"SCHWARZ AUF WEIß" - Lese

Schwarz
Schwarz
auf
auf
Weiß
Weiß
Nachlese der VHS Meidling Schreibwerkstatt 2014/15
Kreativer Schreib.Raum
Texte: Karin Leroch. Erzählung vom verlorenen Liebesbrief / Christine
Hochgerner. Erzählung vom Schal, der sich in der falschen Lade befand /
Gudrun Leibl. Verspätungen / Thomas Stölner. Auslese / Karin Leroch. Ilya
Kosmanov / Karin Leroch. U-Bahn fahren / Christine Hochgerner. Der
schwebende Globus im Stephansdom / Karin Leroch. Minidrama / Marietta
Schneidinger. Apfel Amok / Gudrun Leibl. Er und Sie. Dramolett
Vorwort
An der VHS Meidling wurde im Kursjahr 2014/15 erstmals ein kreativer
Schreib.Raum eingerichtet.
Einige der Ergebnisse dieses aus 4 Modulen bestehenden Angebotes gibt es nun in
Form einer Nachlese „Schwarz auf Weiß“.
Die Texte stammen aus den beiden Wochenendworkshops „Kreatives Schreiben“,
einem Basiskurs, in dem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die drei großen
Dichtungsgattungen Epik, Lyrik und Dramatik erproben konnten, sowie
„Kurz & gut. Die Shortstory“.
Schreibwerkstätten schaffen einen Raum, in dem Kreativität gefördert und auch das
Handwerkszeug vermittelt wird. Animationen liefern Impulse, die das Schreiben
spielerisch und auf unterhaltsame Weise in Gang setzen.
Das Schreiben in der Gruppe, das Hören und Besprechen der verschiedenen Texte
ist anregend und eine ideale Gelegenheit für gegenseitigen Austausch und Feedback.
Die vorliegenden Texte sollen eine Ahnung davon vermitteln, wie sehr Schreiben
das Alltagsleben bereichert - nicht zuletzt deshalb, weil man dabei seine Grenzen
überschreiten und sich ins Reich der Phantasie begeben kann.
Bereits die wenigen Texte zeigen eine erstaunliche Vielfalt.
Wir wünschen Ihnen bei der Lektüre gute Unterhaltung und Lust auf Schreiben.
Irene Wondratsch Nicolette Wallmann
Kursleiterin Direktorin VHS Meidling
Karin Leroch
Erzählung vom verlorenen Liebesbrief
Ludwig stand an der Kreuzung und wartete, bis die Ampel grün wurde. Der Sturm fegte
mit 120 km/h durch die Stadt, und alle Leute hielten ihre Mützen und Schals fest. Er
hatte seine Hand um den Liebesbrief gekrampft, den er gerade in der Schreibwerkstatt
zum Thema „Erzählung von meinen Gefühlen“ geschrieben und bei dem er ganz fest
an seine Kollegin Maria gedacht hatte. Der Sturm machte es allerdings unmöglich, ihn
nochmals durchzulesen. Machte nichts, er würde ihn sowieso nie vorlesen können. Zu
peinlich!
„Vorsicht! Ducken Sie sich!“, schrie jemand, und instinktiv hockte Ludwig sich hin, als
ein riesiger Teil eines Plastikschildes über ihn hinwegfegte. Mehrere Passanten drückten
sich auf den Boden, während das Schild die Straße hinunter geblasen wurde, bis es an
einem Gartenzaun kleben blieb.
Ludwig richtete sich wieder auf. Er schaute auf seine beiden leeren Hände. Der Liebesbrief war weg! Weg! Dabei hatte er ihn sich aus dem Herzen gesogen! Er hätte ihn
gerne für sich selbst aufbewahrt. Maria würde ihn sowieso nie lieben. Nicht ihn. Er war
rundlich und unauffällig. Und sicher nicht Marias Typ.
Der Liebesbrief flog durch die Straße und landete vor einer Schule. Dort blieb er
auffällig weiß flatternd im Gras liegen.
„He, was liegt denn da? Ein Brief!“
„Zeig mal her!“
„An Maria! Wenn ich die Augen schließe, rieche ich dein Haar, das du so gerne um den
Bleistift zwirbelst! Hu, ein Liebesbrief!“
„Nimm ihn mit! Steck ihn in die Schultasche!“
Der Liebesbrief fand sich nach seiner finsteren Reise mit Kaugummigeruch auf einem
Schreibpult wieder.
„Hast du das geschrieben, Tommi?“
„Nein, Frau Professor!“
„Wo hast du das her?“
„Gefunden!“
„Und wo?“
„Auf der Straße!“
Er sah sich hilfesuchend um, und seine drei Freunde nickten heftig.
„Er lag im Gras unten!“
„Also gut. Er gehört also niemandem. Dann können wir ja mit unserem Stoff weitermachen. Setzt euch!“
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Nach der Stunde musste der Liebesbrief feststellen, dass er von Frau Professor in den
Papierkorb auf dem Schulgang geworfen wurde. Er wehrte sich aus Trotz und flatterte
daneben zu Boden.
Abends kam der Schulwart. Der Brief wartete. Und – ja! Der Schulwart nahm ihn, las
ihn nicht, sah ihn nur an, wusste sofort, dass es sich um eine der künstlerischen Arbeiten der 2B handelte und heftete ihn zurück auf die Pinnwand über dem Papierkorb.
Bestens! Der Liebesbrief brauchte also nur abzuwarten und eine Nacht in der Finsternis
zu überstehen.
Der Morgen kam, und der Schuldirektor blieb lächelnd vor der Pinnwand stehen, die
die 2B selbst gestaltet hatte. Er war fasziniert von der Begabung einiger Schüler: „An
Maria! ... wenn deine Blicke aus dem Fenster driften, während du seufzt, weil die Zeit dir
zu lang wird, bin ich bei ihnen und fliege mit ihnen hinaus in die Welt! ...“
Der Schuldirektor sah sich unauffällig um, pickte den Brief von der Pinnwand und verschwand in seinem Büro.
Der Liebesbrief seinerseits verschwand in einer Aktentasche und fühlte sich nun wichtig. Es konnte nur besser werden.
