THOMAS KRALINSKI | IM OSTEN WAS NEUES? IM OSTEN WAS NEUES? Wie sich die Parteiensysteme im östlichen Mitteleuropa verändert haben — Von Thomas Kralinski D ie Wende des Jahres 1989 in Mitteleuropa begann mit einem großen bunten Stift. Den hatte Lech Wałęsa von seiner Enkelin geschenkt bekommen – und mit ihm unterzeichnete er im April 1989 die am Runden Tisch ausgehandelte Vereinbarung zwischen Solidarność und der polnischen Regierung. Neben der Wiederzulassung der unabhängigen Gewerkschaft sah sie vor allem „halbfreie“ Wahlen vor – halbfrei deshalb, weil 65 Prozent der Sitze im Sejm nach einem festen Proporz verteilt wurden, lediglich der Senat wurde komplett „frei“ gewählt. Die Polen stellten sich mit der Vereinbarung an die Spitze der Demokratiebewegung im östlichen Mitteleuropa. Die Wahlen vom Juni 1989 wurden zu einem Triumpf der Solidarność, im August kam mit Tadeusz Mazowiecki der erste nicht-kommunistische Regierungschef ins Amt. Seitdem ist ein Vierteljahrhundert vergangenen. Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei sind seit zehn Jahren Mitglied der EU, seit 15 Jahren Mitglied der NATO. Wie steht es heute um die politische Stabilität in diesen vier Kern- ländern Mittelosteuropas? Haben sich die Parteiensysteme stabilisiert? Und welche Rolle spielt die Sozialdemokratie? 1. Polen Polen war der Schrittmacher der Friedlichen Revolution des Jahres 1989. Unter dem kommunistischen Regime kam es wiederholt zu Aufständen im Land. 1981 wusste sich die polnische Führung nur noch mit dem Kriegsrecht zu helfen, um die Macht an die immer mächtiger werdende Gewerkschaftsbewegung Solidarność nicht zu verlieren. Doch die zunehmenden ökonomischen Schwierigkeiten und die in der polnischen Gesellschaft immer tiefer verankerte Solidarność zwangen die Kommunisten schließlich 1989 an den Runden Tisch. Die neue polnische Regierung unter Tadeusz Mazowiecki begann im Sommer 1989 mit einer wirtschaftspolitischen Schocktherapie, die die ökonomische Lage der Menschen zunächst verschlechterte und auch zur Instabilität der Regierung beitrug. So kam es 1991 und 1993 zu vorgezogenen Parlamentswahlen. Die perspektive21 65 SCHWERPUNKT | 25 JAHRE FREIHEIT Wahlergebnisse der wichtigsten Parteien in Polen 1991-2011 in Prozent 1991 1993 1997 2001 2005 2007 2011 12 20 27 41 11 13 8 PiS (nationalkonservativ) 10 27 32 30 PO (bürgerlich-liberal) 13 24 42 39 7 9 7 9 8 34 6 SLD (sozialdemokratisch) PSL (Bauernpartei) 9 15 AWS (Wahlaktion Solidarność) DU (Demokratische Union) 12 11 (Regierungsparteien sind fett gedruckt, auf die Darstellung einiger zwischenzeitlich agierender kleinerer Parteien wurde verzichtet.) aufgewühlte gesellschaftliche Situation spiegelte sich auch in der hohen Zahl an Parteien, die ins Parlament kamen, und der Kurzlebigkeit der Regierungen. 1993 gewann die polnische Linke, als Nachfolgeorganisation der Kommunisten, die Wahlen und formte mit der ehemaligen Blockpartei PSL (Bauernpartei) eine Regierung – doch auch diese verschliss drei Premierminister innerhalb von vier Jahren. Bei den Wahlen 1997 gewannen erneut die Nachfolgeparteien der Solidarność, doch auch diese Regierung verlor im Laufe der Wahlperiode ihre Parlamentsmehrheit. Immerhin gelang es Jerzy Buzek als erstem Premier nach der Wende die volle Wahlperiode im Amt zu bleiben. Bei den Wahlen 2001 schwang das politische Pendel erneut zurück zu den Linken, die erneut eine Regierung mit der Bauernpartei bildete. Gleichzeitig verschwanden die wichtigsten Parteien der Buzek-Regierung komplett aus dem Sejm. 66 September 2014 | Heft 61 Die Wahl 2001 markiert insofern eine Zeitenwende, da mit ihr eine Neuformation des polnischen Parteiensystems eingeleitet wird. Die bürgerliche PO (Bürgerplattforum) und die rechts-nationalistische PiS (Wahrheit und Gerechtigkeit) kamen erstmals ins