THEMA ASSELBORN-KRITIK Mittwoch, 14. September 2016 • Nr. 215 Asselborn fordert den EU-Ausschluss Ungarns, Budapest zeigt sich unbeeindruckt. Auch die EU versteht Luxemburgs Außenminister nicht mehr. Warum eigentlich? Orban hetzt gegen Flüchtlinge Von unserem Korrespondenten Thomas Roser, Belgrad Während Luxemburg den EU-Ausschluss Ungarns fordert, zeigt sich Budapest kaum beeindruckt. Vor dem Referendum über die EU-Flüchtlingsquoten verstärkt die Regierung das propagandistische Trommelfeuer gegen die Immigranten – bisher mit begrenztem Erfolg. Kollegiale Wertschätzung sieht anderes aus. Verstimmt hat Ungarns Außenminister Peter Szijjarto gestern auf die Forderung seines Luxemburger Amtskollegen Jean Asselborn reagiert, Ungarn wegen seiner massiven Verstöße gegen die Grundwerte vorübergehend oder für immer aus der EU auszuschließen. Europas dienstältester Chefdiplomat sei „arrogant, herablassend, frustriert“ und eine „unseriöse Figur“, schäumte Szijjarto. Asselborn sei ein „Nihilist“, der unablässig daran arbeite, „Europas Sicherheit und Kultur zu zerstören“: „Er will Ungarn aus der EU ausschließen, aber hat sich selbst aus dem Kreis der Politiker ausgeschlossen, die ernst genommen werden können.“ Am 2. Oktober stimmen die Ungarn über die Flüchtlingsquoten in einem Referendum ab. Mitten im Stimmenstreit hat Ungarns nationalpopulistische Regierung die herbe Schelte des Luxemburger Außenministers an ihrer rigiden Flüchtlingspolitik ereilt. Beeindruckt zeigt sich Premier Viktor Orban allerdings keineswegs. Im Gegenteil: Vor dem Referendum verschärft Budapest noch einmal das propagandistische, schon seit Wochen anhaltende Trommelfeuer gegen die ungewollten Immigranten. „Wollen Sie zulassen, dass die EU bestimmen darf, dass nicht-ungarische Bürger in Ungarn ohne Zustimmung des Parlaments angesiedelt werden?“, lautet die von Budapest zur Schicksalsfrage erklärte Referendumsfrage. Mit der „Massenmigration“ sei der „Terror in Europa eingezogen“, so die Dauerbotschaft von Orban an seine Landsleute. Ungarn habe „kein Herz aus Stein“, aber jeder einzelne Migrant stelle ein „Sicherheitsrisiko“ dar. Sein Land stehe vor einem „Kampf um Leben und Tod“: „Europa muss aufwachen. Mit dem Referendum wollen wir die Entscheidung der EU-Kommission wieder rückgängig machen.“ Opposition wirft Orban Ablenkung vor Doch weniger außenpolitischen als innenpolitischen Gründen scheint der Volksentscheid zu dienen, der juristisch keine Konsequenzen hat: Die schwache Opposition wirft Orban vor, mit dem Referendum von den eigentlichen Problemen ablenken zu wollen. Wer das Referendum boykottiere, sei „schwachherzig und unfähig“, so indes Orbans Kabinettschef Janos Lazar: Bis zur Abstimmung werde die Regierung ihre „Informationskampagne“ verstärken und den sogenannten „Einwandernotstand“ verlängern. Tatsächlich sind die zunächst bewilligten 3,1 Milliarden Forint (10 Millionen Euro) für das Propaganda-Trommelfeuer gegen die missliebigen Flüchtlinge bereits aufgebraucht – und hat die Regierung weitere 800 Millionen Forint für den Stimmenstreit bereitgestellt. Obwohl die Mehrheit der Ungarn die rigide Flüchtlingspolitik der Regierung unterstützt, scheint sich vielen der Sinn des von Budapest inszenierten Referendumsspektakels nur bedingt zu erschließen. Bei einer Ende August durchgeführten Umfrage des Zavech-Instituts erklärten zwar 53 Prozent der Befragten, an dem Volksentscheid teilnehmen zu wollen, doch nur 41 Prozent waren sich dessen sicher. Doch Budapest erhofft sich ein klares Referendumssignal – und verstärkt darum noch einmal die düsteren Propaganda-Bemühungen. „Hätten Sie’s gewusst?“, fragen die im ganzen Land gekleisterten Plakate: „Es waren Einwanderer, die die Anschläge von Paris begingen.“ Grenzkontrollen werden verschärft Die nicht nur rhetorische Hetze gegen die wenigen noch durch den Stacheldraht gelangenden Transitflüchtlinge wird mit der Ankündigung des Baus eines weiteren Zauns zu Serbien und der Anstellung von 3.000 zusätzlichen „Grenzjägern“ flankiert. Dem „Amoklauf“ Brüssels müsse ein Ende gesetzt worden, so Orban in einem an alle Auslandsungarn versandten Schreiben: „Die Zukunft unserer Kinder, unserer Kultur und unserer Sicherheit ist in Gefahr.