„Liebste“, sagte der Schuldirektor abends zu seiner Frau, sieh mal den süßen Liebesbrief,
den ein Schüler seinem Mädchen geschrieben hat. Und da du auch Maria heißt, dachte ich,
er würde dir gefallen. Hier lies mal!“
„Könntest du bitte den Tisch decken, ich bin voll überlastet, und stell deine Schuhe nicht
wieder auf den Gang - Herrgott! Ruf die Kinder zum Essen!“
Der Liebesbrief wusste, hier war nichts zu machen. Er verbrachte eine einsame Nacht
auf dem Schuhkasten der Direktorsfamilie und hoffte auf ein Wunder.
Peter war der Sohn des Direktors und war spät dran. Er hatte sich beim Frühstück
wieder einmal anhören müssen, wie faul und rücksichtslos er war, und dass er gefälligst
sein Studium vorantreiben sollte, aber eigentlich war er Lyriker. Nur im Moment hatte
er eine Schreibkrise. Und er war spät dran zur Schreibwerkstatt. Auf dem Schuhkasten
lag albernerweise ein Brief seines Vaters an seine Mutter, und der war so geeignet wie
irgendein Text, ihn heute einfach zu verwenden und als seinen eigenen Erguss auszugeben.
Ludwig hatte schnell und hastig einen neuen Text für die Schreibwerkstatt produziert,
die an dem Vormittag wieder stattfinden würde. Zumindest würde er Maria wieder
sehen. Wäre ohnehin zu peinlich gewesen, den Brief an sie vorzulesen, aber in seinem
Liebewahnsinn hätte er es blind riskiert. Ja, hätte er!
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Christine Hochgerner
Die Reihe kam an Maria, sie las ihren Text über überbewertete Schönheitsideale in den
Medien vor.
Die Reihe kam an Max, Moritz, Mizzi, Miriam, Ludwig! Er las seinen neuen Text über
Fernweh nach der Galaxis vor.
Die Reihe kam an Paul, Philipp, Peter!
„An Maria! Wenn Du Dein Haar ...“
Ludwig erstarrte und rührte sich nicht.
Peter las und las, wobei er den Brief selbst noch nicht vollständig kannte und etwas mit
der fremden Schrift kämpfte. Die Klasse grinste, blickte sich nach Maria um, die offenen
Mundes und mit aufgerissenen Augen dasaß, während nun Peter bei dem Mund Marias
angekommen war, dem man angeblich „ansah, was sie nicht aussprach“, woraufhin Maria sich kichernd den Mund zuhielt.
Die Kursleiterin nickte wohlgefällig zu dem Text, der ganz bilderreich-innovativ rüberkam, und dann war Peter am Ende und las die letzten Worte: „In Liebe, Dein Ludwig
Zadek.“
Erzählung vom Schal, der sich in der
falschen Lade befand
„Wo ist schon wieder mein bunter Seidenschal“, murmelt sie vor sich hin. Immer wenn sie
es eilig hat, führt sie Selbstgespräche.
Sie ist sicher, dass er in der Lade, wo auch ihre anderen Schals liegen, sein muss. Vor
zwei Tagen hat sie ihn das letzte Mal getragen, das weiß sie ganz genau. Da hatte sie ihr
blaues Kleid an. Heute trägt sie einen grauen Pulli. Zu Blau und Grau passt der Schal am
besten. Aber wo ist er bloß?
Endlich findet sie ihn in der Lade mit den Winterhauben. Richtig hineingekuschelt in
die weiße Haube, denkt sie und wundert sich, dass ausgerechnet diese beiden beisammen liegen. Sie waren Mitbringsel einer weit zurückliegenden Sizilienreise.
Ab in den Süden, hatte sie damals gedacht. Damals, ehemals, in einer Zeit, als sie an ein
Leben im Plural noch geglaubt hat. Gelandet war sie mitten in einem Schneegestöber.
Auf den Bäumen funkelten die reifen, mit einer Schneehaube überzogenen Orangen.
Aber es war nicht nur das Wetter, welches ihr ihre einzige reelle Chance, auch unter die
Haube zu kommen, vermieste.
Auf Sommerreifen wollte er sie zu Mama, die in den Bergen wohnte, bringen.
„Mamma mia“, rief er, während sich das Auto auf der glatten Fahrbahn querstellte. Die
Schnauze zeigte Richtung Küste, sie nahm es als Zeichen. In einer Holzbude, in der
neben Orangen und frischem Brokkoli auch diverse Souvenirartikel angeboten wurden,
kaufte sie eine weiße Strickhaube.
Zumindest ihren Kopf hat sie unter die Haube gebracht, stellte sie zufrieden fest, während ihre Gedanken zwischen falscher Bereifung und richtigen Zielen hin- und herschweiften. Oder war das Falsche ohnehin richtig und wäre das Richtige falsch gewesen.
Die Bereifung an ihren Füßen war jedenfalls nicht schlecht. Sie marschierte, hüpfte,
schlitterte und sprang der Küste entgegen. Autos blieben stehen: alte und neue, große
und kleine, gepflegte und verbeulte, aus den Bergen kommende und dorthin fahrende.
Aber sie war gewarnt. Ein sizilianischer Winter ist nicht straßentauglich. Schon damals
hätte sie es wissen können, die Tauglichkeit ist insgesamt eine äußerst fragile Angelegenheit.
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Als sie endlich die Küste erreichte, war kein Schnee mehr zu sehen. Die Sonne wärmte
ihr das Gesicht und ein glutäugiger Strandverkäufer zog sie mit dem eben wieder gefundenen Seidenschal in seinen Bann.
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Gudrun Leibl
Als er damals aus der kleinen Studentenwohnung im Zentrum hierher in die Vorstadt
gezogen war, hatte er vor allem auf die Nachbarschaft und die Wohnungspreise geachtet.
Bahnverbindungen hatten für ihn zu dieser Zeit - als er von der Kunstuni nach Hause
noch Rad fuhr - keine große Bedeutung gehabt.
Kalter Wind fuhr ihm ins Gesicht. Es war kalt geworden über Neujahr in Paris.Er schlug
seinen Kragen hoch und verließ sein Haus mit schnellen Schritten. An der nächsten
Ecke angelangt, betrat er wie üblich die kleine Bäckerei. „Guten Morgen Jean-Baptisteein frohes Neues!“ Er quittierte den Gruß des Verkäufers mit dem üblichen Nicken.
