Wer oder was sind die Ostdeutschen

Wer oder was sind die
Ostdeutschen?
Kulturwissenschaftliche Überlegungen zu ihrem
ethnischen Status
von Frank Thomas Koch, Berlin
26.01.2011
Programm: vom Einzelfall zum Weltganzen
• Der Ossi-Fall vor dem
Arbeitsgericht Stuttgart
• Das Urteil 2010
• Kritische Revue der
Argumente des Gerichts
• Besonderheiten der
Ostdeutschen und ihre
Perspektiven
(Ethnosgenese?)
2
Zur Vita von Frau S.
•
•
•
•
Ursprünglich Ostberlinerin: Ausreiseantrag 1986
1988 Ausreise, lebt seitdem im Raum Stuttgart
Heute (2011) 50 Jahre alt,
Versteht, fühlt sich nach 22 (!) Jahren im tiefsten
Westen als „Ossa“/ „Ossi“
• 2009 Bewerbung bei Fensterbaufirma in Stuttgart
um Stelle als Buchhalterin
• Absage (handschriftlicher Eintrag der Firma in
Bewerbung von Frau S. : „Minus-Ossi“)
3
Aktionen von Frau S.
• Frau S. fühlt sich als Ostdeutsche durch die
Absage diskriminiert
• Sie versteht sich selbst als Ossi, ein Minus-Ossi
wolle sie aber nicht sein
• Ihr Anwalt verklagt Fensterbaufirma vor dem
Arbeitsgericht auf Entschädigung wegen Verstoßes gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz:
• §1 AGG lautet: „Ziel des Gesetzes ist es, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen
der ethnischen Herkunft… zu verhindern oder zu
beseitigen.“
4
Einordnung der Empfindung von Frau
S. in die soziale Landschaft
• Frau S. fühlt sich in der Arbeitswelt als
Ostdeutsche diskriminiert.
• Ist das eine einsame, bizarre subjektive
Meinung einer vereinzelten Einzelnen oder
wird die unterstellte Diskriminierung von
vielen Menschen in Ost und West geteilt?
5
Werden Ostdeutsche im Berufsleben (Arbeitssuche, Karriere) in der Bundesrepublik
von heute benachteiligt? Antworten in Prozent
19
Ossis werden
nicht benachteigt
21
Bundesgebiet Ost;
12
39
Ossis werden im
Berufsleben
benachteiligt
36
Bundesgebiet Ost;
56
0
10
20
30
40
50
60
in Prozent der Befragten
Bundesgebiet Ost
Bundesgebiet West
N=1008, Inst. für Marktforschung Leipzig Juno 2010 i.A. LVZ
D-Gesamt
6
Das Problem des Gerichts
• Klage nach AGG - absolutes Neuland mit Blick
auf Ostdeutsche bundesweit
• Kontext: im Jahr 20 der Einheit
• Zu klären war in der Sache, ob Ostdt. eine
eigenständige Ethnie sind oder nicht
• Arbeitsrechtler bezogen im Vorfeld
gegensätzliche Positionen
• Fall in allen Medien von Aachen bis Frankfurt
(Oder)
7
Das Urteil des Arbeitsgerichtes
Stuttgart
•
•
•
•
Ostdeutsche kein Ethnos im Sinne AGG
Abweis der Klage
Revision zugelassen
(im Herbst 2010: außergerichtlicher Vergleich
zwischen Klägerin und beklagter Firma)
8
Argumente des Arbeitsgerichts Stuttgart
• (1) Die Bezeichnung „Ossi“ könne zwar diskriminierend
gemeint sein oder/und so empfunden werden. Sie erfülle indes
nicht das Merkmal der ethnischen Herkunft im Sinne des AGG.
• (2) Mit dem Begriff „Ethnie“ werden Populationen
beschrieben, die durch ihre Herkunft, ihre Geschichte, ihre
Kultur, durch ihre Verbindungen zu einem spezifischen
Territorium und durch ein geteiltes Gefühl der Solidarität
verbunden sind. Die Bezeichnung „Ossi“ werde nicht dem
Begriff der Ethnie als Gesamtgefüge dieser Elemente gerecht.
