogatorio che a fatto alla magistratura
italiana, ha detto, che io, non ho niente da perdonarmi, io ero militari, ho fatto quello
che un militario deve fare: ubbidire.)
Sprecher 1:
Gerhard Sommer hat bei seiner Vernehmung gegenüber Vertretern der italienischen
Staatsanwaltschaft gesagt, er habe sich nichts vorzuwerfen, er sei Soldat gewesen
und habe nur das getan, was ein Soldat zu tun habe: gehorchen. Gehorchen!
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Ubbidire!
Musik
Ansage:
Der Schrank.
Wie Deutsche und Italiener die Vergangenheit entsorgen.
Ein Feature von Ruth Jung
O-Ton Enio Mancini
Dunque, vedete, sono arrivati dalla montagna. Una colonna è arrivata di là, della destra, un’altra colonna qua davanti … piazza della chiesa
Sprecher 1:
Sie kamen aus den Bergen. Eine Kolonne kam von rechts dort oben, eine andere
von vorne und eine dritte von links, die vierte Kolonne kam von unten. An jenem
Morgen hatten sie um sechs Uhr früh Position bezogen und Sant’Anna an vier strategischen Punkten umzingelt, dann brachen sie aus der Deckung und schossen. Sie
schossen überall, wo sie auf Menschen trafen. Von den vier Kolonnen schossen drei
auf alles, was sich bewegte, jede Kolonne war begleitet von einer SS-Kompanie. Nur
wenige Menschen konnten entkommen, manche überlebten unter Leichen, andere
konnten sich in den Gemüsepflanzungen verstecken (… ) Vor allem in die Häuser
und Stallungen hinein wurde geschossen. Kennzeichnend für das Blutbad von
Sant’Anna sind die Brände, von den geschätzten 560 Toten, das ist die ungefähre
Zahl, denn wieviele Tote es wirklich gab, das weiß man bis heute nicht, waren über
vierhundert verbrannt, in den Häusern, in den Stallungen und auf dem Platz vor der
Kirche.
Autorin:
Sant’Anna di Stazzema. Ein Bergdorf in den Apuanischen Alpen, Provinz Lucca.
Weiträumig verstreute Gehöfte und Häuser kleben an steilen Hängen. Eine schmale
Straße zieht sich in vielen Windungen von Pietrasanta in der Ebene etwa zehn Kilometer die Berge hinauf.
Atmo (Führung)
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Autorin:
Enio Mancini erklärt Besuchern die Bedeutung der Bronzetafeln, die entlang des
Kreuzweges angebracht sind. An jeder der zwölf Stationen sind zwei Tafeln zu sehen: eine Szene aus dem Leidensweg Christi, eine Szene des Geschehens an jenem 12. August 1944.
O-Ton Enio Mancini oben am Grabmal für die Ermordeten
e fu scelto questo luogo qui perchè i nostri adulti …. mi da la sensazione della speranza
Sprecher 1:
Diesen Ort hier oben wählten die Angehörigen der Ermordeten zur Errichtung eines
Grabmals aus, weil sie ihn für den schönsten Platz von Sant’Anna und für einen würdigen Ort hielten. Wenn ich hierher komme und dieses Licht sehe, den Kontrast von
Gebirge und Meer in der Ferne, dann gibt mir das ein Gefühl der Hoffnung.
Sprecher 1 (Questo ossario…. lo costruiranno la gente)
Unter diesem Grabmal liegen die sterblichen Überreste von etwa vierhundert Menschen, die anderen Toten indessen, die, die man noch erkennen und identifizieren
konnte, wurden unten auf dem Friedhof bestattet. Dieses Grabmal mit der Gedenkstätte, sie wurde 1948 eingeweiht, war von Anfang an ein wichtiger Ort für uns, ein
Ort des Trostes. (…) Als das Monument damals hier errichtet wurde, geschah das
nicht im Auftrag einer öffentlichen Institution, es waren die Menschen von hier, die es
mit eigenen Mitteln errichtet haben.
Sprecher 2
Deutscher Bundestag. 16. Wahlperiode. Juli 2006. Kleine Anfrage der Abgeordneten
Ulla Jelpke, Sevim Dagdelen, Jan Korte, Kersten Naumann, Dr. Norman Paech und
der Fraktion der Linken zur Strafverfolgung von Verantwortlichen für Kriegsverbrechen in Italien und Entschädigungszahlungen für italienische Militärinternierte
Wir fragen die Bundesregierung:
Wie viele Massenerschießungen von Zivilisten, Partisanenverdächtigen, gefangenen
oder sich ergebenden Soldaten haben deutsche Truppen zwischen 1943 und 1945 in
Italien vorgenommen (…) Wie sind diese Massenerschießungen nach Auffassung
der Bundesregierung aus völkerrechtlicher Sicht zu bewerten?
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O-Ton Enio Mancini Io mi chiamo Enio Mancini…tanta gente di sfollati)
Sprecher 1:
Ich heiße Enio Mancini und bin in diesem Dorf zur Welt gekommen. Im Sommer
1944, als sich das Drama ereignete, war ich ein Kind und noch keine sieben Jahre
alt. Ich lebte hier mit meiner Familie, in jenem Sommer hatten wir sehr viele Flüchtlinge aufgenommen. Ursprünglich hatte Sant’Anna vierhundert Einwohner, aber im
Sommer 1944 waren es viel mehr, weil viele verängstigte Menschen aus der Ebene
der Versilia heraufgekommen waren, um sich in Sicherheit zu bringen.