Parlament, die Nachfolgeparteien der Solidarność flogen hingegen aus dem Sejm. Vier Jahre später, bei den Wahlen von 2005 erleidet die Linke eine fast ähnlich vernichtende Niederlage wie die Regierung Buzek vier Jahre zuvor: Die SLD stürzt von 41 auf 11 Prozent. Die von den Kaczyński-Zwillingen gesteuerte PiS bildet eine neue Regierung mit Hilfe zweier kleinerer populistischer Parteien. Jedoch auch diese Regierung ist von innerer Instabilität gekennzeichnet, so dass es 2007 erneut zu vorgezogenen Wahlen kommt. Diese gewinnt die bürgerliche PO, deren Chef Donald Tusk zusammen mit der Bauernpartei eine Regierung bildet. THOMAS KRALINSKI | IM OSTEN WAS NEUES? Damit ist die Neuformation des polnischen Parteiensystems (vorerst) abgeschlossen. Es ist gekennzeichnet durch zwei starke konservative Parteien: die bürgerlich-liberal orientierte PO und die sozialkonservativ-nationalistische PiS. Die Linke hingegen ist elektoral marginalisiert und erreicht seit 2005 nur noch um die zehn Prozent der Wähler. Einzige Konstante des polnischen Parteienspektrums ist die Bauernpartei, die seit der Wende als Koalitionspartei sowohl der Linken als auch den Bürgerlichen zur Verfügung stand und einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Offenheit der bäuerlichen Wählerschaft für die europäische Integration geleistet hat. Verschobene Konfliktlinien Insgesamt haben sich die Konfliktlinien in der politischen Landschaft Polens erheblich verschoben. Während im ersten Jahrzehnt die Stellung der Parteien zum Systemwechsel eine erhebliche Rolle spielte, verschoben sich die Konfliktlinien erheblich zugunsten ökonomischer und lebenskultureller Themen. Dabei fällt das deutlich unterschiedliche Wahlverhalten zwischen Stadt und Land auf: Auf dem Land und im Osten Polens dominiert die PiS, in den Städten und im Westen die PO. Eine wesentliche Rolle in der politischen Auseinandersetzung spielen seit Jahren Fragen von Korruption und Amtsmissbrauch. Diese The- men haben nicht unerheblich zur Wahlniederlage der Regierungen 1997, 2001, 2005 und 2007 beigetragen. Bis heute sind diese Fragen – mit ebenfalls immer wieder auftauchenden Abhörskandalen – eine Konstante der polnischen Politik. Zum ersten Mal wieder gewählt Insgesamt hat sich das polnische Parteienspektrum erheblich konsolidiert. Noch 1991 kamen 29 Parteien ins Parlament. 1993 blieb – nach Etablierung einer landesweiten Sperrklausel – sogar ein Drittel der Wählerstimmen bei der Sitzverteilung im Sejm unberücksichtigt, weil so viele Parteien an der 5 Prozent-Hürde scheiterten. Mittlerweile dominieren PO und PiS das Parteiensystem. 2011 wurde mit Donald Tusk zum ersten Mal nach der Wende eine Regierung im Amt bestätigt. Offen ist, ob es der PO gelingt, nach dem Wechsel von Tusk in das Amt des Präsidenten des Europäischen Rates, ihre dominierende Rolle im Parteiensystem zu halten. 2. Tschechien Die Tschechoslowakei war im Wendeherbst 1989 ein „Nachzügler“, dafür ging der Machwechsel von den Kommunisten zur Opposition umso schneller und das wichtigste Symbol der Bürgerrechtsbewegung, Václav Havel, zog bereits Ende 1989 als neuer Präsident auf die Prager Burg. Noch inmitten der ökonomischen perspektive21 67 SCHWERPUNKT | 25 JAHRE FREIHEIT Wahlergebnisse der wichtigsten Parteien in Tschechien 1992-2013 in Prozent 1992 1996 1998 2002 2006 2010 30 30 27 25 35 20 8 7 26 32 30 32 22 21 14 10 11 19 13 11 15 6 8 9 14 7 4 7 17 12 ODS (konservativ) ČSSD (sozialdemokratisch) KPČM (kommunistisch) KDU-ČSL (christdemokratisch) TOP 09 (Schwarzenberg) ANO 2011 2013 19 (Regierungsparteien sind fett gedruckt, auf die Darstellung einiger zwischenzeitlich agierender kleinerer Parteien wurde verzichtet.) Reformen führten die zweiten freien Parlamentswahlen 1992 zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen in der tschechischen