Wie tiergerecht (artgerecht) ist die ökologische Nutztierhaltung

Wie tiergerecht (artgerecht) ist die
ökologische Nutztierhaltung tatsächlich?
Gliederung
• Wohin geht die Reise?
• Was ist überhaupt „artgerecht“?
• Kriterien und Maßstäbe der Beurteilung?
• Welche Zielkonflikte und Hindernisse bestehen?
• Was wäre zu tun?
• Schlussfolgerungen
26.10.2013, Fulda
Prof. Dr. Albert Sundrum
Fachgebiet Tierernährung und Tiergesundheit
Wohin entwickelt
sich die ökologische Landwirtschaft und wonach
soll sich der einzelne Betrieb
ausrichten?
(Quelle: Die Zeit Nr. 25, 2013)
2
Was repräsentieren die Striche und Punkte?
(Quelle: Roth, 1997, Das Gehirn und seine Wirklichkeit)
3
Das Bild vom
Dalmatiner gilt in der
Psychologie als ein
Beispiel für die
ganzheitliche
Erfassung der
Gestalt in der
Wahrnehmung
4
Erwartungen
der
Verbraucher
an die Landwirtschaft
Wann werden Nutztiere
“artgerecht” gehalten?
6
Wie kann man einer Tierart gerecht werden?
•
•
•
•
•
•
Variabilität
innerhalb einer
Tierart
Alter
Aufzuchtphase
Geschlecht
Rasse
Leistungsniveau
Lebensphasen
•
etc.
(z.B. Laktationsstadium)
7
Gedankliches Konstrukt einer
homogenen Gruppe von Milchkühen
8
Milchkühe mit individuellen Eigenschaften
9
Man kann nicht einer Tierart
gerecht werden, sondern nur den
jeweiligen Einzeltieren im
Hinblick auf ihren spezifischen
Bedürfnisse und ihrem Bedarf.
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Wie kann man einer Tierart gerecht werden?
•
•
•
•
•
•
Variabilität
innerhalb einer
Tierart
Alter
Aufzuchtphase
Geschlecht
Rasse
Leistungsniveau
Lebensphasen
•
etc.
(z.B. Laktationsstadium)
Variabilität im
Anforderungsprofil
• leistungsgerecht
• verhaltensgerecht
• gesundheitsgerecht
• umweltgerecht
• Verbrauchergerecht
• etc.
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Mit der Erzeugung verbundene Ziele
Aufwandminimierung
Maximierung der
Produktionsleistung
Tiergesundheit
Ziele
Niedrige
Produktionskosten
Qualitätsfleisch
(Genusswert)
Nutzung betriebseigener Nährstoffe
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Mit der Erzeugung verbundene Ziele
Aufwandminimierung
Maximierung der
Produktionsleistung
Tiergesundheit
Ziele
Niedrige
Produktionskosten
Qualitätsfleisch
(Genusswert)
Nutzung betriebseigener Nährstoffe
antagonistisch
synergistisch
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Was sind geeignete
Beurteilungskriterien für die
Tiergerechtheit und was sind
angemessene Maßstäbe?
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Beurteilung von Tiergerechtheit
Tierschutzziele
Wohlbefinden
Tiergesundheit
Tierverhalten
Tiergerechtheit der
Haltungsbedingungen
Beurteilungsmöglichkeiten
Naturwissenschaftlich
nicht erfassbar
Pathologische, physiologische
und ethologische Indikatoren
Bautechnische und
managementbezogene
Indikatoren
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Beurteilung tiergerechter Lebensbedingungen auf dem Betrieb
Tiergesundheit und
Tierverhalten
Managementspezifisch
Qualität des
Management
(CCP²)
Bautechnisch
Erhebungsaufwand
Tierbezogen
Erklärungsgehalt
Indikatoren
Qualität der
Haltungsbedingungen
(u.a. TGI1)
Gesetzliche Mindestanforderungen
1Tiergerechtheitsindex,
²Critical Control Points (DGfZ, 2001)
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Qualitätsstufen der Haltungsbedingungen
am Beispiel der Mastschweinehaltung (85-110 kg LM)
Gute fachliche Praxis
Gehobener Standard
Ökologische Mastschweinehaltung (EG-VO 1804/1999)
1,3m²/Schwein
1,0m²/Schwein
• 0,65 m² pro Tier
• 1,0 – 1,2 m² pro Tier
• 1,3 m² pro Tier im Stall
• Definierte Spaltenweiten
• Eingestreute
Liegefläche
• Eingestreute
Liegefläche
• Beschäftigungsmaterial
• 1,0 m² pro Tier Auslauf
Bewegungsfläche und Bodenbeschaffenheit haben maßgeblichen Einfluss auf die
Tiergerechtheit; sie bieten jedoch keine Gewähr für einen hohen Qualitätsstandard.