Autorin:
Enio Mancini ist ein herzlicher Mann Ende Sechzig. Er spricht gefasst über die Ereignisse vom August 1944. Die Erinnerung wachzuhalten, sagt er, sei seine Lebensaufgabe. Enio Mancini spricht vor Schulklassen, er wird zu Vorträgen eingeladen und er
leitet das kleine Museum der Resistenza, das im ehemaligen Schulgebäude eingerichtet worden ist. Sein Traum ist eine Begegnungsstätte für junge Leute aus ganz
Europa:
O-Ton Enio Mancini Io ho avuto la fortuna in quell’ giorno di essere risparmiato. Io
sono vivo qui a racontare perchè un ragazzo tedesco, non aveva ancora vent’anni,
invece di spararmi al dosso ha sparato in aria, ha salvato la vita a me e alla mia
famiglia, era un tedesco)
Sprecher 1:
Ich hatte das Glück an diesem Tag verschont worden und am Leben geblieben zu
sein. Ich sitze heute hier und kann erzählen, was geschehen ist, weil ein junger
Mann, er war sicher noch keine zwanzig Jahre alt, in die Luft geschossen hat, statt
mir in den Rücken zu schießen. Er rettete mir und meiner Familie das Leben, ein
Deutscher.
Autorin:
Diesen Deutschen hat Enio Mancini lange gesucht, vergeblich. Er würde ihm gern
danken, sagt er.
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O-Ton Enio Mancini Qui in Versilia…. alla Riviera Adriatica; … Poi ha iniziato
un’altro fenomeno drammatico…. la guerra sembrava lontana)
Sprecher 1:
In der Versilia setzten die Nazis zur letzten Offensive an, von Forte dei Marmi bis zur
Adria auf der anderen Seite zog sich die sogenannte Gotische Linie über den Apennin. (…) Zugleich waren wir den alliierten Bombenangriffen ausgesetzt, die auf Nazistellungen zielten, eine dramatische Lage. Die Versilia war zum Schlachtfeld geworden und ihre Menschen wurden Opfer der Nazis und Opfer des Bombenhagels der
Alliierten (…) Und hier in Sant’Anna, dem kleinen Bergdorf mit seinen vierhundert
Einwohnern, lebten auf einmal an die tausend Menschen. Damals führte keine asphaltierte Straße herauf, man kam nur über Pfade in die Berge, die Leute fühlten sich
sicher.
Autorin:
Wie von der Hand eines Riesen geformt wirken die mächtigen Felsnasen im Hintergrund. In Sant’Anna endet die Straße. Um in den Haupt- und Verwaltungsort Stazzema zu gelangen, muss man den Berg wieder hinunterfahren und auf der stets
überlasteten Küstenstraße die Abzweigung suchen. Carrara mit seinen berühmten
Marmorsteinbrüchen in der Umgebung ist nicht weit entfernt. Bergbau spielte in der
Region die Hauptrolle. Unterhalb von Sant’Anna waren früher Eisenerzminen - und
dort arbeitete der Vater von Milena Bernabò.
O-Ton Milena Bernabò Ho vissuto sei anni in Liguria, poi siamo ritornati con la famiglia…tranquilla)
Sprecherin 2:
Wir haben sechs Jahre lang in Ligurien gelebt und sind dann nach Sant’Anna zurückgegangen, weil Vater dort Arbeit in der Mine gefunden hatte. Es war Krieg als wir
zurückkamen und überall waren Flüchtlinge unterwegs, jeder sollte in seinen Heimatort zurückgehen, hieß es, und weil wir ja aus der Toskana und aus Sant’Anna
waren, gingen wir dorthin zurück wo unser Haus war, mit etwas Land dazu, dort hatten wir alles, was eine Familie eben so brauchte, um sich ernähren zu können.
(sie unterbricht, weint) Che posso dire, mi scusi Signora
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Autorin:
Milena Bernabò habe ich durch Vermittlung von Enio Mancini kennengelernt. Sie ist
eine der wenigen Überlebenden des Massakers. Der Achtundsiebzigjährigen mit den
tiefen Furchen im Gesicht und den dichten hellen Locken ist anzumerken, wie sehr
die Erinnerung sie aufwühlt.
O-Ton Milena Bernabò Allora se vedevanno bombardimenti dalle tutte le parte, tutta la spiagga…..la guerra vero; certo punto)
Sprecherin 2:
Es gab überall Bombenangriffe, von allen Seiten fielen unten in der Ebene die Bomben, am Strand, in Livorno, in der gesamten Gegend. Wir sahen die Bomber nachts
heranfliegen, die Menschen waren in Panik. Viele der Männer waren beim Militär, in
den Familien fehlten die Söhne und Ehemänner und viele Familien waren auseinandergerissen. (…) Partisanen gab es in unserem Dorf nicht, außerhalb wohl, aber
nicht in unserem Dorf. Aber viele der Männer, die beim Militär gewesen waren, hatten
sich in den Bergen versteckt, um nicht erschossen oder deportiert zu werden. Und
als das dann endlich vorbei war, diese Bombenangriffe, da fing der Krieg erst richtig
an, von überall her kamen jetzt die Deutschen.