„Einen Kaffee zum Mitnehmen, und eine Chocolatine!“ Der Verkäufer begann den gewünschten Kaffee herunterzulassen, griff mit der langen Metallzange eine Chocolatine
aus der Vitrine und verpackte sie.
Jetzt umso mehr. So viel, dass es ihn und seine Familie mittlerweile vor eine große Herausforderung stellte, wenn -wie heute- eines der beiden Autos zur Werkstatt musste.
Er sah wieder auf seine Uhr und versuchte sich leise zu beruhigen. „15 Minuten sind
keine Tragödie. Dann fangen die eben ohne mich an!“ In Gedanken sah er alle am Besprechungstisch bei dieser wichtigen Sitzung - nur sein Platz war leer. Keine Chance, dann
musste er eben Christian, seinen unnützen Assistenten an seiner Stelle hinschicken. An
sich war der ja gar nicht nutzlos, nur eben jung und grün hinter den Ohren. Aber auf
alle Fälle war er nichts für Isabel. Christian und seine Tochter hatten sich auf der Weihnachtsfeier der Redaktion kennengelernt und sich gleich gut verstanden. Seiner Meinung nach etwas zu gut. Was konnte seine Tochter nur an diesem Vogel finden. Er war
laut, mit dem, was er sagte, immer ein bisschen unpassend und hatte einen schrecklichen Geschmack bei Schuhen. Tatsächlich hatte Jean-Baptiste ihm schon öfters geraten,
sein farbenfrohes Schuhwerk gegen einfache schwarze Schnürschuhe einzutauschen.
Vergeblich. Christian erschien regelmäßig in blauen, grünen und roten Schuhen. JeanBaptiste wurde aus seinen Gedanken gerissen.
Verspätungen
Um nicht den Anschein zu erwecken, Unterhaltung zu brauchen, kramte Jean-Baptiste
in seiner Manteltasche nach dem Telefon. Er nutzte die Zeit auf dem Weg ins Büro
gerne dafür, sich die Schlagzeilen im Netz anzusehen. Ein Informationsvorsprung war
in seiner Branche nie verkehrt. Als er das Telefon zu fassen bekam, erinnerte er sich und
seufzte leise. Anstatt seines hochmodernen Modells griff er nach einem alten mit Tasten,
dessen einzige Funktion wohl tatsächlich das Telefonieren und Nachrichten schreiben war. Während der Weihnachtsferien hatte sein kleiner Sohn das andere Handy zu
fassen bekommen und - weiß Gott wie - zum Stillstand gebracht. Nun schlug er sich mit
diesem alten Ding herum und musste wieder ein neues beantragen. „4,70 für Dich!“, riss
es ihn aus seinen Gedanken. Der Verkäufer hielt ihm gut gelaunt den Becher und die
eingepackte Chocolatine entgegen. Er fing an, in seiner Tasche nach dem Geldbeutel zu
kramen. Wie immer am ersten Tag nach dem Urlaub war nichts dort, wo es sein sollte.
„Ich, ich fürchte, mein Portemonnaie liegt noch zu Hause. Ich gehe es schnell holen und
bring´ Dir das Geld vorbei.“
Die Rufe des Verkäufers, er solle ihm den Rest doch einfach morgen vorbeibringen,
hörte er nur noch leise, als er aus der Tür der Bäckerei wieder Richtung Wohnung
stürmte. Das würde ihn Zeit kosten. Jean-Baptiste hasste es, wenn ihn etwas aus seinem
üblichen Rythmus brachte. Das kaputte Telefon, die vergessene Brieftasche, und das
alles an dem Tag, an dem er statt des Wagens die Metro nehmen musste. Metro fahren
in Paris im Jänner - etwas Schlimmeres war fast nicht vorstellbar für jemanden wie ihn.
All die Menschen, Wartezeiten, Drängeleien! Er hatte ohne sein normales Telefon nicht
einmal wie sonst die Möglichkeit, Nachrichten zu hören. Er riss die Wohnungstür auf,
griff sich seine Geldbörse und den Skizzenblock, der daneben lag. Gut, dass er noch
einmal zurückgekommen war, denn ohne diesen Block müsste er wohl gar nicht erst bei
der Sitzung erscheinen, die als erster Termin im neuen Jahr heute anberaumt worden
war. Er sah auf die Uhr - diese ganze Aktion hatte ihn zehn Minuten gekostet. Er hastete,
die Tür nochmals hinter sich zuschlagend, wieder zur Ecke in die Bäckerei, drückte dem
Verkäufer mit einem gehauchten „Stimmt so!“ einen Fünfer in die Hand und griff sich
Kaffee und Gebäck. So schnell, wie er gekommen war, war er auch wieder draußen auf
dem Weg zur Metro.
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Aufgrund eines elektronischen Defekts müssen wir den Aufzug und die Rolltreppen
einer Wartung unterziehen. Wir bedauern die Umstände und verweisen sie zu den
Treppen.
Er las das Schild und wurde unruhig. Auch das noch! Während er zur Stiege stürmte,
auf der sich unzählige Menschen Richtung Bahnsteig schoben, griff er sich sein Handy,
nur um zu bemerken, dass er Christians Nummer gar nicht eingespeichert hatte.
„Perfekt“, murmelte er genervt vor sich hin, blieb im Menschenstrom stehen, um auf
dem alten Ding eine SMS zu tippen. Brauche Nummer von deinem Freund Christian.
Dringend! Kuss, dein Vater! Jean-Baptiste hetzte weiter Richtung Bahnsteig und las
oben die Nachricht seiner Tochter. Nummer hier: Nicht mein Freund. Mag seine Schuhe. Sei mir nicht peinlich! Kuss, I.
Die Metro fuhr ein, als er er gerade die Nachricht an Christian eintippte, dass er sich
eine halbe Stunde verspäten würde. Er bat ihn, ihn bis dahin bei der Redaktionssitzung
zu vertreten. Senden drückte er, als er endlich im Zug war und feststellte, dass die Bahn
es nicht schaffte, loszufahren. Immer noch versuchten Fahrgäste einzusteigen, als ob sie
nicht bemerkten, dass die Waggons bereits zum Bersten voll waren.
