«Wie ein einziger grosser Krampf» - Inselspital

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Nr. 36, 2. September 2013 | Migros-Magazin |
Leslie Vogt hatte
mehrmals so
starke Schmerzen,
dass sie in den
Notfall musste.
Aber die Ärzte
fanden nichts.
«Wie ein einziger
grosser Krampf»
Zwei Mal war Leslie Vogt (39) aus Balzers FL in der
Notaufnahme, weil sie die Schmerzen im Unterleib
nicht mehr aushielt. Niemand kam auf die Idee, dass
Endometriose die Ursache sein könnte.
Leslie Vogt wäre viel erspart
geblieben, hätten die Ärzte
sofort reagiert, als man bei ihr
2006 bei der Entfernung eines
Knotens im Bauchnabel Endometriosegewebe fand. Zudem
litt sie unter starken Menstruationsbeschwerden. Sechs
Jahre später verstärkten sich
die Schmerzen extrem, nachdem sie mittels künstlicher
Befruchtung schwanger werden wollte und Hormone
schlucken musste.
«Viel zu viel für eine Frau
mit Endometriose», wie Vogt
heute weiss, «denn die Hormone haben die Krankheit
noch verstärkt.» Medikamente
halfen nicht mehr. «Es war ein
umfassender, starker, manchmal wellenförmiger Schmerz,
der sich im ganzen Bauchraum
verteilte. Wie ein einziger
grosser Krampf. Er hat mich
unglaublich angestrengt und
ausgelaugt», erzählt Leslie
Vogt. Anfänglich hatte sie die
Schmerzen nur während ihrer
Tage, danach permanent. Im
Februar 2012 waren sie so stark
und die Entzündungswerte
im Blut so hoch, dass ihr Gynäkologe sie wegen Verdachts
auf eine Blinddarmentzündung
in die Notaufnahme einweisen
liess. Notabene in ein Spital,
das über ein Endometriosezentrum verfügt. Nichts geschah.
Ein paar Monate später
musste sie wieder in die Notfallaufnahme, weil sie die
Schmerzen nicht mehr ertrug.
Wieder wurden die Ärzte nicht
hellhörig. Erst nach mehreren
Ultraschalluntersuchungen bei
ihrem Frauenarzt wurde sie
zu einer Bauchspiegelung geschickt, da ihre Eierstöcke
abnormal vergrössert waren.
Dabei wurde bei Leslie Vogt
eine sehr schwere Form von
Endometriose festgestellt, die
man zunächst medikamentös
behandelte. Dann wandte sie
sich ans Inselspital Bern. Ende
2012 wurden bei ihr die meisten
Herde in einer fünfstündigen
Operation entfernt. Einen kleineren liess man noch am Darm,
um nicht ein Stück davon entfernen zu müssen.
Die Mensschmerzen sind
heute erträglich. Einen letzten
Versuch mit künstlicher Befruchtung hat Leslie Vogt noch
gewagt. Leider ohne Erfolg.
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Migros-Magazin | Nr. 36, 2. September 2013 |
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Wenn die
Mens
höllisch
schmerzt
Endometriose ist eine
schmerzhafte Erkrankung
des Unterleibs. Obwohl
viele Frauen darunter leiden,
wird sie von Ärzten häufig
nicht erkannt.
M
onat für Monat liegt Elizabeth
Pepys schmerzgepeinigt im Bett.
Sie hat ihre Tage. So berichtet es
der Chronist Samuel Pepys in seinen Tagebüchern aus dem London des 17. Jahrhunderts. Es ist durchaus möglich, dass
Pepys, ohne es zu wissen, für die Nachwelt einen Fall von Endometriose dokumentiert hat. Wie Elizabeth Pepys geht
es noch heute vielen Frauen. Das Ehepaar Pepys blieb ausserdem kinderlos.
Auch das passt zu dieser Krankheit.
Häufiger grund für
unerfüllten Kinderwunsch
«Bei 30 Prozent der unfruchtbaren
Frauen ist Endometriose die Ursache für
deren unerfüllten Kinderwunsch», sagt
Sara Imboden, Oberärztin und Endometriosespezialistin am Inselspital Bern.
Bei Endometriose handelt es sich um
teils äusserst schmerzhafte, entzündliche Minimenstruationen ausserhalb
der Gebärmutter. Sie entstehen durch
abgewanderte Gebärmutterschleimhautzellen, die Herde bilden und zu
Verwachsungen führen. Lokalisierbar
sind sie meist in den Organen des
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Migros-Magazin | Nr. 36, 2. September 2013 |
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Sara Imboden ist
Oberärztin am
Inselspital Bern
und Expertin für
Endometriose.
«Bei 30 Prozent der unfruchtbaren
Frauen ist Endometriose
die Ursache für deren unerfüllten
Kinderwunsch.»
kleinen Beckens, also in den Eierstöcken,
im Enddarm, im Bauchfell oder zwischen Scheide und Enddarm.
Die Herde wuchern zwar in die Organe hinein, machen aber keine Ableger.