Autorin:
Wir sitzen auf harten Stühlen in der Sakristei der kleinen Kirche von Sant’Anna. Kalt
ist es dort, über Stunden sitzen wir fröstelnd beisammen. Milena Bernabò ist in Begleitung ihrer Tochter, einer Enkelin und einer jungen Freundin, Claudia Buratti, gekommen. Stockend berichtet die alte Frau von jenem Tag, an dem Mutter und
Schwestern ermordet wurden. Immer wieder sucht sie nach Worten für das Erlebte,
über das sie lange Zeit nicht sprechen konnte, aber jetzt will sie mir, der Deutschen,
erzählen, wie sie überlebte damals als sechzehnjähriges Mädchen.
O-Ton Milena Bernabò (… e allora communque siamo andati avanti …c’era anche
la moglie di questo Garibaldi, con due bimbe )
Nur auf italienisch
Autorin (die zusammenfasst):
Sie seien aus ihrem Haus geholt und zum Gehen gezwungen worden, vor einem
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Stallgebäude des Gehöfts Vaccareccia hätten sie Halt gemacht. Milena, die Mutter
und Schwestern und die vielen anderen Menschen. In dem Stall seien Schafe gewesen, die Tiere seien ins Freie getrieben worden und dann seien in diesen Stall die
Menschen hineingetrieben worden, sehr viele Menschen, dicht gedrängt hätten sie
gestanden, manche weinten, weil sie Angst hatten, andere, weil sie ein Kind vermissten.
O-Ton Milena Bernabò ( … e quando …la mia mama, cercava la mama, e l’altro
anche)
Autorin:
Sie habe bemerkt, dass das Stalltor für einen kurzen Moment geöffnet worden und
von außen etwas hineingeschoben worden war. Ein Maschinengewehr. Dann das
Feuer, der Lärm und die Menschen, die übereinander stolperten und versuchten
nach draußen zu kommen und zu Boden fielen. Unter den vier oder fünf Menschen,
die nach draußen gelangt waren, sei ihre Schwester gewesen, wie die anderen sei
sie mit einem Kopfschuß getötet worden, entlang der Straße hätten ihre Leichen gelegen. Irgendwann sei sie aufgestanden, wer sie gerettet habe, wisse sie nicht, vielleicht hatte sie das Mädchen, das an ihrem Rücken lag, zu sich heruntergezogen, sie
war nun tot, ins Herz getroffen, alles sei voller Blut gewesen, trotzdem habe sie dieses Mädchen umarmen wollen. Nach einiger Zeit habe sie Kinderstimmen gehört. Lina, Mario und Mauro, die geweint und ihre Mütter gesucht hätten.
O-Ton Milena Bernabò o Mauro…questo pavimento di cucina, ha capito )
Autorin:
Mario sei ein kleines Kind gewesen, fünf Jahre alt, während Lina und Mauro zehn, elf
Jahre alt gewesen seien. Alle vier seien sie voller Blut gewesen, hätten unzählige
Wunden gehabt, sie selbst habe überall geblutet, hatte über zwanzig Wunden, Mario
habe nicht ganz so stark geblutet und Lina und Mauro seien leichter verletzt gewesen. Sie mussten aus dem Stall raus, dort drinnen hätten sie nicht länger überlebt,
das Feuer habe um sich gegriffen, durch das Tor habe man nicht entkommen können, davor lagen brennende Leichen. In der hinteren Ecke des Stalls in der Nähe des
Futtertrogs hätten sie einen Tisch entdeckt und diesen Tisch habe sie schräg an die
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Wand gelehnt und dann seien sie über den Tisch in die über der Stallung gelegene
Küche geklettert, die einen Steinboden hatte.
Atmo (Zikaden)
O-Ton Claudia Buratti Sant’Anna è uno di più grande eccidi in Italia e in Europa…fu
il primo )
Sprecherin 3:
Das Massaker von Sant’Anna ist eines der schlimmsten Massaker in Italien und Europa, vergleichbar mit Oradour-sur-Glane und Lidice. Innerhalb von weniger als vier
Stunden wurden hier 560 Menschen systematisch und mit furchtbarer Präzision erschossen. Während des Rückzugs der Nazitruppen kam es zu vielen Massakern in
der Toskana, aber Sant’Anna war das erste dieses Ausmaßes und dieser Brutalität.
Danach ereignete sich ähnliches in San Terenzo, Marzabotto und an anderen Orten.
Autorin:
Claudia Buratti ist eine junge Frau Mitte Dreißig. Sie studierte Jura und beschäftigte
sich in ihrer Examensarbeit mit der juristischen Aufarbeitung des Massakers von
Sant’Anna di Stazzema.
O-Ton Claudia Buratti Sono parente di alcuni vittime…quello mattina del dodici agosto)
Sprecherin 3:
Ich habe selbst Verwandte unter den Opfern von Sant’Anna. Mein Großvater verlor
dort seine Mutter, seine Frau und seine beiden neun und zwölf Jahre alten Kinder,
Nara und Bruno. Später hat mein Großvater wieder geheiratet und in dieser Ehe ist
mein Vater geboren. Jedes Jahr am 12. August machte sich mein Vater auf den
Weg, um der Opfer von Sant’Anna und der Opfer der Familie zu gedenken, während
mein Großvater ein vom Schmerz gebeugter Mann war, der darüber nicht sprechen
konnte. Man muss sich das vorstellen: ein Mann, der seine Familie ruhigen Gewissens zuhause im Dorf zurücklässt, weil er glaubt, dass Soldaten wehrlosen Zivilisten
nichts tun würden, denn es waren ja nur Frauen, Kinder und alte Menschen im Dorf.