Jean-Baptiste wollte die Zeit nutzen und griff sich seinen Skizzenblock. Als die Bahn
endlich losfuhr, kritzelte er die ersten Figuren hinein. Aber was genau wollte er eigentlich zeichnen? Er wusste ja gar nicht, was in den letzten zwei Wochen in der Welt
passiert
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Thomas Stölner
Auslese
war. Er erinnerte sich schemenhaft an einen Flugzeugabsturz und fing an zu skizzieren,
was in Anbetracht der Bewegungen der Bahn nur schlecht gelang. Die Menschen in der
Metro waren wie gewöhnlich schlecht gelaunt und drückten sich distanzlos aneinander.
„Scheiß Pariser“ entfuhr es ihm. Besonders ärgerte ihn, dass sein Assistent noch nicht
geantwortet hatte. „Nichtsnutz“, dachte er und sah wieder auf seine Uhr. Die ganze Situation war vertrackt: das kaputte Auto, das noch ziemlich neu war. Christian, der wohl
seiner Tochter, aber nicht ihm im Sekundentakt antworten wollte . Die Sache mit dem
Portemonnaie. Und dazu kam noch, dass sich in den letzten zwei Wochen nichts in der
Welt getan hatte, das die heutige dringende Redaktionsitzung rechtfertigen würde.
„Monsieur, ich muss hier raus. Himmel!“ Er wurde aus seinen Gedanken gerissen und
Richtung Zugtür gedängt. Mit einem letzten Blick auf seine Uhr -40 Minuten- machte er sich schnellen Schrittes auf den Weg Richtung Redaktion und legte sich bereits
Entschuldigungen zurecht. Er hatte hart dafür gearbeitet, um in diesem bekannten Blatt
Fuß zu fassen und wollte sich keine Fehltritte leisten. Hetzend, fast laufend, kam er dem
Gelände immer näher und konnte doch nicht so schnell, wie er eigentlich wollte.
Da war schon wieder irgendetwas los. Demonstration oder so ähnlich. Das war er
bereits gewohnt, da in seiner Zeitung nicht allen nach dem Mund geschrieben wurde.
Jean-Baptiste drängte sich durch die Menge, sah sich nach bekannten Gesichtern um
und erblickte einen Kollegen. „Jean-Baptiste, es ist, sie sind!“ versuchte dieser einen Satz
zu sagen und brach dann zitternd in Tränen aus. Jean-Baptiste blickte um sich und sah
mehrere Polizei- und Rettungswägen, in die gerade Verletzte geladen wurden. Verstört
versuchte er, Genaueres zu entdecken, bis sein Blick an einer Trage hängen blieb, auf
der ein Körper zugedeckt lag. Die Trage wurde in einen Rettungswagen verladen und er
hörte den Arzt: „Der kommt nur noch zum Pathologen.“ Seine Blicke folgten der Trage
und sahen beim Verladen Schuhe unter der Abdeckung hervorlugen. Rote Schuhe. Wie
sollte er das nur Isabel erklären?
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Verzweifelt auf Knien bebend hieb sie ihre nackten Hände in den Schnee auf die gefrorene Erde. Prustend, zu keinem Laut fähig, rannen ihr die Tränen über die Wangen in
einen groben braunen Kartoffelsack, den sie ihr zum Schutz vor Kälte überlassen hatten.
Sie haben mich ausgesetzt. Mich. Mich ausgesetzt.
Tschetschenien war kalt im Winter. Die wenigen Bäume um sie herum schienen mehr
tot zu sein als der Boden, in dem sie alle steckten. Dürre Gerippe, deren Finger schmäler
und fahler wurden. Warum sie nicht einfach vor Kälte zerfielen?
Ihr Atem wurde wieder langsamer. Immer diese kalten Hände. Sie fuhr sich mit dem
Ärmel übers Gesicht und machte den ersten Schritt der Militärlasterspur nach. In den
Socken werde ich nicht weit kommen. Sie begann zu laufen.
Warum nur holten sie mich ab? Sie versuchte sich zu erinnern, ob sie in den Tagen der
außer Rand und Band geratenen Demonstrationen besonders auffällig gewesen wäre.
Zwar hatte sie die Forderungen nach mehr Mitbestimmung und sozialer Grundsicherung für alle unterstützt, aber die Härte der Polizei bewog sie bald, zu Hause zu bleiben.
Die Socken boten nicht viel Halt auf dem gefrorenen Untergrund. Was hatten sie von ihr
gewusst, das sie nicht wusste? Welche Logarithmen ergaben einen so großen Verdacht?
Waren es die Bücher, die sie in letzter Zeit bestellte? Sie hätte sie sich doch über den
einen der wenigen verbliebenen Buchläden in ihrer Millionenstadt besorgen sollen.
War man schon eine Gefahr, wenn man Huxley las? Schöne neue Welt und immer kalte
Hände. Zu Recht, dachte sie, spuckte aus und lief schneller.
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Karin Leroch
Ilya Kosmanov
Die folgende Geschichte hat mir mein Bekannter Ilya Kosmanov aus Serbien erzählt.
Ich lernte ihn kennen, weil ich im Hotel Sacher oft auf einen Kaffee einkehrte, und Ilya
arbeitete dort als Oberkellner. Er war ein sehr unfreundlicher Oberkellner, und mich
wundert, dass das Management seine Launen tolerierte, aber man muss Ilya verstehen –
denn seine eigentliche Leidenschaft gehörte dem Kontrabass spielen.
Er war sehr gut darin und spielte bei Hauskonzerten mit. Er träumte davon, eine CD
aufzunehmen und berühmt zu werden.
Eines Tages sah ich ihn nicht mehr im Hotelcafé Sacher. Erst viel später traf ich ihn wieder und er erzählte mir, was er erlebt hatte.
Er war nach Island ausgewandert, weil er hoffte, dort als Kontrabass Spieler leichter Karriere machen zu können. Es gab in Reykjavik eine pulsierende Undergroundmusikszene,
und weil er leicht Freundschaften schließt, wenn er gut aufgelegt ist, spielte er bald in
allen in der Szene bekannten Nachtclubs, Pubs und Bars. Aber nicht allein, sondern mit
einer Band, bestehend aus einem Geiger, einem Flötisten, einem Gitarristen und ihm
selbst. Sie waren sehr gefragt, und Ilya hatte das Oberkellnern weit hinter sich gelassen.