und slowakischen Teilrepublik und damit letztlich zur Trennung von Tschechen und Slowaken. Das in Tschechien gültige Verhältniswahlrecht begünstigte die Entstehung einer Vielzahl von Parteien. In dessen Zentrum standen spätestens mit den Wahlen von 1996 zwei Parteien: die liberal-konservative ODS und die sozialdemokratische ČSSD. Letztere ist als einzige (erfolgreiche) Sozialdemokratie Osteuropas eine Neugründung. Die Nachfolger der Kommunisten verfolgen – auch eine Besonderheit im östlichen Mitteleuropa – bis heute ihren orthodoxen Kurs. Damit hat sich in Tschechien schnell ein politisches Links-rechts-Schema gebildet. Auf der linken Seite des Spektrums weist es mit den Kommunisten jedoch einen Defekt auf, da diese zumindest auf der Ebene 68 September 2014 | Heft 61 des Gesamtstaates bisher nicht regierungstaugliche Positionen vertreten. Insgesamt zeigt das Parteiensystem ein instabil-stabiles Muster: Zum einen gibt es die meisten der bereits 1992 existenten Parteien noch heute, gleichwohl schwanken deren Wahlergebnisse zum Teil recht erheblich. Die Stabilität ist verschwunden In den gut 20 Jahren der Unabhängigkeit haben nur zwei Regierungen die volle Amtsperiode „durchgehalten“. Neben der ersten Regierung Klaus (ODS, von 1992 bis 1996) war dies die sozialdemokratische Regierung von Miloš Zeman, der von 1998 bis 2002 mit einem Minderheitskabinett regierte. Seither hat keine Regierung mehr über volle vier Jahr amtiert. Auch hat die Konzentration des Parteiensystems eher nachgelassen. Das ist eine Folge nicht abreißender Korrup- THOMAS KRALINSKI | IM OSTEN WAS NEUES? tionsskandale, die sowohl die Sozialdemokraten als auch die konservative ODS – aber auch andere Parteien – immer wieder erschüttern. So haben die Wahlen seit 2006 nur instabile Mehrheiten hervorgebracht und zum schnellen Aufstieg und schnellen Abstieg verschiedener Parteien geführt. Besonders bemerkenswert sind dabei zwei Parteien: die TOP 09 des damaligen Außenministers Karel Schwarzenberg sowie ANO 2011 des nunmehrigen Finanzministers Andrej Babiš. Der Erfolg beider Parteien gründet auf dem hohen Ansehen ihrer jeweiligen Anführer und dem Vertrauen, dass sie aufgrund ihres Quereinstiegs und ihrer finanziellen Unabhängigkeit wenig korruptionsanfällig sind. Babiš hat als erfolgreicher Unternehmer gleichzeitig die Kontrolle über mehrere Tageszeitungen, Fernsehkanäle und Druckereien erlangt – was zu bedenklichen Verschränkungen medialer und politischer Macht führt. Eine der zentralen Konfliktlinien im Parteiensystem spannt sich somit auch in Tschechien entlang von Amtsmissbrauch und Korruption. Anti-Korruptionsparteien erhielten bei den jüngsten Wahlen großen Zulauf, konnten aber genauso schnell auch wieder verschwinden. Gleichzeitig ist die Wahlbeteiligung in den vergangenen zwei Jahrzehnten von gut 75 Prozent auf um die 60 Prozent zurückgegangen. Die erhebliche Unzu- friedenheit der Tschechen mit ihrer politischen Klasse hat mittlerweile dazu geführt, dass seit 2010 keine Partei mehr als 25 Prozent der Wähler hinter sich vereinigen kann. Während die beiden großen Parteien ODS und ČSSD 2006 noch über zwei Drittel der Wähler binden konnten, sind es nunmehr nicht mal mehr 30 Prozent. So hat nach einer anfänglichen Konsolidierung des Parteiensystems in den neunziger Jahren eine erneute Destabilisierung eingesetzt, auch das klassische Rechts-links-Schema ist in Auflösung geraten. 