Dieser Mann versteckt sich wie die anderen Männer in den Bergen, um nicht verschleppt oder auf der Stelle erschossen zu werden. Er kehrt also in sein Dorf zurück
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und findet dort die Tochter lebensgefährlich verletzt und Mutter, Ehefrau und das
zweite Kind verbrannt in einem der Ställe des Gehöfts Vaccareccia. Man stelle sich
den Schock vor, den dieser Mann, mein Großvater, an jenem 12. August 1944 erlitten hat.
Gedicht XX Secolo
Anna
Piccoli occhi masticati della folia.
Piccole mani chiuse,
Straziate dall’odio dei lupi affamati.
Piccolo corpo,
Offeso e divorato dai lunghi denti della barbarie
E della gramigna che fiorisce ovunque.
Piccola donna senza futuro,
Io secolo ambiguo, bugiardo e non civile,
Ti chiedo perdono.
Autorin:
Anna
Kleine Augen vom Wahnsinn zermalmt
Kleine Fäuste in sich geschlossen
Zerfleischt vom Hass ausgehungerter Wölfe
Kleiner Körper blutig verletzt
In den sich die langen Zähne der Barbarei geschlagen
Und den überwuchert das Unkraut das überall blüht
Kleine Frau ohne Zukunft
Ich
Das janusköpfige Jahrhundert trügerisch und gesetzlos
Bitte Dich um Verzeihung
Sprecher 2:
Wir fragen die Bundesregierung:
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Wie viele Opfer deutscher Kriegsverbrechen in Italien sind nach Kenntnis der Bundesregierung sowie nach Angaben italienischer Opferverbände heute noch am Leben?
Historischer O-Ton
Nachrichten des Italienischen Rundfunks vom 7. Juli 1943: Attenzione, attenzione……
Autorin:
7. Juli 1943. Der italienische Rundfunk an die Bevölkerung: der König, heißt es, habe
die Demission Mussolinis angenommen und als seinen Nachfolger Marschall Badoglio nominiert. Eine historische Wende, der faschistische Diktator, der Duce hatte
seine Macht verloren.
Sprecher 2:
„Wo Banden in größerer Zahl auftreten, ist der in diesem Bezirk wohnende, jeweils
zu bestimmende Prozentsatz der männlichen Bevölkerung festzunehmen und bei
vorkommenden Gewalttätigkeiten zu erschießen. Dies ist den Einwohnern bekanntzugeben. Werden Soldaten aus Ortschaften beschossen, so ist die Ortschaft niederzubrennen. Täter oder Rädelsführer sind öffentlich aufzuhängen.“
Autorin:
Der sogenannte „Bandenbefehl“ wurde am 17. Juni 1944 von General Kesselring,
dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht in Italien unterzeichnet. In den Archivunterlagen der Wehrmachts- und SS-Stellen, die für die „Bandenbekämpfung“ zuständig
waren, werden die Bewohner der „Bandengebiete“ mit Partisanen gleichgesetzt und
Partisanen galten als Banditen.
O-Ton Gentile
Im Sommer 1944 entsteht eine ungeheuerliche Radikalisierung, die auch von Seiten
der Wehrmacht begünstigt wird durch die Herausgabe von verbrecherischen Befehlen, wie den Befehlen von General Feldmarschall Kesselring, die erlauben jedem Offizier, jedem deutschen Soldaten weite Freiheiten in bezug auf sein Verhalten gegenüber der Zivilbevölkerung im Zusammenhang mit der Partisanenbekämpfung.
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Autorin:
Carlo Gentile ist Historiker in Köln und seit 1997 Gutachter in Fällen von Kriegsverbrechen bei Strafverfahren der Militär-Staatsanwaltschaften Turin, Neapel und La
Spezia sowie der Zentralstelle des Landes Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung
von NS-Massenverbrechen bei der Staatsanwaltschaft Dortmund und der Zentralen
Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg.
Carlo Gentile hat herausgefunden, dass die 16. SS-Panzergrenadier-Division für das
Massaker von Sant’Anna verantwortlich ist.
