Interpretation. Marie Luise Kaschnitz: "Lange Schatten"

Asta-Maria Bachmann
Marie Luise Kaschnitz: Lange Schatten
Reclam
Marie Luise Kaschnitz: Lange Schatten
Von Asta-Maria Bachmann
Die Geschichte Lange Schatten ist eine Pubertätsgeschichte. Aus diesem Grund fand
man sie früher häufig in Schulbüchern abgedruckt. Dies ist heute nicht mehr der Fall.
Heutigen Lesern und Schulbuchautoren erscheint die Erzählung, die zuerst im Mai 1960
in der Zeitschrift Merkur veröffentlicht wurde und dann einem im selben Jahr
erschienenen Band mit Kurzgeschichten von Marie Luise Kaschnitz den Titel gab,
vermutlich etwas altmodisch und verstaubt. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen,
dass sie atmosphärisch noch immer die eigentümliche Mischung aus Unzufriedenheit,
Gereiztheit, Überheblichkeit und Melancholie, die diese Entwicklungsphase
kennzeichnet, überzeugend einfängt, einen Zustand, aus dem ein Ausbruch versucht
werden muss. »Langweilig, alles langweilig, die Hotelhalle, der Speisesaal, der Strand,
wo die Eltern in der Sonne liegen, einschlafen, den Mund offenstehen lassen,
aufwachen, gähnen, ins Wasser gehen, eine Viertelstunde vormittags, eine
Viertelstunde nachmittags, immer zusammen.« (241) So beginnt die Erzählung, für die
der ständige, oft fast unmerkliche Wechsel zwischen der Innenperspektive der
Hauptfigur und der Erzählerperspektive charakteristisch ist. Den Tagebüchern von
Kaschnitz ist zu entnehmen, dass die Geschichte auf ein nicht näher beschriebenes
Erlebnis während eines Ferienaufenthaltes zurückgeht, den die Schriftstellerin mit ihrer
Tochter Iris und deren Freundin Elisabeth Freiin von Fürstenberg vom 7. bis 29. Juni
1959 in San Felice am Monte Circeo verbrachte.1 Wie in anderen Prosatexten, die
Pubertätserfahrungen bzw. das Erwachsenwerden behandeln – z. B. von Carson
McCullers, Alfred Andersch, Franz Fühmann, Reiner Kunze und Brigitte Kronauer2 –,
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© 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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geht es auch in Lange Schatten um »die Sehnsucht nach dem ganz Anderen«
(Horkheimer), um das Ausbrechen aus Gewohntem und das Erweitern des eigenen
Handlungsspielraums.
Rosie Walter, Schülerin der 11. Klasse, macht sich also auf den Weg. Sie vergisst
»sich selbst als Person mit Namen und Alter« (245) und wird »eine schweifende Seele«
(245). Sie trennt sich unter Vorwänden von ihrer Familie, denn eine »Familie ist eine
Plage, warum kann man nicht erwachsen auf die Welt kommen und gleich seiner Wege
gehen« (241). Vorbild und Gegenbild zu ihrem »schmalbrüstige[n]« (248) Vater »mit
seinem armen, krummen Bürorücken« (242) ist ein braun gebrannter Mann »mit […]
Goldkettchen« (241), der an der Bar »hockt«, mit einem Motorboot »wilde Schwünge«
macht und vor allem »immer allein« (241) ist. Fast herrisch und zugleich doch noch
kindlich wirkt der Expansions- und Aneignungsdrang des Mädchens: »Wenn man allein
ist, wird alles groß und merkwürdig und beginnt einem allein zu gehören, meine
Straße, meine schwarze räudige Katze […] [m]ein Markt, meine Stadt, […] mein
Ölwald, mein Orangenbaum, mein Meer« (242–244). Als dreimal wiederkehrender
Refrain wird diese Aneignung der Umwelt bekräftigt.