Sie tourten in Island auch durch die Provinz mit ihrem Bus, der sie und die Instrumente
transportierte.
Dann kamen sie auf ihrer Tour in das Dorf Ullakjögülldottirstal, in der Nähe des Vatnajökull. Niemand ahnte, dass der sonst friedliche und nur in Abständen Asche spuckende
Vulkan seit Tagen grollte, rülpste, aufstieß und knurrte.
Das Konzert war in vollem Gange, sie spielten eine Messe von Schubert, in ihrer eigenen
Interpretation für vier Musiker. Die In-Bar, die heißeste in 100 km² Umkreis, war mit
sechzig Personen brechend voll, nicht nur die Bevölkerung von Ullakjögülldottirstal war
gekommen, sondern auch Fans aus der Hauptstadt waren ihnen gefolgt. Ein Musikkritiker war darunter. Ilya war aufgeregt, aber beim Spielen vergaß er sein Lampenfieber.
Irgendwann waren die Explosionen nicht mehr zu überhören, die von draußen ins Lokal
drangen. Es hörte sich an, als ob die halbe Insel Island gesprengt würde, der Boden
zitterte, alle liefen nach draußen, sie sahen den Vatnajökull in 50 km Entfernung im
Feuerschein – er spie eine rote Fontäne, darüber wie eine Königskrone eine weißgraue
Wolke, deutlich zu erkennen, auch in der Finsternis, geisterhaft, furchteinflößend.
„Ich schmecke Asche!“ Ein Mädchen begann zu spucken.
„Es wird mir zu heiß!“, schrie ein älterer Mann und riss sich die Jacke vom Leib.
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„Wir müssen unter die Erde!“ Das kam vom Lokalbesitzer. „Kommt in meinen Keller, der
ist feucht und kühl! Der Vatnajökull hört so schnell nicht auf!“
Alle starrten zum Vulkan hin und sahen, wie hellgelbe bis orange Zungen an ihm herabflossen und sich wie Finger den Weg nach unten bahnten.
Der Mann, der die Jacke von sich gerissen hatte, schrie: „Wo ist der Keller? Ich kann doch
nicht verbrennen! Hilfe!“
Ilya erkannte ihn ihm den Musikkritiker und beschloss, alle Kritiker ab sofort nicht
mehr als Götter der Weisheit anzusehen und sich aus schlechten Rezensionen seiner
Konzerte nicht mehr so viel zu machen.
„Mir nach!“, rief der Lokalbesitzer, und die Anwesenden begaben sich im Laufschritt in
die Unterwelt Ullakjögülldottirstals. Das Lokal hatte ein unterirdisches Gangsystem, das
in einem großen ungemauerten Raum voller Bierfässer sein Zentrum hatte.
„Ich dachte, es gibt kein richtiges Bier in Island, nur dieses grauenvolle Importbier aus
Dänemark!“, grinste Ilya dem Lokalbesitzer zu.
„Wollen Sie mich etwa der Behörde melden?“, entgegnete dieser kühl, und Ilya hielt den
Mund.
Ilya hatte natürlich seinen Kontrabass mit nach unten geschleppt, denn ohne den war er
sozusagen niemand, und auch seine Kollegen hatten die Flöte, die Geige und die Gitarre
gerettet.
Von draußen hörten sie dumpfe Schläge. Der Boden dröhnte, die Erdwände des Kellers
zitterten und Erde rieselte von der Decke.
Alle drückten und kuschelten sich zusammen, der Musikkritiker weinte.
„Spielt! Spielt ein Lied!“, flehte eine Frau Ilya und seine Bandmitglieder an. „Spielt uns
etwas vor, damit wir das Ende der Welt nicht mitanhören müssen!“
Der Lokalbesitzer nickte. „Bitte! Spielt so laut ihr könnt!“
Dann klang zuerst die Flöte, sie war kaum zu hören, aber alle Augen starrten hoffnungsvoll hin, alle Ohren strengten sich an, die Melodie zu hören. Ilya fiel in das Lied ein, es
war „I am what I am“ von Shirley Bassey, und der trotzige Klang des Liedes zog alle in
seinen Bann.
Sie spielten die ganze Nacht, während draußen halb Island in Trümmer zerbrach, und
am Morgen krochen alle aus ihrem unterirdischen Loch und blinzelten, es war noch
dunkel, weil in Island im Winter die Sonne spät und nur kurz aufgeht, und der Boden
war mit Asche bedeckt, aber sie lebten.
Auch Ilya hat überlebt, sonst könnte ich diese Geschichte nicht weitergeben, die er mir
erzählte, als ich ihn in Dubrovnik am Strand traf, wo wir zufällig beide Urlaub machten.
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Karin Leroch
U-Bahn fahren
Es war ein hektischer Morgen gewesen, und ich hatte meine beiden Kinder Paul und
Petra heute nicht wirklich gut auf die U-Bahnfahrt vorbereiten können. Aber es würde
reichen. Hoffentlich war nicht wieder die strenge U-Bahn Aufseherin im Dienst, sie ließ
nämlich keine stümperhaften Leistungen durchgehen.
Ich trieb Paul und Petra an, und wir gingen die Treppe hinunter zur U-Bahn Station.
Oh nein, da saß die nämliche Aufseherin in gelb gestreifter Weste und sah uns ungnädig
entgegen: „Was haben Sie vorbereitet?“
„Die Kinder“, sagte ich mit schüchterner Stimme, „singen ‚I wish you a Merry Christmas‘,
und ich spiele die Blockflöte dazu.“
Die Aufseherin maß mich mit Blicken. „Es ist zwar noch nicht Weihnachten, aber wir
lassen es mal gelten.“
Sie winkte mich in die U-Bahn. Gott sei Dank, denn wir waren spät dran. Nach fünf
Stationen mussten wir ohnehin wieder raus.
Einige Fahrgäste durften, nachdem sie pedantisch nach ihrer geplanten Performance
abgefragt worden waren, die U-Bahn betreten, und schon fuhr der Zug los.