O-Ton Carlo Gentile
Die 16. SS-Panzergrenadier-Division war eigentlich eine typische Division der Waffen-SS. Das Besondere an ihr war das Personal, das zum Teil aus erfahrenen Offizieren bestand, sofern es sich um das Führungspersonal handelte, die bereits in den
30er Jahren im Konzentrationslagerdienst ihre Tätigkeit begonnen hatten und die bereits Anfang des Krieges 1941 in die Sowjetunion einmarschiert sind und Einheiten,
die dort an großen Massakern gegen die Zivilbevölkerung, gegen die jüdische Bevölkerung dieser Region beteiligt gewesen sind. Ein nicht unerheblicher Teil dieses Personals kam zum Beispiel aus einer rückwärtigen Einheit, der Division Totenkopf, die
sich 1943 in Warschau befand und die dort an der Liquidierung des Warschauer
Ghettos teilgenommen hat und einzelne Angehörige dieser Einheit, die in Warschau
waren, kamen zur 16.SS-Division und mehrere von ihnen waren innerhalb der Einheit, die in Sant’Anna war …
O-Ton Enio Mancini Eh, erano guidati, purtroppo (…) molta gente stava giù,… è
impossibile ormai)
Sprecher 1:
Diese Leute hatten Führer, sie wurden von Mitgliedern der örtlichen Faschistenmiliz
hinaufgeführt, so war es, leider. Eine schmerzhafte Wahrheit, die uns zu schaffen
macht, denn moralisch haben diese Italiener, die von hier, aus der Versilia waren,
noch mehr Schuld auf sich geladen als die deutschen Nazis. Es waren ja unsere
Leute, man kannte sich, hatte Kontakte mit den Menschen aus Sant’Anna, hatte dort
oben ein Stück Brot und ein Glas Wein geteilt. (…)
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O-Ton Claudia Buratti L’armadio della vergogna, si chiama cosi…tra queste
Sant’Anna di Stazzema)
Sprecherin 3:
Schrank der Schande, diese Redewendung bezieht sich auf einen Vorgang im Zusammenhang mit dem Prozess gegen Erich Priebke. Den Schrank entdeckte man im
schönen Palazzo Cesi in Rom, dem Sitz der Militär-Generalstaatsanwaltschaft. Es
heißt, er habe in einem der Räume umgedreht und verschlossen mit der Tür zur
Wand gestanden. Für den Prozess gegen Priebke war man auf der Suche nach Dokumenten und daher öffnete ein Justizbeamter besagten Schrank. Auf diese Weise
entdeckte man nicht nur die für den Priebke-Prozess benötigten Dokumente, sondern
außerdem etwa 695 von den Alliierten angelegte Akten über Kriegsverbrechen, die
zwischen 1943 und 1945 in Italien begangen worden waren. Darunter Dokumente
zum Blutbad in Kephalonia, in Marzabotto (…) und eben auch die Dokumente zum
Massaker von Sant’Anna.
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O-Ton Carlo Gentile
In der unmittelbaren Nachkriegszeit in Italien hat man zunächst versucht, einige
symbolische Prozesse durchzuführen (….) und in vielen anderen Fällen einfach stillschweigend die Verfahren ruhen zu lassen. Vor dem Hintergrund, dass Italien eben
nicht allein ein Opferland gewesen ist, sondern auch Täterin im Zweiten Weltkrieg
und dass zahlreiche italienische ehemalige Offiziere der Armee, der Polizei, der faschistischen Verbände gesucht wurden, von Jugoslawien, von Griechenland, von
den ehemaligen besetzten Ländern. Und um diese italienischen Täter zu schützen,
hat man gemeint, es wäre besser, wenn sprichwörtlich Gras über die Sache wachsen
würde.
Autorin:
Zu den verdrängten italienischen Kriegsverbrechen gehört auch der Massenmord mit
Chemiewaffen an afrikanischen Zivilisten. Das faschistische Italien hatte 1935 einen
Angriffskrieg gegen Abessinien begonnen und Giftgas gegen die Zivilbevölkerung
eingesetzt.
O-Ton Carlo Gentile
Zur Zeit der Verjährungsdebatte Mitte der 60er Jahre in der Bundesrepublik wurde
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auch an Italien eine Anfrage gerichtet, Unterlagen zu Kriegsverbrechen, die noch
nicht aufgearbeitet worden waren zur Verfügung zu stellen und Italien ist dieser Anfrage selbstverständlich nachgegangen und hat etwa sechzig Verfahren zur Verfügung gestellt. Diese Verfahren sind auch in Deutschland verfolgt worden, sie sind untersucht worden und Täter wurden ausfindig gemacht, die Ermittlungen waren auch
ziemlich langwierig, sie sind aber dann allesamt eingestellt worden.
Sprecher 2:
Wir fragen die Bundesregierung:
Wie bewertet die Bundesregierung den Umstand, dass italienische Gerichte das
Hauptverfahren gegen die Verantwortlichen des Massakers in Sant’Anna abgeschlossen haben, während die Staatsanwaltschaft Stuttgart seit nunmehr rund vier
Jahren nicht über ein Ermittlungsverfahren hinauskommt, und teilt sie die Ansicht der
Fragesteller, hier liege ein gravierendes Versagen der deutschen Justiz vor? (…) Ist
der Bundesregierung bekannt, dass ein italienisches Gericht in La Spezia im Jahr
2005 Verantwortliche des Massakers in Sant’Anna wegen Mordes verurteilt hat?
O-Ton Enio Mancini Il ventidue giugnio dell’anno scorso abbiam o atteso la sentenza per sei, sette ore …principio della guistizia )
Sprecher 1:
Am 22. Juni 2005 warteten wir über Stunden auf die Bekanntgabe des Urteils. Gegen
Mittag war die Beweisaufnahme abgeschlossen gewesen, aber bis zur Urteilsverkündung dauerte es dann bis abends, es war fast acht Uhr. Zwar sind wir davon ausgegangen, dass es zu einer Verurteilung kommen würde, doch sicher war das nicht.