Strukturell und auch inhaltlich enthält Lange Schatten die entscheidenden
Elemente einer Initiationsgeschichte, wie wir sie u. a. aus dem Märchen kennen: Die
Krise ist Ausgangssituation, die den Helden oder die Heldin zwingt, sich auf den Weg zu
begeben. Dem Aufbruch folgt eine Zeit der Prüfungen und Bewährungen, die schließlich
in die Rückkehr dessen, der ausgezogen ist, mündet. Zurück kommt er als einer, der
gereift ist und seine Identität gefestigt hat.
Mircea Eliade weist im Epilog zu seinem Das Mysterium der Wiedergeburt.
Versuch über einige Initiationstypen darauf hin, dass die »Initiationsthemen« im
Unbewussten des modernen Menschen noch sehr lebendig seien, was sich an der
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»Initiationssymbolik einiger künstlerischer Schöpfungen« bestätige, die
»Initiationsszenarien in Form alltäglicher Abenteuer« darstellten.3
Kaschnitz’ Geschichte Lange Schatten bestätigt Eliades Beobachtung. Auffällig ist
zudem, dass sie neben den schon erwähnten ganz elementaren Strukturmerkmalen
einer Initiationsgeschichte auch auf anderen Ebenen ›Gesetze‹ dieser Gattung enthält.
Rosie ist es wichtig, sich auf ihrem Weg in die Stadt von ihren Eltern zu isolieren – ein
typisches Element von Initiationsritualen. Ihr in kritischem Abgrenzungswillen
unternommener Aufbruch, indem sie – in der Überheblichkeit und Selbstüberschätzung
der Unerfahrenen – sich gänzlich autonom wähnt (»Rosie braucht keinen Schatten«,
242; »wozu überhaupt braucht man Eltern«, 243), mündet in der Begegnung mit dem
Jungen in einer Krise. In den Aufbruch in die neue Freiheit brechen schon recht bald
Störungen ein, die bewältigt werden müssen.
Elsbeth Pulver hat in ihrer Monographie über Marie Luise Kaschnitz ein
»Grundmuster« der Kurzgeschichten dieser Autorin so formuliert: »Die Begegnung
zwischen zwei Menschen steht im Zentrum […], nicht einfach als eine Erfahrung unter
vielen, sondern als ein auslösendes und veränderndes Moment.«4 Dies gilt für Lange
Schatten insofern, als hier zwei junge Menschen an »den ewigen Rhythmen, denen
jedes Menschenleben unterworfen ist«,5 teilhaben.
Rosie ist ausgezogen, um sich Raum zu schaffen. Vom Strand, an dem das Hotel
sich befindet, steigt sie auf nach oben in den Ort, der »mit Mauern und Türmen an den
Berg geklebt« (242) liegt. Die raumsemantischen Konstellationen von
Initiationsgeschichten, in denen der Auserwählte – wie ja selbst Christus – vor der
Auferstehung den Abstieg in die Hölle6 unternehmen muss, werden umgekehrt. Das
Initiationsszenarium funktioniert bei Kaschnitz nicht mehr auf der religiösen, sondern
»nur noch auf der vitalen und der psychologischen Ebene«7. Der Ort, an dem Rosies
Begegnung mit dem zwölfjährigen Jungen sich ereignet, liegt »hochoben« (244), und
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sie findet in der Mittagshitze, der »heißen, dösenden« (244) Stunde des Pan statt, die
schon die Nymphen der griechischen Mythologie in ›panischen‹ Schrecken zu versetzen
wusste. Denn der Hirtengott Pan ist eine lüsterne, halbtierische Gestalt, deren
plötzliche Erscheinung ganze Herden in die Flucht zu schlagen vermag. Beharrlich geht
also auch der Junge, »[d]er kleine Pan« (248), Rosie nach, »der Peppino, die
Rotznase« (247). Er will »sein Glück machen. […] Sein Glück, er weiß nicht, was das
ist, ein Gerede und Geraune der Großen, oder weiß er es doch plötzlich, als Rosie vor
ihm zurückweicht, seine Hand wegstößt und sich, ganz weiß im Gesicht, an die
Felswand drückt?« (247)