Deshalb gilt Endometriose im Gegensatz
zu Krebs als gutartige Erkrankung. Dennoch schränkt sie das Leben und die
Leistungsfähigkeit der Betroffenen zum
Teil in beträchtlichem Mass ein. Zudem
ist sie chronisch und fortschreitend und
kann zu Unfruchtbarkeit führen.
Gemäss heutigem Forschungsstand
ist die sogenannte retrograde Menstruation der Auslöser von Endometriose.
Hierbei fliesst Menstruationsblut, das
auch Gebärmutterschleimhautzellen
enthält, über die Eierstöcke zurück
in den Bauchraum. «Praktisch jede
Frau hat solche Rückblutungen», sagt
Sara Imboden. «Weshalb sich das Blut
jedoch bei gesunden Frauen vollständig
wieder auflöst und bei den anderen
nicht, wissen wir nicht. Hier steckt
die Forschung noch in den Kinderschuhen.»
Jahrelanger leidensweg
bis zur korrekten Diagnose
Jede zehnte Frau ist von Endometriose
betroffen. Weltweit sind es 176 Millionen, in der Schweiz 190 000 Frauen.
Durchschnittlich vergehen sechs bis
acht Jahre, bis diese komplexe Krankheit
nachgewiesen wird. «Ein Grund dafür
ist, dass die Diagnose nur mit einer
Bauchspiegelung gemacht werden
kann», sagt Sara Imboden. Da die Symptome unspezifisch seien, fehle es den
Hausärzten und Gynäkologen leider an
der notwendigen Sensibilität für diese
Krankheit. «Man muss aktiv nach Endometriose suchen und die richtigen
Fragen stellen», führt die Gynäkologin
weiter aus.
Viele Frauen machen bis zur Diagnosestellung eine jahrelange Odyssee
Diese vier Symptome
deuten auf eine
Endometriose hin:
1) Die menstruationsschmerzen
werden im Lauf der Jahre stärker
2) Schmerzen beim Wasserlösen
3) Schmerzen beim Stuhlgang
(manchmal auch blut im Stuhl)
4) Schmerzen beim Sex
(stellungsabhängig)
von Arzt zu Arzt durch. «Nicht ernst
genommen zu werden, ist für viele
Frauen schlimmer als die Diagnose
selbst», sagt Sara Imboden, die sich bei
ihren Endometriose-Sprechstunden für
jede Frau mindestens eine Dreiviertelstunde Zeit nimmt.
Auch volkswirtschaftlich hat diese
Krankheit Folgen: Eine internationale
Studie schätzt den jährlichen Produktivitätsverlust auf 9500 Euro pro Frau.
Dass die Frauen im Durchschnitt jährlich
18 Tage krank sind, wie eine andere
Studie berechnet, mag Sara Imboden aus
ihrer Praxiserfahrung hingegen nicht
bestätigen.
Im Wesentlichen gibt es heute drei
Behandlungsmöglichkeiten, die individuell nach den Bedürfnissen der Frau
eingesetzt werden. Bei Frauen mit Kinderwunsch wird zu einer operativen
Entfernung der Endometrioseherde
geraten. «Das ist ein langer und äusserst
komplexer Eingriff, der nur von eigens
geschulten Spezialisten durchgeführt
werden sollte», sagt Sara Imboden, die
auch selber operiert.
Viele Frauen schlagen sich mit einer
Kombination von stark schmerzstillenden Medikamenten bis zu Morphinpräparaten durch. Meist organisierten sie
ihr ganzes Leben rund um die Menstrua-
tion, berichtet Sara Imboden. Sie kennt
diese Fallgeschichten aus ihren Sprechstunden, wenn die Frauen nach Jahren
endlich bei ihr landen. «Für mich ist
diese Art von medikamentöser Therapie
ein Beweis, dass die Krankheit nicht als
solche erkannt wird», führt die Ärztin
weiter aus.
Hormontherapie und
schwangerschaft helfen
Ein sehr guter Behandlungsweg hingegen ist die Hormontherapie. Hier
besteht die Möglichkeit, die Pille durchgehend zu nehmen, wobei beim Absetzen die Beschwerden wieder auftreten.
Frauen, die keinen Kinderwunsch mehr
hätten, empfiehlt Sara Imboden eine
Gestagentherapie, welche die Gebärmutterschleimhaut dünn hält, ohne die
Frau künstlich in die Wechseljahre zu
versetzen.
«Die beste Therapie ist eine Schwangerschaft, weil sie die Schleimhautbildung unterdrückt», sagt Sara Imboden. «Deshalb ist es so wichtig, die
Krankheit in einem frühen Stadium
zu erkennen, bevor sie Unfruchtbarkeit
zur Folge hat.»
Text: Dora Horvath
Bild: Daniel Ammann
Hotline für Betroffene
Haben Sie das Gefühl, Sie könnten von
Endometriose betroffen sein? Dann
lassen Sie sich beraten.
Hotline endometriose-Zentrum bern:
tel. 031 632 18 37 (dienstags 12 bis 14 Uhr).
Unter derselben Nummer Extra-Hotline
für Migros-Magazin-Leserinnen am
Mittwoch, 4. September, von 17 bis 19 Uhr
oder per mail an [email protected]
Selbsthilfegruppe: www.endo-help.ch