Gehofft haben wir natürlich alle darauf, am meisten vielleicht jene Überlebenden, die
um einiges älter sind als ich und denen es sehr viel schlechter geht. So warteten wir
also auf den Richterspruch, und als dann der Vorsitzende endlich den Schuldspruch
verkündete, war das wie eine Befreiung. Es war uns klar, dass diese Personen, die
wir nie vor Gericht gesehen hatten, dass keiner von ihnen in Italien im Gefängnis
landen würde, aber darum ging es gar nicht. Wir wollten, dass endlich der Gerechtigkeit Geltung verschafft werden würde. Es war sehr bewegend, alle weinten, aber eher so, wie man aus Freude weint, auch wenn es natürlich keine Freudentränen waren, sondern Tränen der Erleichterung, endlich war der Gerechtigkeit Genüge getan
worden .
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Sprecher 2:
Das Militärgericht in La Spezia verurteilte am 22. Juni 2005 Gerhard Sommer, schuldig der Beteiligung am fortgesetzten Mord, begangen mit besonderer Grausamkeit,
Alfred Schöneberg, Ludwig Heinrich Sonntag, Alfred Concina, Karl Gropler, Horst
Richter, Ludwig Göring, Werner Bruss, Georg Rauch, Heinrich Schendel in Abwesenheit zu lebenslangen Haftstrafen.
O-Ton Carlo Gentile
Die eigentliche Akte aus dem ominösen Schrank der Schande ist Ende 1994 an die
Staatsanwaltschaft La Spezia übermittelt worden und erst 1996 hat man ernsthaft
angefangen damit zu arbeiten und über viele Jahre ist eben nicht viel passiert. Erst
durch die Berichterstattung in Deutschland, durch die Recherchen von Journalisten
und von Historikern, die neue Elemente und in manchen Fällen sogar Namen von beteiligten Personen, von Tätern, von Zeugen genannt haben, überhaupt erst ein Ansatz für tiefgreifende Ermittlungen geliefert haben.
O-Ton Claudia Buratti Io ho visto un maggiore interesse della stampa tedesca…ritorno di quello che è stato
Sprecherin 3:
Die ausländische Presse, vor allem deutsche, amerikanische und englische und sogar japanische Zeitungen interessierten sich für den Prozessverlauf. In Italien hingegen gab es ein paar kleine Meldungen und basta, und dabei handelt es sich doch
auch um unsere Geschichte. Deutschland muss sich seiner Vergangenheit stellen,
aber ich finde, auch Italien müsste das tun und sich seiner Geschichte stellen. In letzter Zeit wurde die Geschichte der Resistenza häufig in Zweifel gezogen, darüber wird
viel diskutiert und dabei wird meistens die Geschichte des Faschismus außen vorgelassen, es gibt in den letzten Jahren eine starke Tendenz zum Revisionismus (…)
An italienischen Schulen wird die Geschichte dieser Epoche, wird der Faschismus
nicht behandelt, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Über Griechen und Römer bis
zum Wiener Kongress erfahren die Schüler alles mögliche, wenn es aber um die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und die Rolle Italiens geht, dann ist plötzlich keine
Zeit mehr. Die jüngere Geschichte wird ausgeklammert und das ist eine gefährliche
Entwicklung, denn gerade unsere Verfassung, die Verfassung der ersten italieni15
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schen Republik, basiert doch auf der Erfahrung des Faschismus. Die italienische
Verfassung ist ein Bollwerk gegen mögliche faschistische Versuchungen.
O-Ton Gabriele Heinecke
Ich vertrete Enrico Pieri, der ist der Vorsitzende des Opfervereins von Santa Anna.
Im Moment sieht es aber so aus, als würde sich das Verfahren für Herrn Pieri heftig
in die Länge ziehen.
Autorin:
Rechtsanwältin Gabriele Heinecke, Hamburg.
O-Ton Grabiele Heinecke:
Ich bin seit letztem Jahr beauftragt, seit 2005, seitdem in Italien die zehn Personen
verurteilt worden sind zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe und versuche seitdem das
Verfahren, was hier in Stuttgart anhängig ist, zu verstehen und so weit wie möglich
zu befördern. (…) Wenn man die Staatsanwaltschaft Stuttgart, den sachbearbeitenden Staatsanwalt Häußler hört, dann müsste man eigentlich zu der Konsequenz
kommen, dass die ganze Sache aufgegeben wird.
O-Ton Staatsanwalt Häußler, Stuttgart
Derzeit reichen unsere Erkenntnisse nicht aus, eine Anklage gegen konkret bekannte
Tatverdächtige beziehungsweise möglicherweise an diesem Tatgeschehen Beteiligte
zu erheben.
Autorin:
Staatsanwalt Häußler
O-Ton Häußler:
Wenn unsere Erkenntnisse bezüglich einzelner Beschuldigter hinreichend wären, um
Anklage zu erheben, würden wir dies tun, würden das Verfahren gegen die entsprechende Person abtrennen und isoliert Anklage erheben oder würden, wenn wir keine
örtliche Zustädnigkeit haben, dieses Verfahren an die zuständige Staatsanwaltschaft
abgeben. Das können wir derzeit nicht tun, weil die Erkenntnisse hierzu nicht ausreichen.