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Vor- und Nachteile der ökologischen Haltung
Vorteile
Potentielle Nachteile
Ermöglicht die Ausübung arteigenen
Verhaltens
Vermehrtes Auftreten unausgewogener Nährstoffversorgung
Beschäftigungsmöglichkeiten
Staubbildung & Kontaminationsrisiko
mit Mykotoxinen über Stroh
Verbessertes Stallklima
Suboptimale Hygienebedingungen
(u.a. kein Rein-Raus-Verfahren)
Verminderter bakterieller Keimdruck
Erhöhtes parasitäres Infektionsrisiko
Tierverkehr reduziert
Eingeschränkte Spezialisierung und
Professionalität
Verlängerte Säugezeit
Überbeanspruchung der Sau
….
….
18
Welche Maßstäbe sollten gelten?
19
(Quelle: Sundrum & Löser, 2007)
20
Wo steht die Bio-Schweinehaltung?
Leber
Brustfell
Lunge
Auswertung von Schlachthofbefunden
(Ebke & Sundrum, 2004)
Öko
Konv.
N = 3.989 N = 46.535
21
Schweine ohne Befund
19%
24%
Leber ohne Befund
35%
59%
Lunge ohne Befund
47%
41%
21
„Gesunde Lebensmittel von gesunden Tieren“
(Zitat Aigner, Internet Portal BMELV)
Anzahl der an einem Schlachthof in Hessen erhobenen Befunde bei Mastschweinen
2002/2003
2010 - 2012
Ökologische Schweinehaltung
Konventionelle
Schweinehaltung
n = 46.535
Kein Befund
n = 3.989
1 Befund
2 Befunde
n = 11.638
3 Befunde
Mehr als 3 Befunde
(Ebke & Sundrum, 2004; Sundrum & Hoischen-Taubner, 2012)
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Erkrankungen als Ergebnis überforderter
Regulations- und Anpassungsvermögen
Euter
Klauenund
Gliedmaßen
Stoffwechsel
Fruchtbarkeit
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Erkrankungsraten (in %) bei verschiedenen Untersuchungen
Fruchtbarkeits
-störungen1
Eutererkrankungen
Stoffwechselstörungen2
Klauenerkrankungen
18,2
37,0
31
-
Waage, 1993
23,4
42,1
2,5
15,1
Oresnik, 1995
26,2
25,8
10,2
14,9
Beaudeau
et al., 1995
26
32,8
20,1
-
32.2
-
8,7
28,4
Heuer
et al., 1999
26,2
8,1
9,9
4,4
Distl, 2001
22,0
41,0
21,0
11,0
1
Endometritis, Ret.sec., Ovarialzysten;
Quelle
Ostergaard &
Gröhn, 1999
Volling et al.,
2005
2
Ketose, Milchfieber, Labmagenverlagerung; - nicht erfasst
Faktorenkrankheiten sind das gravierenste Problem in den Nutztierbeständen
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Tiergesundheitsstatus in der ökologischen
Nutztierhaltung
Eigene Erhebungen und Literaturübersichten weisen
im Mittel keine relevanten Unterschiede zwischen
ökologischer und konventioneller Erzeugung auf.
Es besteht kein gerichteter Zusammenhang zu
betriebsstrukturellen & ökonomischen Kenngrößen.
Die Variation innerhalb der jeweiligen Produktionsmethoden ist größer als zwischen diesen.
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Unterschiedliche Perspektiven und Erwartungen an das Niveau der Tiergesundheit
TiergeAB
sundheit
Wir haben es satt!
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Persönliche Wertsetzungen zu Tierschutzaspekten und moralischen Verpflichtungen
(Inter-Quartilsabstand (Q.75-Q.25); Skala von -3 bis +3)
Tierschutz und ethische Werte (n = 145)
Median
Eine Kuh kann Schmerzen empfinden.
2 (-1 ; 3)
Ein Landwirt hat die Verpflichtung, sich gut um seine Kühe zu
kümmern.
3 (3 ; 3)
Eine Kuh ist nur wertvoll als Produktionseinheit.
2 (0 ; 2)
Eine Kuh ist wertvoll unabhängig von der Erzeugung.
2 (1 ; 2)
Das Wohlbefinden einer Kuh ist wichtig für die Entscheidung
ob eine Kuh behandelt wird oder nicht.
2 (1 ; 3)
Eine Kuh hat das Recht zu leben.
2 (1 ; 3)
Es ist nur akzeptabel eine Kuh zu schlachten, wenn zuvor
eine Behandlung durchgeführt wurde.
2 (2 ; 3)
Es ist wichtig, autonom darüber zu entscheiden, was gut für
meine Kühe ist.
2 (1 ; 3)
(Bruijns et al., 2013)
27
Einschätzung zur Beeinträchtigung des
Allgemeinbefindens einer Kuh mit Mastitis
Wie stark ist das Tier in seinem Allgemeinbefinden
beeinträchtigt?
kein Fieber
28
Einschätzung von Zellzahlen im Hinblick auf den
Eutergesundheitsstatus
Wie beurteilen Sie die betriebliche Situation der Eutergesundheit?