3. Slowakei Die Slowakei hat in Europa eine der erstaunlichsten Wandlungen in den vergangenen zwei Jahrzehnten hinter sich gebracht. Nach der staatlichen Unabhängigkeit 1993 steuerte sie zunächst einen wirtschaftspolitisch isolationistischen Kurs verbunden mit einer Regierung, die zum Autokratismus neigte und der EU sehr reserviert gegenüberstand (was gleichwohl auf Gegenseitigkeit beruhte). Nach dem Regierungswechsel 1998 wurde die Slowakei zum Musterschüler, der als eines der ersten osteuropäischen Beitrittsländer 2009 den Euro einführte. In ökonomischer Hinsicht entwickelte sie sich zum „Autobauer“ Europas, in politischer Hinsicht entstand ein Parteiensystem, das sich zumindest vordergründig gut auf der Rechts-links-Skala perspektive21 69 SCHWERPUNKT | 25 JAHRE FREIHEIT Wahlergebnisse der wichtigsten Parteien in der Slowakei 1992-2012 in Prozent 1992 1994 1998 2002 2006 2010 HZDS (Unabhängigkeitspartei) 37 35 27 20 9 4 SDL (ex-kommunistisch) 15 10 15 14 29 35 44 (mit KDH) 26 15 18 15 6 SMER (sozialdemokratisch) SDK/SDKU (christdemokratisch) 2012 SNS (rechtspopulistisch) 8 5 9 3 12 5 5 SMK-MKP (ungarische Minderheit) 8 10 9 11 12 4 4 8 7 9 10 (mit SDK) 8 8 9 9 12 6 Most-Hid (ungarische Minderheit) KDH (konservativ-christlich) SaS (liberal) (mit SDK) (Regierungsparteien sind fett gedruckt, auf die Darstellung einiger zwischenzeitlich agierender kleinerer Parteien wurde verzichtet.) einordnen lässt. Gleichwohl haben auch hier die Parteien verschiedene Häutungen und Wandlungen durchlebt. Zu Beginn wurde die Parteienlandschaft durch die HZDS von Vladimir Mečiar dominiert, der die Slowakei in die nationale Unabhängigkeit führte. Zwar verlor er 1998 das Premiersamt, seine Partei blieb bis 2006 aber stimmenstärkste Partei. 2010 scheiterte sie jedoch an der 5 Prozent-Hürde, 2014 löste sich die Partei auf. Die linke Seite des Parteienspektrums tat sich in der Slowakei zunächst schwer, die ehemaligen Kommunisten häuteten sich mehrfach, bis es 1999 zur Abspaltung der sozialdemokratischen SMER von der post-kommunistischen SDL kam. SMER hat seit 2002 bei jeder Wahl an Zuspruch gewonnen und hält seit 2012 sogar eine absolute Mehrheit 70 September 2014 | Heft 61 der Mandate in der Nationalversammlung – ein Novum in der slowakischen Demokratie. Die beiden SMER-Regierungen (2006-2010 sowie seit 2012) haben der Slowakei ein hohes Maß an politischer Stabilität gebracht. Inhaltlich verfolgt ihr Vorsitzender Robert Fico einen traditionell-sozialdemokratischen Kurs gepaart mit einem Hang zum Populismus. Sozialdemokraten dominieren Neben der das Parteienspektrum dominierenden SMER sind seit 2012 noch vier Parteien im Parlament vertreten, von denen jedoch keine mehr als 10 Prozent der Stimmen auf sich vereinen kann. Die zwischen 1998 und 2006 recht erfolgreich regierende liberal-konservative THOMAS KRALINSKI | IM OSTEN WAS NEUES? Koalition aus drei bzw. vier Parteien ist mittlerweile implodiert. Deren stärkste Kraft, die Christdemokraten, haben ihren Wähleranteil von 1998 bis 2012 von 26 auf 6 Prozent reduziert. Wesentlicher Grund dafür waren auch hier interne Machtgerangel und ausufernde Korruptionsvorwürfe. Die erneute konservative Regierung von 2010 bis 2012, die im Prinzip eine Anti-SMER-Regierung aus vier Parteien war, scheiterte an inneren Widersprüchen über den Euro-Rettungsschirm und verlor den Rest ihres Ansehens durch Vorwürfe von Amtsmissbrauch und Korruption. So hat sich das slowakische Parteiensystem von einem autokratischen 1+x-Modell zu einem pluralistischen 1+x-Modell gewandelt bei dem eine Hauptkonfliktlinie entlang des Gegensatzes zwischen Markt und Staat verläuft. Die seit 1998 geltende 5 ProzentHürde hat ebenfalls zur Konzentration des Parteiensystems beigetragen und weitere Fragmentierung durch die bis dahin häufigen Abspaltungen begrenzt. Jedoch ist auch die vordergründig derzeit dominante SMER nicht vor Abstrafungen gefeiht. Ihr Präsidentschaftskandidat, Premier Fico, erreichte im Frühjahr 2014 gerade ein Viertel der Stimmen. Gewonnen hat die Wahl Andrej Kiska, ein Unternehmer und Philantrop, dessen wichtigsten Themen Korruption und Justizversagen sind. Bei allen Häutungen, die das slowakische Parteiensystem in den vergangenen 20 Jahren