Ulrike Becker (Bonn): Das Konzept „Mutter“ in Rosie Carpe

Ulrike Becker (Bonn): Das Konzept „Mutter“ in Rosie Carpe – inhaltliche wie narrative
Anknüpfungspunkte einer speziellen Écriture
Die in einigen Texten von Marie NDiaye bedeutende Funktion des Konzeptes Mutter
verspricht gerade im Roman Rosie Carpe zum Ausgangspunkt ihrer sehr eigenen Erzählweise
zu werden, da dort im narrativen, aber auch im erzähltechnischen Potenzial zwischen
Kontinuität und Fraktur neue, dem Leser ungewohnte Darstellungsformen entstehen.
Als Eckpunkte dienen u.a. folgende Kontexte:
‐Rosie als Mutter, Handlungsweisen und Symbolik: Empfängnis vor „aller“ Augen,
dann „außerhalb ihrer Anwesenheit“ , unbemerkt: Quelque chose est arrivé qui me
concernait certainement mais hors de ma présence [...]“ (21 f.). Sichtbarkeit,
Unsichtbarkeit, Wahrnehmung und deren Darstellungsweise sind hier
Schlüsselbegriffe. Weiterhin bietet die wiederholt zu konstatierende christlichreligiöse Symbolvernetzung (Rose-Marie - Maria, Rosen, Maria im Rosenhag;
Lazarus, Abel etc.) Interpretationsansätze hinsichtlich gesellschaftlicher wie narrativer
Besonderheiten.
‐Rosie und ihre Mutter bzw. die sich im Textverlauf verlagernden Kontaktpunkten,
sozial wie emotional. Der distanzierte, speziell reflektierte Stil verortet in Abgrenzung
zu konventionellen Modellen die Thematik neu und öffnet neue Texträume.
‐Lazare und seine “verrückte“ Mutter: „Personne n´avait jamais pu lui dire, pas même
ses grands-parents par ailleurs crédules, ce qui avait brutalement convaincu sa mère
qu´il était mauvais, dangereux, effroyable.“ (S. 225) – “[...] il n´avait pas distingué
cette femme de lui-même [...] et que son corps et son corps à elle avaient été
confondus dans sa conscience en un être unique pourvu de deux têtes presque
identique, [...]” (S. 225). Schlüsselbegriffe sind Risse erzeugende Brutalität, Distanz
und Absenz von Gefühl.
Im Hinblick auf die Écriture NDiayes entstehen so folgende Ansatzpunkte:
- Die Kombination aus traditionell konnotierten Perspektiven und unerwarteten
Darstellungsweisen erzeugt Spannung und Frakturen, die Lücken schaffen für Neues.
Die Reaktionen des Lesers auf Unbehagen evozierende zentrale Brüche, Auflösung
von Einheit, auf Absenz von tradierten Wertungen, Empfindungen sowie Signalen des
Erzählers fordern einen „lector in fabula“ (Eco).
- Die Kombination ihres neutralen, präzisen Stils mit ihrer zugleich großer
Erzählfähigkeit, ihres „story-tellings“, bietet Reibungsflächen und verursacht
Fremdheit.
Dieses spezielle Konglomerat aus Dekonstruktion einer gegebenen Wirklichkeit und
Fabulierlust erinnert grundsätzlich an die mexikanische Autorin Carmen Boullosa und speziell
im Hinblick auf die Einbringung des Konzeptes Mutter an deren Roman Mejor desaparece,
wo die Abwesenheit der Mutter zu Chaos und Dezentralisierung des Textes und damit zu
neuen Öffnungen führt. Vor diesem Hintergrund ist eine Annäherung an die Besonderheit der
Schreibweise Marie NDiayes intendiert.