29
Beurteilung eines Euterviertels
anhand der Zellzahl und der bakteriologischen Untersuchung
Beurteilung zytologisch-mikrobiologischer Befunde von
Viertelanfangsgemelksproben im Rahmen der
Mastitis-Kategorisierung
(DVG, 2002 in Anlehnung an IDF, 1967)
Zellgehalt
pro ml Milch
Euterpathogene Mikroorganismen
Nicht
nachgewiesen
Nachgewiesen
< 100.000
Normale Sekretion
Latente Infektion
> 100.000
Unspezifische
Mastitis
Mastitis
30
Kennzeichen einer eutergesunden Herde
Häufigkeitsverteilung der monatlichen Probemelkergebnisse
auf der Betriebsebene
2/3
< 100.000
1/4
100.000 -< 200.000
1/12
200.000 -< 400.000
Keine
> 400.000
(Quelle: Wolter & Kloppert, 2004)
31
Tiergesundheitsstatus zwischen
Minimum + Maximum
Min.
Max.
Bezugsebene ist der einzelne landwirtschaftliche Betrieb
und Referenzgröße ist die Zahl der betroffenen Tiere!
32
Strukturelle Voraussetzungen der Tiergerechtheit
am Beispiel der Milchkuh
Milchkühe
Gruppe I
Gruppe II
33
Trockensteher
„Wachsen oder Weichen“ hagert die Möglichkeiten
zur Umsetzung einer Qualitätserzeugung aus
34
Unfaire Wettbewerbsbedingungen in der
ökologischen Landwirtschaft
Wettbewerbsbedingungen in der ökologischen Nutztierhal-tung
sind unfair, solange sie für sehr unterschiedliche Produkt- und
Prozessqualitäten den gleichen Marktpreis bieten.
Diejenigen, die mit einem geringeren Aufwand unter Vernachlässigung der Qualitätserzeugung die Produktionskosten
senken, haben einen gravierenden Wettbewerbsvorteil
gegenüber denjenigen, die sich mit Mehraufwendungen um
bessere Produkt- und Prozessqualitäten bemühen.
Qualitätsniveaus werden so systemimmanent nach unten
nivelliert; Qualitätserzeugung hat nur dann eine Chance,
wenn sie mit einem ökonomischen Vorteil verbunden ist.
35
Beziehung zwischen den finanziellen Verlusten bei
Auftreten von Mastitiden und Kosten für Präventive
(Quelle: Hogeveen, 2012)
36
Beziehung zwischen finanziellen Verlusten bei Mastitiden und
Kosten für Vorsorgemaßnahmen auf 120 Milchviehbetrieben
(Source: Hogeveen, 2012)
37
Beratungsleistungen bei der Umsetzung von
Maßnahmen auf der Betriebsebene
Effekt der Intervention
hoch
gering
Kosten der Umsetzung
gering
hoch
Voraussetzung für Verbesserungen sind: eine
Umsetzung
Nicht
fundierte Analyse der Istin Erwägung
umsetzen
Situation, eine Einschätziehen
zung der Effektivität und
Nur umsetzen Effizienz von MaßnahUmgehend
wenn
men in Abhängigkeit des
umsetzen
ökonomisch
konkreten Zieles bezgl.
tragfähig
Tierschutzleistungen.
Aufwand-Nutzen-Relationen variieren von Betrieb zu Betrieb
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und sind nicht verallgemeinerungsfähig.
Modell eines Regelkreises zur Steuerung von
Prozessen auf spezifische Zielgrößen hin
Regler:
Zielgröße: Tiergesundheit
Landwirt
Messfühler:
Erkrankungsraten
Messfühler: Gesundheitsmerkmale, Nährstoffversorgung, Leistungsdaten, etc.
Signal:
Entscheidungen
Zielgröße:
Tiergesundheit
Stellglied:
Maßnahmen
Regler: Landwirt
Signal: Entscheiden, Umsetzen von Maßnahmen
Stellglieder: Diagnostik,
Behandlung, Hygiene,
Datenerfassung und -auswertung, Rationsgestaltung, -kontrolle, Haltungsverbesserungen, etc.
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Schlussfolgerungen
Ökologische Nutztierhaltung bietet den Tieren bessere
Möglichkeiten zur Ausübung arteigenen Verhaltens.
Vorteile durch schlechten Tiergesundheitsstatus aufgezehrt.
Erwartungen der Verbraucher werden nicht erfüllt; deren
Bereitschaft zur Zahlung von Mehrpreisen mag noch anhalten.
Wirtschaftliche Rahmenbedingungen stehen einer Qualitätserzeugung entgegen und bedürfen dringend der Veränderung.
Ökologisch wirtschaftende Betriebe sollten tiergesundheitliche Zielvorgaben betriebsspezifisch ansteuern und erfüllen.
Diejenigen, welche in der Qualitätserzeugung eine Möglichkeit
der nachhaltigen Wertschöpfung sehen, sollten sich tunlichst
abgrenzen und faire Wettbewerbsbedingungen einfordern!
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