durchlebte, gibt es jedoch zwei Konstanten, die in den ersten Jahren des neuen Staates nicht selbstverständlich waren. Mittlerweile besteht breiter Konsens über die EU-Integration und die Währungsunion und auch darüber, dass die ungarische Minderheit in der Slowakei nicht zum Spielball nationalistischer Politik – gerade im nicht immer ganz spannungsfreien – Verhältnis zum Nachbarland Ungarn wird. 4. Ungarn Vor 1989 galt Ungarn als die „fröhlichste Baracke im Ostblock“. Nach der Niederschlagung des Volksaufstandes von 1956 mit Hilfe der Roten Armee versuchte die Kommunistische Partei die Zustimmung der Bevölkerung mit einer vergleichsweise liberalen Politik zu erhalten. So kam die Revolution von 1989 in Ungarn auch eher als „Refolution“ (Timothy Garton Ash) daher, denn die Kommunisten begannen selbst sehr frühzeitig mit einer Reihe von wirtschafts- und zunehmend auch gesellschaftspolitischen Reformen. So wurden in Ungarn am schnellsten neue Parteien zugelassen, was die Kommunistische Partei auch dazu zwang, sich am konsequentesten in eine sozialdemokratische Partei umzuwandeln. Parallel dazu entstanden in den achtziger Jahren viele neue politische Gruppierungen, aus denen die Parteien wie das Demokratische Forum (MDF), die perspektive21 71 SCHWERPUNKT | 25 JAHRE FREIHEIT Wahlergebnisse der wichtigsten Parteien in Ungarn 1990-2014 in Prozent 1990 1994 1998 2002 2006 2010 2014 11 33 33 42 43 19 26 9 7 30 41 42 53 44 SZDS (linksliberal) 21 20 8 6 7 3 MDF (christdemokratisch) 25 12 3 5 3 FKGP (Landwirte) 12 9 14 MSZP (sozialdemokratisch) FIDESZ (nationalkonservativ) Jobbik (rechtsextrem) LMP (grünliberal) 1 17 21 8 5 (Regierungsparteien sind fett gedruckt, auf die Darstellung einiger zwischenzeitlich agierender kleinerer Parteien wurde verzichtet.) liberale SZDSZ und die „Jungdemokraten“ (FIDESZ) entstanden. Im September 1989 verabredeten die Kommunisten und die Opposition am Runden Tisch Verfassungsreformen und freie Wahlen. Der letzte Parteitag der Kommunistischen Partei fand bereits im Oktober 1989 statt, dort erfolgte dann auch die Spaltung in die sozialdemokratisch orientierte MSZP und die Gruppe der orthodoxen Reformablehner, die schnell in der politischen Versenkung verschwanden. Einen Monat später fand ein für die ungarische Transformation entscheidendes Referendum statt. Die radikal-liberalen Gruppen der Opposition setzten dabei durch, dass der zukünftige ungarische Staatspräsident nicht direkt vom Volk sondern vom Parlament gewählt wird. In der Konsequenz führte das zu einer Schwächung der Reformkommunisten, die sich be- 72 September 2014 | Heft 61 rechtigte Hoffnung auf einen Sieg bei direkten Präsidentschaftswahlen machen konnten. Stattdessen gewann die bürgerliche Opposition im Frühjahr 1990 die Parlamentswahlen, der liberal-oppositionelle Árpád Göncz wurde zum Präsidenten gewählt. Ideologische Widersprüche Die wirtschaftliche Transformation kam in Ungarn vergleichsweise schleppend voran. Die bürgerliche Regierung von József Antall (1990-1993) zerrieb sich an ideologischen Widersprüchen zwischen moderaten Kräften und anti-westlichen, nationalistischen und anti-liberalen Positionen. Die beiden Regierungsperioden der Sozialisten (1994-1998 sowie 20022010) waren von harten Wirtschaftsreformen gekennzeichnet. Problematisch für die MSZP war dabei, dass sie in Tei- THOMAS KRALINSKI | IM OSTEN WAS NEUES? len in hartem Gegensatz zu ihrer Programmatik und Wahlkampfrhetorik stand, die letztlich zum Niedergang der Partei ab 2006 führte. Eine stabile Demokratie? Vordergründig ist das ungarische Parteiensystem von einer erstaunlichen Stabilität gekennzeichnet. Heute ist Ungarn das einzige Land im östlichen Mitteleuropa, in dem sich zwei Parteien gegenüberstehen, die bereits 1989/1990 die politische Agenda bestimmten: die derzeitige Regierungspartei