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O- Ton Heinecke
Es dreht sich alles im Kern um die Frage der Grausamkeit. Nämlich ob man nicht die
anderen Mordmerkmale, wie zum Beispiel, was sich ja auch aufdrängt, den niedrigen
Beweggrund, sondern insbesondere die Grausamkeit als Mordmerkmal nachweisen
kann, und dazu hat in der Sache Friedrich Engel der Bundesgerichtshof grundlegende Ausführungen gemacht.
Autorin:
Friedrich Engel war Polizeichef des Sicherheitsdienstes der SS in Genua. 1999 wurde der promovierte Philologe in Italien in Abwesenheit wegen 249-fachen Mordes zu
lebenslanger Haft verurteilt. Das Landgericht Hamburg verurteilte ihn 2002 wegen
der Geiselerschießungen am Turchino-Paß zu sieben Jahren Haft. Der Bundesgerichtshof hob im Juni 2004 dieses Urteil auf.
O-Ton Heinecke
Ich habe sie hier aufgeschlagen, weil ich glaube, dass man das mal gehört haben
muss, wie sich das im Juristendeutsch anhört: Eine Tötung ist dann ein Mord, wenn
sie besonders grausam erfolgt ist. Im dem Fall von Herrn Engel sind ja Männer erschossen worden, die sind immer in Reihe gestellt worden, in die Grube reingefallen,
die dahinter Stehenden mussten zugucken, wie die vor ihnen erschossen wurden
und wurden dann selber erschossen. Und dazu hat dann der Bundesgerichtshof gesagt, dass das Landgericht Hamburg das Mordmerkmal nicht ausreichend geprüft
habe, es habe nämlich nicht festgestellt, dass eine über die normale Grausamkeit,
über das normale Leiden hinausgehendes besonderes Leiden in der subjektiven
Tatbestandsseite festgestellt worden sei. (…) Da heißt es:
Sprecher
Die Leiden der Opfer entgingen ihm zwar nicht, es kam ihm jedoch nicht hierauf an,
er ließ sich dadurch lediglich nicht davon abhalten, den ihm erteilten erbarmungslosen Befehl strikt zu erfüllen. Indes reicht der Mangel an solchen positiven Eigenschaften zum Beleg der subjektiven Voraussetzung des Mordmerkmals der Grausamkeit allein noch nicht aus. Daher hat das Schwurgericht bezogen auf die besondere Tatzeitsituation zum Beleg der subjektiven Voraussetzung eines grausamen
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Mordes zutreffend noch den Nachweis für erforderlich gehalten, dass der Angeklagte
bei der von ihm verantworteten brutalen Durchführung der „Sühneaktion“ so menschenverachtend vorgegangen ist, dass er eine ihm offen stehende Möglichkeit bewußt ausgelassen hat, den ihm erteilten Befehl zur Tötung derart vieler Männer unter
Begleitumständen auszuführen, die für die Opfer schonender gewesen seien.
O-Ton Gabriele Heinecke
Ich denke ja manchmal als Juristin, aber manchmal auch als Nicht-Juristin, wenn ich
das als schlichte Bürgerin höre, dann fällt es mir schwer, insbesondere in Kenntnis
anderer Verurteilungen wegen Mordes das nachzuvollziehen. Es ist tatsächlich eine
Rechtsprechung, die speziell zum Schutze von NS-Gewalttätern herausgearbeitet
worden ist.
O-Ton Häußler
insbesondere das Mordmerkmal der Grausamkeit bedarf nach dieser Entscheidung
auch des Nachweises, dass dem Täter eine weniger grausame Handlungsalternative
zur Verfügung gestanden hätte und er sich bewußt für die grausamere entschieden
hat.
O-Ton Gabriele Heinecke
Die Staatsanwaltschaft in Stuttgart verweist immer auf diesen Beschluss des Bundesgerichtshofes, das bedeutet, dass die Staatsanwaltschaft Stuttgart selber nicht
daran glaubt, obwohl im Fall von Santa Anna ein völlig anderer Sachverhalt vorliegt,
dass in diesem Fall das Mordmerkmal der besonderen Grausamkeit festgestellt werden kann, und da bin ich nach Lektüre der mir bisher zur Verfügung gestellten Akten
ganz anderer Auffassung.
O-Ton Enio Mancini Qui, c’è stato qualque anni fa….poi giustizia non sia fatta)
Sprecher 2:
Vor einigen Jahren, das war noch vor der Urteilsverkündung in La Spezia, war der
Stuttgarter Staatsanwalt mal in Sant’Anna (…) und er hat uns damals versprochen,
dass es in Deutschland einen Prozess geben werde, sobald der Prozess in Italien
beendet sein würde. Wir wollen Gerechtigkeit, keine Rache, es geht uns nicht um
Rache (…) Inzwischen habe ich allerdings die Befürchtung, dass man in Deutschland
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die Ermittlungen in die Länge ziehen will und dann wird Gerechtigkeit nicht mehr
möglich sein.
O-Ton Staatsanwalt Häußler
Wir versuchen mit Nachdruck den Sachverhalt so weit zu klären, dass wir zu einer
Anklageerhebung kommen können. Wir lassen dabei nichts aus, auch kein Ermittlungsinstrument, das uns zur Verfügung steht. Wir wissen zwischenzeitlich auch, was
dieses Ereignis am zentralen Platz vor der Kirche anbelangt relativ viel, wir wissen,
dass diese Erschießung von über hundert Personen an dieser Örtlichkeit von einem
Offizier befehligt wurde, der in Funkkontakt mit einer vorgesetzten Dienststelle stand.