Auch in Kaschnitz’ Erzählung wird hier wie in den mythologischen Geschichten
ein Zustand der Suspension, des Stillstandes, der Aufhebung von Bewusstheit und des
normalen Raum- und Zeiterlebens hervorgerufen. »Die Sonne glüht, das Meer blitzt
und blendet« (246), der Junge kommt »lautlos« (246) gesprungen und steht »plötzlich
nackt in der grellheißen Steinmulde […] und schweigt erschrocken, und ganz still ist es
mit einemmal« (248). Gerade diese Atmosphäre ermöglicht offenbar einen Zustandder
Überbewusstheit und Offenheit für »Anderes«, wie er auch diesen beiden Jugendlichen
– in einer Art sexueller Initiation – widerfährt. Peter Handke hat in seinem Versuch
über die Müdigkeit beschrieben, wie solch ein Zustand der Suspension den Einzelnen
für Erfahrungen öffnet, die uns sonst verborgen bleiben.8 So geraten Rosie und der
Junge in dieser Mittagshitze, in der außer ihnen niemand unterwegs ist, in eine
Wachheit, in der sich die Ereignisse fast wie in einem Traumgeschehen überschlagen
und die Wirklichkeit in ein flirrendes Changieren gerät. »Alles neu, alles erst erwacht an
diesem heißen, strahlenden Nachmittag, lauter neue Erfahrungen, Lebensliebe,
Begehren und Scham, […] Frühlings Erwachen, aber ohne Liebe, nur Sehnsucht und
Angst.« (249) Plötzlich sind beide wie in einen Kokon eingesponnen, in dem sie nur
noch aufeinander reagieren und in dem sich ihnen eine neue Welt offenbart. »Rosie
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starrt den nackten Jungen an und vergißt ihre Angst, so schön erscheint er ihr
plötzlich.« (248) Aus der Faszination der Situation heraus reagieren die beiden
geradezu spiegelbildlich. Zunächst gibt der Junge »einen seltsamen, fast flehenden
Laut von sich, der etwas Unmenschliches hat und der Rosie erschreckt.« (246)
Nachdem er sich die Kleider vom Leib gerissen hat, schweigt er selbst »erschrocken«
(248). Beide weichen voreinander und vor dem, was ihnen widerfährt, zurück, sinken
vor Angst oder vor dem Blick des anderen in sich zusammen und wachsen im nächsten
Moment aus ihrer »Kinderhaut« (vgl. 247) heraus, bevor sie nach dieser
verwandelnden Erfahrung »tränenblind« (250) nach Hause stolpern.
Ob der Knabe Rosie »schön« und wie mit einem »goldenen Heiligenschein« (248)
umgeben erscheint oder wie ein »wildes Tier«,9 das »die langen weißen Zähne fletscht«
(248), ist eine Sache der Perspektive, der Deutung. Nur indem Rosie den Jungen zum
Tier degradiert, um sich aus (s)einem Bann zu befreien – der »Junge ist ein
streunender Hund, er stinkt, er hat Aas gefressen, vielleicht hat er die Tollwut« (249) –
, kann sie sich der Faszination, die von ihm ausgeht, entziehen, durch einen Blick, der
»entsetzlich« gewesen sein und in dem etwas von der »Urkraft der Abwehr« (249)
gelegen haben muss. Die Stunde des Pan ist zu Ende. Zwar ist es »noch immer
furchtbar still« (249), aber es »riecht nun plötzlich betäubend aus Millionen von
unscheinbaren, honigsüßen, kräuterbitteren Macchiastauden« (249). Auch wird wieder
die Umwelt wie früher, d. h. normaler, wahrgenommen.
Ist die Prüfung bestanden? Die Störung aus dem Weg geschafft? Steht Rosie als
Siegerin da?
Kaschnitz’ Geschichte trägt den Titel Lange Schatten. Man weiß, dass der
Schatten seit Urzeiten für die Menschen ein Zeitmesser gewesen ist. Gleichzeitig aber
sind ihm, weil er so wesentlich und untrennbar zu einer Person oder einem Gegenstand
gehört, auch symbolische Funktionen zugesprochen worden. Um den Verlust des
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