• (3) Die Gemeinsamkeit ethnischer Herkunft könne sich in
Tradition, Sprache, Religion, Kleidung oder in gleichartiger
Ernährung ausdrücken. Außer der Zuordnung zum ehemaligen
DDR-Territorium fehle es bei den „Ossis“ an diesen Merkmalen, zumal die DDR nur wenig mehr als eine Generation,
nämlich 40 Jahre lang, eine von der Bundesrepublik
unterschiedliche Entwicklung genommen habe.
9
Reflexion des Urteils in den Medien
• Eigenredaktionelle Beiträge: in der Regel
dummes Zeug, Zeugnisse einer bewusstlosen
Gesellschaft (Grund für meinen Artikel im DA)
•
Ernährung: Spreewaldgurken, Hallorenkugeln, Rotkäppchensekt; Kultur: FKK/ Puhdys
• Befragung von Experten, Meinungsäußerung
von Experten in den Medien wie Kaschuba,
Engler, Bierschenk
10
Expertenurteile: sind Ostdeutsche eine Ethnie?
• Wolfgang Kaschuba (Ethnologe): nein, 50
Jahre reichen nicht aus (Freie Presse)
• Wolfgang Engler (Soziologe): nein (RBB)
• Thomas Bierschenk (Ethnologe): ja (Der Stern)
11
Meine Einwände gegenüber der Argumentation des Gerichts
• Ethnosbegriff: mechanisch + antiquiert (18. Jahrh.)/
zentrale Rolle und Funktion des ethnischen Selbstbewusstseins ausgeblendet (vgl. Julian V. Bromlej 1977;
Thomas Bierschenk 2010)
• Ethnien stehen oder fallen mit ihrem ethnischen
Selbstbewusstsein. Ethnisches Selbstbewusstsein nimmt
die Form von Abgrenzungen nach dem Modell „Wir“ – „Sie“
an (Bromlej 1977). Gibt es das bei Ossis?
• Denkmodell: ethnische Eigenheiten von Ossis , wenn es
sie überhaupt gibt, auf Prägungen der DDR zurückgeführt
= Denkfehler . Auch Herausforderungen u. Verhaltenszumutungen von Transformation und Vereinigung fallen ins
Gewicht
12
Meine zentrale These
• Das Gericht hätte zumindest kräftige Ansätze
zur Ausbildung eines ostdeutschen Subethnos
(einer Sonderform, Unterart im Rahmen des
deutschen Ethnos) wahrnehmen können und
sollen.
• Was aber sind kräftige Ansätze?
13
Vier kräftige Ansätze zur Ausbildung
eines Subethnos
WirBewusstsein
als Ostdeutsche
Verschobene
Sozialstruktur
Dominanz der
Konfessionsfreien
Erbe und
Totengräber der
„arbeiterlichen“
Gesellschaft
14
1. Besonderheit
• Die Ostdeutschen fühlen sich mehrheitlich als
Ostdeutsche; die Westdeutschen nehmen sich
mehrheitlich als Deutsche pur wahr
15
Wir-Bewusstsein I
„Fühlen sie sich eher als Deutsche(r) oder mehr
als Westdeutsche(r)/Ostdeutscher?“
Angaben in Prozent
Westdeutschland
Ostdeutschland
57
Eher als
Deutsche(r)?
34
Eher als
Westdeutsche(r)
/Ostdeutsche(r)?
70
71
69
31
41
54
42
24
24
25
63
53
35
53
Unentschieden
9
6
5
6
6
6
11
5
Jahr
1992 2000 2006 2008 1992
2000 2006 2008
Basis: Bundesrepublik Deutschland, Bevölkerung ab 16 Jahre. Quelle: IfD-Allensbach, Allensbacher
Jahrbuch: Die Berliner Republik, zitiert nach Berliner Zeitung vom 04.März 2010, S.2.