Während dieser ganzen Anwesenheit des Offiziers dort wurde gefunkt, wir gehen davon aus, dass wir auch den Funker kennen. Es ist uns aber nicht gelungen, diesen
Offizier bislang namhaft zu machen. Wir konnten bislang keinem der noch lebenden
höherrangigen Offiziere, die dafür in Betracht kommen, beispielsweise Kompaniechefs nachweisen, dieser Offizier gewesen zu sein. (…) keiner der Tatzeugen, die wir
bislang ausfindig gemacht haben, konnte diese Person identifizieren, auch der Funker nicht, wobei man immer davon ausgehen muss, dass die Auskunftspersonen
nicht bereit sind, die Wahrheit zu sagen. Wir haben natürlich in Anbetracht des Alters
dieser Personen auch kaum eine Möglichkeit, wenn sie sich auf Vergessen oder auf
Erinnerungsschwäche berufen, das zu widerlegen. (…) Wir stoßen weitgehend auf
eine Mauer des Schweigens.
O-Ton Enio Mancini Quello Adolf Beckert chi è venuto lì durante il processo, piangeva, ha parlato sei ore …di racontare;. … A parte che lui ha detto...lui invece ha rotto questo silenzio.)
Sprecher 1:
Adolf Beckert war der einzige, der als Zeuge zum Prozess nach Italien gekommen
ist, er weinte während seiner Aussage, sechs Stunden lang sprach er vor Gericht.
Nach dem Prozess bin ich auf ihn zugegangen, um ihm die Hand zu geben, was mir
wirklich nicht leicht gefallen ist, das muss ich zugeben, aber ich hatte das Bedürfnis
ihm zu danken, dass er gekommen war, denn niemand hätte ihn dazu zwingen können. Er ist aus freien Stücken gekommen, weil er den Mut hatte zu sprechen (…)
und über das zu berichten, was er damals als Soldat in Sant’Anna gesehen hat. (…)
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Er selbst habe niemanden erschossen, versicherte er, das muss ich ihm wohl so
glauben. Jedenfalls respektiere ich ihn als einen alten Mann, der die Kraft und den
Mut aufbrachte, auszusagen. Es gibt ja eine Schweigepflicht, ich habe einiges gelesen über die Organisationen ehemaliger Nazis und wie sie die Leute unter Druck setzen, damit sie nicht reden. Und er, Adolf Beckert, hat das Schweigen durchbrochen.
Atmo (Gedenkfeier, der Bürgermeister von Stazzema)
Buon giorno a tutti ….grazie)
Autorin:
Sant’Anna di Stazzema am 12. August 2006, ein regnerischer Samstag. Der Bürgermeister von Stazzema verliest Grußbotschaften aus ganz Italien. Etwa dreihundert Menschen haben sich am Monument für die Ermordeten versammelt. Darunter
viele ehemalige Partisanen, ältere Menschen aus der Region, geistliche Würdenträger, zahlreiche Politiker, Vertreter der Regionalregierung der Toskana, der Bürgermeister von Marzabotto sowie der Staatsanwalt aus La Spezia.
Atmo (Gedenkfeier Enrico Piero)
frei stehen lassen
Autorin:
Enrico Pieri, der Vorsitzende des Opfervereins, verliest eine Friedensbotschaft. Leise
sagt ihm Enio Mancini die Worte vor. Enrico Pieri zittert, es fällt ihm schwer vor so
vielen Menschen zu sprechen. Am 12. August 1944 wurde seine gesamte Familie
ermordet: Enrico Pieri war damals zehn Jahre alt.
Atmo Gedenkfeier Grazie, grazie anche ai media, ai giornalisti chi sono qui, e tra i
giornalisti, mi preme anunnciare che qui con noi è una giornalista tedesca, è la Signora Ruth (Applaus) mi dimentico il cognome, è qui per far un servizio per la Radio
pubblica tedesca)
Autorin:
Enio Mancini dankt den Anwesenden, auch den Medienvertretern dankt er, und dann
sagt er, es sei ihm wichtig mitzuteilen, dass eine deutsche Journalistin gekommen ist,
um für den öffentlichen deutschen Rundfunk über Sant’Anna zu berichten.
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Seine Worte und der freundliche Applaus machen mir bewußt, dass ich an diesem
12. August, ein Jahr nach dem Urteilsspruch von La Spezia, offensichtlich die einzige
Deutsche bei der Gedenkfeier für die Opfer des Massakers von Sant’Anna di Stazzema bin.
Musik
Absage:
Der Schrank
Wie Deutsche und Italiener die Vergangenheit entsorgen
Ein Feature von Ruth Jung
Sie hörten eine Co-Produktion des Deutschlandfunks mit dem Rundfunk BerlinBrandenburg
Es sprachen: Brigitte Goebel, Ilse Strambowski, Sieglinde Burkholder, Ernst August
Schepmann und Volker Risch
Ton und Technik: Ernst Hartmann und Beate Braun
Regie: Peter Behrendsen
Redaktion: Karin Beindorff
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