“ EU will nicht auf Ungarn verzichten Von unserem Korrespondenten Eric Bonse, Straßburg Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn fordert den Ausschluss aus der Union – und erntet Unverständnis. Warum eigentlich? War es ein unkontrollierter Wutanfall? Oder eine gezielte Provokation – einen Tag vor der groß angekündigten Rede zur „Lage der Union“, die Kommissionschef Jean-Claude Juncker heute in Straßburg hält? Fest steht, dass Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn die fein ziselierte Tagesordnung der EU kräftig durcheinandergewirbelt hat. Der Sozialdemokrat aus Luxemburg hat sich über alle Denkverbote hinweg gesetzt und den Rauswurf Ungarns ins Spiel gebracht. „Wer wie Ungarn Zäune gegen Kriegsflüchtlinge baut oder wer die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz verletzt, der sollte vorübergehend oder notfalls für immer aus der EU ausgeschlossen werden“, sagte Asselborn der Welt. Das kam unerwartet. Schließlich war es längst ruhig geworden um das Land, das von Viktor Orban zum Schutzwall der Schengen-Zone gegen Flüchtlinge ausgebaut wird. Seit die deutsche Kanzlerin Angela Merkel vor einem Jahr die Grenzen für Flüchtlinge aus Budapest öffnete, hatte sich ein neuer, unausgesprochener Konsens gebildet: Was Orban da macht, ist nicht schön, aber es hilft gegen die Krise. Vor allem die Osteuropäer, aber auch Österreich und sogar die bayerische CSU gaben Orban Rückendeckung beim Bau der neuen Mauer durch Südosteuropa. Und nun das: „Ungarn ist nicht mehr weit weg vom Schießbefehl gegen Flüchtlinge“, schimpfte Asselborn. „Hier werden Menschen, die vor dem Krieg fliehen, fast schlimmer behandelt als wilde Tiere.“ Die Europaabgeordneten trauten ihren Ohren nicht. Nachdem sie sich vom ersten Schock erholt hatten, reagierten sie empört, und zwar auch im Orbankritischen linken Lager. „Es hilft nichts Wollen Sie zulassen, dass die EU bestimmen darf, dass nicht-ungarische Bürger in Ungarn ohne Zustimmung des Parlaments angesiedelt werden? Wortlaut der von Budapest zur Schicksalsfrage erklärten Referendumsfrage zu sagen, wir schmeißen Ungarn raus“, sagte Rebecca Harms, die Fraktionsvorsitzende der Grünen. „Mit beleidigten Reaktionen kommen wir nicht weiter“, betonte Gabi Zimmer von der Linken. Natürlich sei der Mauerbau ein „riesiges Problem“, so Harms. Aber mit Zwang werde man bei Orban nichts erreichen. „Die richtige Antwort ist die gemeinsame Verantwortung für ein rechtsstaatliches Grenz-Management“, forderte die Grünen-Politikerin. „Bisher werden noch nicht einmal die vorhandenen rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft“, klagte Zimmer. Tatsächlich weigert sich der Ministerrat seit Jahren beharrlich, gegen die ungarischen Verstöße gegen EU-Recht vorzugehen. Ein Ausschluss-Verfahren gilt als völlig chancenlos. Denn dem müssten alle anderen 27 EU-Staaten zustimmen – ein einziges Veto, etwa aus dem rechtskonservativ regierten Polen, reicht, um Ungarn vor dem Rauswurf zu retten. Kaum Unterstützung für Asselborns Aussagen Zudem steckt der EU noch der BrexitSchock in den Knochen. Nach dem britischen Nein zu Europa möchte der Club nicht noch weitere Mitglieder verlieren. Entsprechend negativ fielen die Reaktionen in den Hauptstädten der Union aus. Nicht nur Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier – ein guter Freund Asselborns – distanzierte sich von der „nicht abgestimmten Haltung“. Auch der lettische Außenminister Edgars Rinkevics protestierte: „Diese Politik im Megafon-Stil hilft nicht.“ Und Österreich verteidigte den schwierigen Nachbarn: „Die Ungarn machen eine vernünftige Aufgabe, denn sie sichern die Schengen-Außengrenze“, sagte Außen-Staatssekretär Harald Mahrer in Wien. Hat Asselborn also nur eine „unsinnige Gespensterdiskussion“ losgetreten, wie Manfred Weber, Chef der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament, behauptet? Nicht ganz. Denn zum einen macht man sich auch in Brüssel und Straßburg Sorgen um Orban. Schließlich baut der nicht nur seine Grenze massiv aus. Am 2. Oktober will er sich in einem Referendum zudem Rückendeckung für seinen Kampf gegen die EU-Flüchtlingspolitik holen. Damit holt er zum womöglich entscheidenden Schlag gegen die – ohnehin stockende – Umverteilung der Migranten aus. Zum anderen legt Asselborn den Finger in eine offene Wunde: „Die EU kann scheitern“, sagte er in seinem skandalumwitterten Interview. „Typen wie Orban“ hätten der EU eingebrockt, dass sie nun wie eine Union dastehe, die ihre eigenen Werte nicht mehr verteidigen könne. Offenbar geht es ihm nicht nur um Ungarn, sondern auch um Polen oder den Beitrittskandidaten Türkei. Seit Beginn der Flüchtlingskrise setzen sich einige Länder immer unverschämter über europäische Grundwerte hinweg. Wird Kommissionschef Juncker daran etwas ändern? Wird er seine Grundsatzrede heute nutzen, um gemeinsame Werte zu beschwören – und endlich auch durchzusetzen? Asselborn hat immerhin erreicht, dass diese Fragen wieder diskutiert werden. Persönlich erstellt für: asbl asti 2 Tageblatt
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