Der Schaffner – der Berufsstand war aus offensichtlichen Gründen wieder eingeführt
worden – war dabei, einen Chor von Schulknaben zu dirigieren, die in verschlafenen
und verschieden stimmgebrochenen Tönen „Show me the way to the next Whisky Bar“
intonierten. Wie waren die eigentlich an der Kontrolle vorbeigekommen? Na ja, die
waren in einer anderen Station eingestiegen.
Ein alter Mann war als nächster dran. Der Schaffner hob den Taktstock, und der Mann
sang mit dünner Stimme „Das kleine Wegerl im Helenental“. Mit ungeduldiger Handbewegung deutete der Schaffner einem Ehepaar, gefälligst den Backgroundchor beizusteuern und sie summten mit, wiegten sich im Takt und schnippten mit den Fingern dazu.
Ein Geschäftsmann, der die ganze Zeit schon in seinen Laptop auf seinen Knien getippt
hatte, trug zum Abschluss der Performance ein lautes „Yeah!“ bei. Der Schaffner schickte
ihm einen strafenden Blick.
Ich verfolgte verzweifelt die Haltestellen der U-Bahn: Bald mussten wir aussteigen, und
wir waren noch nicht dran gewesen!
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Ein Schulmädchenchor sang „Don‘t you love me any more“ von Joe Cocker, und der
Schaffner vergaß sich fast selbst vor Begeisterung und brach beinahe in Tränen aus, als
eines der Mädchen das Lied mit einem traurigen Saxophon Solo beendete. Schulkinder
hatten eben noch jede Menge Zeit, sich vorzubereiten.
Wir waren dran! Höchste Zeit! Ich stellte Paul und Petra vor mir auf, setzte die Flöte an,
die beiden begannen, „I wish you a Merry Christmas, I wish you...“
Da blieb der U-Bahnzug in der Station Westbahnhof stehen, und ein Mann mit einer
Ziehharmonika stieg ein.
Alle Augen wandten sich ihm zu. Paul war gerade bei „A happy New Year!“, als er merkte, dass alle still waren und den Eindringling anstarrten.
Dieser zog seine Ziehharmonika auseinander, sagte fröhlich „Ich wünsche einen wunderschönen Morgen. Ich singe jetzt für Sie ein Lied!“
Dann legte er seinen Hut mit der Öffnung nach oben vor sich ab. Die Ziehharmonika
begann mit der Melodie „Oh du lieber Augustin“.
„Halt, halt!“ unterbrach ihn der Schaffner. „Betteln ist bei Strafe verboten! Sie unterlassen
das sofort oder ich rufe in der nächsten Station die Polizei!“
„Ach so“, sagte der Bettler. „Entschuldigung!“ Er hörte zu spielen auf, setzte den Hut auf
und wollte sich auf einen Sitz setzen.
„Halt!“ schrie der Schaffner wieder. „Sie müssen für Ihren Transport bezahlen! Sie müssen
ein Musikstück vortragen! Kennen Sie die Regeln nicht?“ Der Mann stand wieder auf, zog
seine Ziehharmonika auseinander, „Whee!“ machte sie, und wollte zu spielen ansetzen.
Der Schaffner lief rot an. „Das war doch das Instrument, mit dem Sie gerade ein Bettellied
spielen wollten! Betteln ist verboten!“
Der Mann ließ die Ziehharmonika sinken, sagte „Na gut!“, und wollte sich wieder setzen.
„Ich zeige Sie wegen Schwarzfahrens an!!“
Ich begann, mir wegen des Blutdrucks des Schaffners große Sorgen zu machen, aber in
dem Moment hielt der Zug, und eine Gruppe junger Männer im Fußballdress, lila-weiß
gestreift, stieg ein. Sie warteten nicht lange, bis sie an der Reihe waren, sondern hoben
an, mit von der langen Nacht noch alkohol-durchweichten Kehlen zu grölen: „Ich bin so
gut, ich bin so toll und außerdem sternhagelvoll!“
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Christine Hochgerner
Der schwebende Globus im Stephansdom
Den Raum findet er laut und hässlich, auch ist er nicht darauf vorbereitet, dass sich bereits so früh am Morgen die Menschen um das Frühstücksbüffet drängen. Knut ist erst
am Vorabend in dem Hotel angekommen.
„Bitte was?“, fragt er erstaunt die vor ihm stehende Frau. Es ist die Hausmeisterin vom
Vortag, aber heute ohne Putzlappen. Er spricht eigentlich recht gut Deutsch, aber Häferl
kennt er nicht.
„Der Onkel aus Dänemark“, hatte die Frau an der Rezeption beim Einchecken zu ihm gesagt, als er ihr erzählte, dass er vorhabe, am nächsten Tag seine in Wien lebende Nichte
zu treffen.
In einem hinteren Eck, gleich neben der Küche, ist noch ein Tisch frei. An den führt sie
ihn und drückt ihm eine Schale in die Hand.
„Der Onkel aus Dänemark“, hatte die Frau ganz ruhig und in die Länge gezogen noch
einmal wiederholt und dabei so lange auf die Wasserlachen in der Hotellobby geblickt,
bis auch er darauf schaute.
Bis er endlich zu Kaffee, Schinken, Käse, Brot und zu seiner Freude auch zu Erdbeermarmelade gekommen ist, beginnt sich der Speisesaal bereits wieder zu leeren.
Die Frühstücksgäste drängen zur Tür hinaus. Sie lassen Knut und ein ziemlich leer
geräumtes Büffet zurück.
Bei seiner Ankunft in Wien schneite es und aus dem Schnee, der sich im Profil seiner
Schuhe sammelte, lösten sich lauter kleine Bächlein.
Welch eine Stille, denkt er erleichtert. Nur das Klappern der Hausmeisterin mit dem
Geschirr ist zu hören.
„Seit es die Bedienerin vorgezogen hat, sich ein winziges Knöchelchen zu brechen, um mit
ihrem Gips spazieren zu gehen, bin ich Mädchen für alles in diesem Betrieb. Also auch so
etwas wie eine Hausmeisterin.“
„Die Reisegruppen haben es immer eilig.“ Sie erzählt, dass die bereits zur ersten Messe in
den Stephansdom wollen.