FIDESZ und die MSZP. Gleichzeitig verfügt Ungarn heute über eines der am schärfsten konturierten Parteiensysteme Europas. Das hat zu einem zweipoligen Parteiensystem geführt, in dem kleinere Parteien entweder unter die Räder gekommen sind (wie die Linksliberalen) oder von größeren aufgesaugt wurden (wie das konservative MDF und die „KleineLandwirte-Partei“ durch die FIDESZ). Die für die Transformationsstaaten außergewöhnlich hohe Stabilität zeigt sich in zwei weiteren Punkten. Zum einen endete seit 1990 jede Wahlperiode des Parlaments regulär nach vier Jahren, zu vorzeitigen Neuwahlen kam es bisher nicht. Und zweitens hat der Grad der Wechselwähler, in den neunziger Jahren noch sehr hoch, erheblich abgenommen. So ist es 2006 einer (sozialliberalen) Regierung zum ersten Mal gelungen wiedergewählt zu werden, 2014 gelang dies auch der konservativnationalistischen Regierung. Ist Ungarn also auf dem Weg zu einer stabilisierten Demokratie? Nach den Verfassungsreformen der Wendezeit verfügte das Parlament zunächst über eine starke Stellung im politischen System. Die erste FIDESZ-Regierung (1998-2002) begann diese Position einzuschränken, die zweite FIDESZ-Regierung (seit 2010) schwächte dann auch die Position von Staatspräsident, Verfassungsgericht und Medien. Illiberale Werte auf dem Vormarsch Der amtierende ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán – bereits seit 1989 im politischen Geschäft – hat in den vergangenen 25 Jahren die erstaunlichste Wende osteuropäischer Politiker vollzogen. Orbán wandelte sich vom „Jungliberalen“ und Anti-Kommunisten zu einem autoritär-nationalistischen Politiker, der erst im Sommer 2014 verkündete, Ungarn müsse sich an Gesellschaften orientieren, die „nicht westlich, nicht liberal, und keine liberalen Demokratien, vielleicht nicht einmal Demokratien sind.“ Sein Ziel sei es, den Liberalismus in Ungarn zu beseitigen und einen „illiberalen Staat“ nach einem „eigenen, nationalen Denkansatz“ zu errichten. Hinzu kommt eine zunehmend nationalistisch orientierte Politik, perspektive21 73 SCHWERPUNKT | 25 JAHRE FREIHEIT die dazu beiträgt, Unruhe in Ungarns Nachbarländern zu stiften, in denen beträchtliche ungarische Minderheiten leben. Eine Herausforderung für die EU Vergleichbare Wandlungen eines – immer noch in der europäischen Christdemokratie organisierten – Regierungschefs hat es in der EU noch nicht gegeben. Die Art und Weise, wie Orbáns Regierung Medien kontrolliert oder den gesamten Staatsapparat als auch die Justiz unter Kontrolle brachte, stellt eine enorme Herausforderung für den Wertekanon Europas dar. Orban profitiert dabei von einem Wahlsystem, das große Parteien bevorzugt (und stets stabile politische Mehrheiten produziert hat), und einer schwachen Opposition, die wie die MSZP noch unter dem Eindruck ihrer verheerenden letzten Regierungsperiode leidet. Die Konfliktlinien in der ungarischen Politik haben sich dabei in den vergangenen zwei Jahrzehnten erheblich verschoben. Zunächst stand die Stellung zum alten System im Vordergrund, später das Verhältnis von Markt und Staat. Zunehmend in den Vordergrund schiebt sich jedoch eine Konfliktlinie, die zwischen liberal-westlichen und antiliberalnationalistischen Werten verläuft. Dies ist eine für die EU bisher einmalige Entwicklung. 74 September 2014 | Heft 61 5. Neues im Osten? Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei sind die Kernländer der EU-Osterweiterung; alle vier Länder haben in den vergangenen gut zwei Jahrzehnten eine enorme Transformation hinter sich gebracht. Allen gemeinsam war die dreifache Transformation von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regimes. In Tschechien und der Slowakei kam 1992/93 die Etablierung der neuen eigenen Staatlichkeit hinzu. Im Vorfeld des EU-Beitritts 2004 mussten erneut hohe Anpassungsleistungen erbracht werden. Dies führte in allen Ländern zu tiefgreifenden sozial-ökonomischen Veränderungen mit erheblichen Konflikten, die sich auch im politischen System niederschlugen und hier zweifellos lediglich überblickartig betrachtet wurden. Das Ansehen der Parteien ist gering Grundsätzlich verfügen alle vier Länder über funktionierende Parlamente, Regierungen und Verwaltungen, eine unabhängige Justiz mit Verfassungsgerichtsbarkeit, freie Medien und eine pluralistische Parteien- und Vereinslandschaft (wobei die Entwicklungen der letzten Jahre in Ungarn diesen Befund zunehmend in Zweifel ziehen). Allerdings zeigt schon der Blick auf die Parteien, dass diese eine deutlich geringere THOMAS KRALINSKI | IM OSTEN WAS NEUES? Mehr Vertrauen in die EU Vertrauen in ... Polen Tschechien Slowakei Ungarn EU 28 die Europäische Union 41% 32% 35% 44% 31% das nationale Parlament 20% 15% 19% 33% 28% die nationale Regierung 22% 26% 20% 37% 27% Quelle: Eurobarometer 2014 Mitgliederbasis und Aktivität als beispielsweise in Deutschland haben und damit auch ihre politikvermittelnde und personalrekrutierenden Funktionen nur eingeschränkt ausüben können. Korruption dominiert die Agenda Alle vier Länder haben (zwar in unterschiedlicher Intensität) mit Korruption in Politik, Verwaltung, Justiz und Wirtschaft erhebliche Probleme. Das führt in allen Ländern insbesondere zu außerordentlich geringem Ansehen der Parteien und entsprechend gering ausgeprägtem parteipolitischem Engagement. Auffällig ist, dass in allen Ländern die Institutionen der EU höheres Vertrauen genießen als die jeweiligen nationalen Parlamente und Regierungen. Letztlich schlägt sich dies auch in den Wahlbeteiligungen der verschiedenen Länder nieder. Traditionell besonders niedrig ist die Wahlbeteiligung in Polen, was zweifellos auch mit dem historisch geringen Vertrauen in den Staat an sich zu tun hat. So nehmen in der Regel nur 40-50 Prozent der Polen an den SejmWahlen teil, wobei die verhältnismäßig hohe Beteiligung an den letzten beiden Wahlen (54 und 49 Prozent) sogar auf eine Konsolidierung des Vertrauens schließen lässt. In Tschechien und der Slowakei ist die Wahlbeteiligung kontinuierlich zurückgegangen. Sie lag in den neunziger Jahren noch bei 80 Prozent und hat sich zuletzt bei 60 Prozent eingepegelt. Einzig Ungarn verzeichnet relativ stabile Wahlbeteiligungen zwischen 60 und 70 Prozent, zuletzt allerdings auch mit sinkender Tendenz. In allen vier Ländern hat es eine deutliche Verschiebung der Konfliktlinien gegeben, die das Parteiensystem strukturieren. In der ersten Phase der Transformation zog sich die Hauptkonfliktlinie entlang der Stellung zum bisherigen kommunistischen System, mit der Folge, dass zunächst ein erheblicher Elitenwechsel stattgefunden hat. Tschechien ist das einzige Land, in dem die postkommunistischen Eliten (bisher) nicht in die Regierung zurückkehrten. perspektive21 75 SCHWERPUNKT | 25 JAHRE FREIHEIT Wahlbeteiligung 1990-2013 Polen Tschechien Slowakei Ungarn 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 Diese erste Konfliktlinie wurde abgelöst durch die „klassische“ Konfliktlinie entlang der Achse zwischen Marktliberalismus und Sozialstaatlichkeit. Das hat in Ungarn (bis 2006) und in Tschechien (bis 2006) zur Bildung von jeweils zwei Großparteien nach dem klassischen Links-rechts-Schema geführt. Mittlerweile scheint sich quer zu dieser Konfliktlinie in allen Ländern eine neue gelegt zu haben, die entlang von politischer Hygiene verläuft. Korruption und Amtsmissbrauch ist in allen Ländern zu einem beherrschenden Thema in der Politik geworden, das zu erheblicher Instabilität des Parteiensystems und dem schnellen Aufstieg von Protestparteien geführt hat. So sind mittler- 76 September 2014 | Heft 61 weile in Tschechien und Ungarn rechtsextreme