„Ich bin mit meiner Nichte zur 10 Uhr Messe verabredet“, sagt Knut.
„Ah, Sie wollen auch den schwebenden Globus sehen?“
„Gibt’s den wirklich?“, fragt er.
„Na sicher, wenn es eine schwebende Jungfrau gibt, warum soll es dann keinen schwbenden
Globus geben?“, sagt sie und bleibt mit einem Stapel schmutziger Teller vor ihm stehen.
„Aber die schwebende Jungfrau wird doch nur auf Jahrmärkten oder bei Zaubershows
dargeboten“, sagt er.
Sie überreichte Knut einen Zimmerschlüssel, schnappte den an einem Stiel befestigten
Putzlappen und sagte: „Gehen wir.“
Für einen Moment hatte Knut schon Angst gehabt, dass er selbst hinter sich nachwischen sollte. Das wäre schwierig gewesen, weil er seinen Koffer ziehen musste. Aber mit
der Hausmeisterin als Sauberfrau hinter sich, begann er sich wieder ein wenig zu entspannen. Er hatte auch noch überlegt, ob er seine Schuhe besser gleich ausziehen sollte.
Vielleicht war das in Wiener Hotels üblich.
Er war ja zum ersten Mal in der Stadt und das auch nur, weil ihm seine Nichte von dem
schwebenden Globus im Stephansdom erzählt hatte.
„Und haben Sie schon einmal beobachtet, was die für einen Zulauf haben? Ist doch notwendig, dass sich die Kirche auch einmal etwas einfallen lässt. Wenn die Leute nicht mehr
wegen dem himmlischen Zauber kommen wollen, dann soll es halt die Weltkugel sein.“
Im Frühstücksraum schaut er sich erst einmal nach der Kaffeemaschine um. Kaffee zum
Frühstück ist für ihn eine Voraussetzung, um sich überhaupt auf einen Tag einlassen zu
können.
Dort, wo sich die Schlange gebildet hat, muss sie sein, denkt er. Aber erst einmal braucht
er ein Kaffeegeschirr. Die warten alle mit einer Schale in der Hand.
„Brauchen Sie auch ein Häferl?“
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Karin Leroch
Minidrama
Personen: Rosie, Jim und der Fernseher.
Schauplatz: Schlafzimmer
Fernseher: (läuft).
Rosie:
(Kramt in ihrer Wäschelade, dann im Kleiderkasten, dann in einer
Hutschachtel.)
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Jim:
Nicht die Blumenvase! Lass sie stehen! Sag mir, wonach du suchst!
Rosie:
Meine Pralinenschachtel mit Karamellmaronimakronen! Als ob du es
nicht wüsstest!
Jim:
Ich schwöre, ich mache mir nichts aus Karamellmakronen!
Rosie:
(Schmettert die Vase gegen die Wand, wo sie zerschellt.)
Du isst sie ja auch nicht! Oh nein, du isst sie ja gar nicht!
Fernseher:
Bärenanwalt Rauer untersuchte den Schauplatz des geschilderten Angriffs.
Rosie:
Ich weiß, dass du meine Karamellmakronen dafür verwendest, den
Abfluss zu reparieren! Weil sie so schön klebrig sind!
Jim:
Aber nein! Rosie! Hör auf! Werd wieder vernünftig! Leg das weg!
Rosie:
(Hat eine lange spitze Scherbe des zerbrochenen Spiegels in der Hand und
geht damit auf Jim los). Ich ertrage es nicht mehr, dass du in meinen
Sachen wühlst und mich nicht respektierst!
Fernseher:
Doch auch Jäger und Wanderer fanden keine Spuren des Bären.
Rosie:
(Sitzt rittlings auf Jim, der ihr die Scherbe zu entwinden versucht).
Ich hab‘s satt! (Plötzlich hält sie inne und lässt die Scherbe sinken).
Jim:
Was ist jetzt?
Rosie:
(Sitzt erstarrt).
Jim:
Rosie?
Rosie:
Mir ist eingefallen, wo die Pralinenschachtel ist.
Jim:
Was suchst du die ganze Zeit?
Fernseher:
Die aufgestellten Fotofallen sind ausgewertet, jedoch gibt es keine Spur
von dem Bären.
Rosie:
(Kramt in der Nachttischlade, reißt wütend Gegenstände heraus und
wirft sie zu Boden. Briefe, Schleifen, Cremetuben.)
Jim:
Was! Was suchst du die ganze Zeit? Was?
Fernseher:
Nach einer angeblichen Attacke auf einen 71 jährigen Landwirt im
Lungau brachten auch Fotofallen kein Ergebnis.
Rosie:
(Wirft Makeupdose auf den Boden, wo der Deckel abspringt und das
Makeup über den Boden rinnt).
Du! Du hast sie genommen!
Jim:
Ich habe was genommen? Was?
Rosie:
Ich weiß, dass du es warst! Du reißt immer meine Sachen auseinander
und nimmst dir, was dir passt!
Fernseher:
Ich habe gedacht, er zermalmt mich! schildert Bauer Fritz aus Thomatal.
Jim:
Wo?
Jim:
Du spinnst völlig! Du weißt, dass das nicht wahr ist! Du kreierst solch ein
Durcheinander in deinen Schubladen, dass du selbst nichts mehr findest!
Rosie:
(Hebt einen Handspiegel vom Spiegeltisch und schleudert ihn quer durchs Zimmer gegen die Wand.) Wo sind sie!!?
Rosie: Ich habe sie aufgegessen. Aber!
(Sticht Jim in den Hals, der röchelnd nach hinten sinkt, während Blut auf
sein Hemd tropft). Aber ich kann mich jetzt nicht mehr beherrschen!
Drum stirb! Da! Da!
Jim:
Was? So sag mir, wonach du suchst!
Fernseher:
Es wurden drei Fotofallen ausgewertet. Das Ergebnis: Nichts. Nur ein
kleines Reh tappte in die Fotofalle.
Fernseher:
Ich hätte kein Honigbrot in der Hosentasche mitnehmen sollen. Das hat
der Bär gerochen!