Parteien im Parlament. In Polen hat die Schwäche der Sozialdemokratie zur Bildung einer links-liberalen Protestpartei geführt. In der Slowakei hat ein unabhängiger Unternehmer überraschend die Präsidentschaftswahl gewonnen, in der Tschechischen Republik ist ein schillernder Geschäftsmann mit seiner kurz zuvor gegründeten Partei zur zweitstärksten Kraft geworden. Parteiensysteme mit Schieflage Insgesamt sind die Parteiensysteme in allen Ländern – aus zugegebener weise westeuropäischer Sicht – in eine erhebliche Schieflage geraten: THOMAS KRALINSKI | IM OSTEN WAS NEUES? > In Polen gibt es derzeit zwei starke konservative Parteien und eine extrem schwache Linke. Allerdings hat dies zu einer erheblichen Stabilität des politischen Systems beigetragen. > In Ungarn hat sich die klassische Bipolarität des Parteiensystems zugunsten einer dominanten nationalkonservativen Partei aufgelöst, die sich anschickt, das gesamte politische System nach ihrem Gusto umzukrempeln und zu de-liberalisieren. > Am ehesten hat sich in der Slowakei ein „klassisches“ rechts-links-orientiertes Parteiensystem herausgebildet, wobei die linke Seite durch eine starke Sozialdemokratie dominiert ist, während sich die konservativen Parteien durch eine erhebliche Zersplitterung auszeichnen. > In Tschechien hat sich ein zunächst relativ stabiles Parteiensystem aufgelöst zu einem extrem heterogenen und volatilen Vielparteiensystem, das die Mehrheitsfindung für eine kohärente Regierung erheblich erschwert. > Auffällig sind in allen vier Ländern die vollständige Abwesenheit einer post-materialistischen Konfliktlinie und damit auch das nahezu komplette Fehlen relevanter grüner Parteien. Und wie steht es um die Sozialdemokratie? Die gute Nachricht zuerst: Die erfolgreichste europäische Sozialdemo- kratie regiert mit absoluter Mehrheit in der Slowakei. Zwar hat auch Tschechien einen sozialdemokratischen Premier, doch muss sich die einst stolze ČSSD mittlerweile mit 20 Prozent der Wählerstimmen begnügen. In Ungarn und Polen sind die Sozialdemokraten elektoral marginalisiert, ferner fehlen ihnen Partner, mit denen sie wieder an die Regierung gelangen können. Alle vier Parteien haben mit Korruptionsfällen zu kämpfen gehabt; hinzukommt, dass sie sich – abgesehen vielleicht von der slowakischen SMER – durch erhebliche programmatische Unschärfe auszeichnen. Somit fehlen den westeuropäischen Sozialdemokraten aber wichtige Anspielstellen in Mittelosteuropa, was es beispielsweise erheblich schwerer macht, ein gemeinsames europäisches Sozialstaatsmodell zu entwickeln. Vorschau auf neue Verhältnisse? Zwar sind zentrale Fragen der ökonomischen, politischen und sozialen Transformation in den vier mittelosteuropäischen Ländern beantwortet. Die daraus entstandenen Verwerfungen sind aber bis heute gesellschaftlich noch nicht verdaut. Das spiegelt sich in Parteiensystemen, die nach wie vor fluide sind, und politischen Strukturen wider, die – wie beispielsweise im Falle Ungarns – nicht frei sind von illiberalen Angriffen. perspektive21 77 SCHWERPUNKT | 25 JAHRE FREIHEIT Nun sind die inneren Verhältnisse eines Landes in Zeiten enger europäischer Kooperation von hoher Relevanz auch für die Partnerländer. So ist fraglich, wie die ideelle und personelle Aufstellung der politischen Parteien von außen befördert werden kann ohne in Bevormundung umzuschlagen. Beunruhigend ist jedoch am Ende die Frage, ob die Entwicklungen im östlichen Europa nicht sogar eher eine Vorschau auf die auch im südlichen und westlichen Europa in Bewegung geratenen politischen Verhältnisse und Parteiensysteme sind.| THOMAS KRALINSKI ist Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion Brandenburg und Chefredakteur der Zeitschrift Perspektive 21. 78 September 2014 | Heft 61
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