ENDE
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Marietta Schneidinger
Gudrun Leibl
Apfel Amok
Er und Sie. Dramolett
„Jetzt nehmen´s doch den Opfe. Der is bessa.“
Bevormundung war ihm zuwider. Schon als Kind wurde er gezwungen aufzuessen, das
Zimmer aufzuräumen, nicht zu spät nachhause zu kommen, vor allem nicht frech zu
sein, immer brav zu grüßen, ja nicht unhöflich zu sein, regelmäßig die Großeltern zu
besuchen und schon gar nicht zu rauchen.
Seit Anfang der Woche gibt es nur mehr ein Thema im „Ländle“: Die 400 WahlkampfZwerge der SPÖ, die über Nacht quer durch Vorarlberg verschwanden und teilweise
durch ÖVP-Plakate ersetzt wurden. Die Polizei verfolgt jetzt die erste wirklich heiße
Spur. Wie Polizeisprecherin Susanne Dilp erklärt, werden die „Coolmen“ von einer
Person im Internet angeboten. Auch SPÖ-Landesgeschäftsführer Reinhold Einwallner
bestätigt gegenüber ÖSTERREICH: „Diese Person sagt von sich selbst, dass sie viele Zwerge zum Weitergeben hat.“
Nun war es wieder soweit. Objektiv betrachtet empfahl ihm die Obstverkäuferin am
Markt lediglich, die anderen Äpfel zu kaufen. Seine subjektive Empfindung war jedoch
eine ganz andere. Das lag vielleicht auch am Gesichtsausdruck der älteren Dame und
möglicherweise auch an ihrem etwas anmaßenden Tonfall. Nichtsdestotrotz konnte
er sich nicht halten. Es ging einfach wieder mit ihm durch. Wütend biss er wahllos in
sämtliche Äpfel, die sich auf dem Obststand befanden und hier eigentlich zum Verkauf
feil geboten wurden.
„Herns, san se wahnsinnig?!“, hörte er die verdutze Obstverkäuferin noch fragen. Als die
Polizei eintraf, hatte er bereits Bauchschmerzen.
Coolmen
Ein Haus 2,7 km entfernt von Schopenau. Er und sie sitzen am Küchentisch auf einer
hölzernen Eckbank. Er lehnt sich aus dem Fenster und schaut in den Garten.
Er: Seit wann haben wir einen Gartenzwerg?
Sie: Der ist uns zugelaufen. Spricht aber nur sehr gebrochenes Deutsch.
Verwandlung
Beide sind im Garten. Er beugt sich zum Zwerg und starrt ihm ins Gesicht.
Er (laut und deutlich): Woher kommen Sie?
Sie: Aus China kommt er, das habe ich gestern schon herausgefunden. Er ist aber
eher schüchtern.
Er: Und ich hätte gedacht, in China hätten Gartenzwerge Chinesenhüte auf.
Verwandlung
Sie kocht Reis und sieht durch das Küchenfenster. Im Garten sitzt er zwischen fünf
Zwergen und gibt Unterricht. Er kommt zur Tür herein.
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Er: Der freut sich schon, dass er jetzt Gesellschaft hat. Nur reden sie jetzt wieder
nur Chinesisch.
Sie: Ja, die Chinesen sind nicht gerne allein. Die wohnen ja auch immer zu zehnt in
einem Zimmer. Die sind nicht gern allein.
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Verwandlung
Sie trägt einen Kimono und deckt den Tisch. Er kommt im Arbeitsgewand und mit
einer roten Mütze herein. Er versucht, sich seine dreckigen Hände zu waschen, kommt
aber nicht zum Waschbecken hinauf. Er schiebt sich einen Schemel zurecht und steigt
darauf, um sich zu säubern.
Sie: Bist Du fertig geworden mit der Mauer?
Er: Sie stehen schon davor und fotografieren sie.
Sie: Das heißt, dass sie sich wohl fühlen!
Er: Ich habe ihnen auch unser Schlafzimmer als Dunkelkammer für die
Entwicklung angeboten.
Sie: Über die Fotos werden sich ihre Verwandten sicher freuen.
Verwandlung
Sie steht am Küchenfenster und sieht in den Garten. Draußen stehen an die hundert
Gartenzwerge. Sie fotografieren die Mauer, die er gebaut hat, unterhalten sich auf Chinesisch und finden Schutz vor der Sonne unter den Pagodenschirmchen, die sie aufgestellt hat. Sie kann nicht genau feststellen, welcher davon ihr Mann ist. Wenn sie genau
hinhört, erkennt sie ihn an seinem Vorarblerger Akzent, vor allem bei Wörtern mit X.
Sie beginnt 100 kleine Schalen auf einem Servierwagen aufzustellen und mit Suppe zu
füllen. Danach zieht sie ihren Kimono enger zu, bindet sich ihre Haare mit Hilfe eines
Stäbchens zum Knoten, steigt in ihre Pantoffeln und schiebt den Servierwagen in kleinen Schritten Richtung Gartentür. Sie öffnet die Tür zum Garten.
Sie. Ni Hao!
Vorhang.
Verwandlung
Sie steht in ihrem Badezimmer und pudert sich das Gesicht weiß. Danach zieht sie sich
mit einem Kajalstift eine schwarze Linie vom Auge weg. Als sie damit fertig ist, holt sie
die Wäsche aus der Waschmaschine und hängt die 22 kleinen und die eine größere Latzhose feinsäuberlich auf die Wäscheleinen, die über der Badewanne hängen. Er kommt
dazu, stellt sich auf den Badewannenrand. Er sieht in den Spiegel und beginnt seinen
Bart zu stutzen.
Er: Dass es denen so gut bei uns gefällt, dass sie alle ihre Verwandten eingeladen haben, hätte ich mir nicht gedacht!
Sie schweigt und verbeugt sich vor ihm.
Verwandlung
In der Garage. Sie liegen gemeinsam auf einer Matratze. Er kratzt sich am Bart und
unter seiner Haube. Sie liegt und liest P.S: I love you in der chinesischen Fassung. Neben
ihnen stehen Teeschalen.
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Er: Dass wir früher ein ganzes Zimmer zum Schlafen gebraucht haben, ist ja eigentlich eine Verschwendung- vor allem jetzt, wo ich so klein bin. Gut, dass uns die Chinesen gezeigt haben, wie auf dem Boden schlafen geht. Sie schenkt noch eine Tasse Tee ein.
Sie: Chai?
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