16
Kehrseite: nur Minderheiten fühlen sich als „richtige
Bundesbürger“
2009: 25% im Osten insgesamt
•
Fühlen als richtiger Bundesbürger nach ausgewählten Altersgruppen 1997-2009 neue Bundesländer in
Prozent
•
Winkler 2009:49
Wir-Bewusstsein II
17
Verbundenheiten mit… NBL 1992-2009
(nur Antwort; stark/ziemlich stark) *
80
80
76
80
74
74 7371
71
68
67 67
62 6161 62
60
67
63
63
68
65
Wir-Bewusstsein III
58
53
55
46
45
47
46
44
42
38 39
40
25
25
22
20
20
16 17
18 19
1992
1997
1999
2001
2003
2005
2007
2009
1992
1997
1999
2001
2003
2005
2007
2009
1992
1997
1999
2001
2003
2005
2007
2009
1992
1997
1999
2001
2003
2005
2007
2009
1992
1997
1999
2001
2003
2005
2007
2009
0
Gemeinde/Stadt
eigenes Bundesland
Ostdeutschland
Deutschland
Quelle: SFZ Winkler 2009
Europa
18
Zustimmung zur Aussage „Westdeutsche behandeln Ostdeutsche
als Menschen zweiter Klasse“ Thüringen Monitor 2002-2008
80
70
Wir-Bewusstsein IV
60
50
40
Geamtpopulation
30
18-24 Jahre
20
10
0
2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008
Infratest Dimap N= 1000 pro Jahr Zit. n. W. Wagner 2010: 48
19
2. Besonderheit
Die Ostdeutschen sind mehrheitlich
konfessionsfrei geworden und geblieben;
die im Westen lebenden Menschen bekennen
sich mehrheitlich zu Religionen
20
Konfessionsbindungen und Konfessionsfreie in
Deutschland 2007
Bundesgebiet
Ost
36
Bundesgebiet
West
64
78
Bundesrepublik
insgesamt
22
70
0%
20%
40%
Religiös
28
60%
80%
100%
Konfessionsfrei
Quelle: Bertelsmann Religionsmonitor 2007
21
3. Besonderheit
Die Menschen im Osten sind Erben und
Totengräber der „arbeiterlichen Gesellschaft“
(Engler); die Menschen im Westen Erben und
Totengräber der „nivellierten
Mittelstandsgesellschaft“ (Schelsky)
22
Welcher sozialen Schicht ordnen Sie sich selbst zu?
ABL/NBL 1992-2009
70
61
60
60
59
57
58
56
53
50
42
40
37
35
32
34
36
Oberschicht
Mittelschicht
29
30
Arbeiter- u. Unterschicht
20
14
12
9
10
6
5
5
2
0
Ost
1992
West
1993
Ost
2002
West
2001
Ost
2008
West
2008
Ost
2009
Quelle: Gensicke 1998:148; Winkler 2009: 42
23
Subjektive Schichteinstufung in Deutschland 2010, Angaben in
Prozent
Quelle: SFZ; Sozialreport 2010, S. 90
• NBL
8
41
38
• ABL
Ober-/obere Mittelschicht
22
Mittelschicht
52
Arbeiterschicht
21
5
13
Unterschicht
N= 2090, dav. 1073 NBL inklusive Berlin-Ost; 1.017 ABL inklusive Berlin-West
4. Besonderheit
Der Osten weist gegenüber dem Westen eine nach
„unten“ verschobene Sozialstruktur auf:
- Prozentual größerer Anteil Hartz-IV-Empfänger
- Subjektive Schichteinstufung: 2,6 mal größere
Einstufung in Unterschicht (wenn Unterschicht
gesondert erfasst wird)
- Personen ostdeutscher Herkunft sind in der
gesamtdeutschen Elite unterrepräsentiert und
auch im Osten selbst unter Entscheidern
schwach vertreten
25
„Elite“ und „Führungskräfte“ Definition
• „Positionseliten“. Nach Higley/Burton sind das
Personen, die bindende Entscheidungen von großer
Reichweite treffen können oder wichtige Entscheidungen maßgeblich beeinflussen können (z.B.
Vorstände Dax-Konzerne/Generalität Bundeswehr/
Regierungsmitglieder /Vorstände/Intendanten
Medienkonzerne…)
• „Führungskräfte“. Als solche gelten Selbständige und
Freiberufler mit mindestens 10 Mitarbeitern/
Angestellte mit umfassenden Führungsaufgaben
sowie Beamte im höheren Dienst (DIW Berlin 2010)
26
Regionale Herkunft der gesamtdeutschen „Eliten“ und der Positionseliten
im Bundesgebiet Ost 1997 und 2010 (Quellenlage dürftig!!!)
Marginale Teilhabe der Ostdeutschen unter den Eliten, noch dazu im
Zeitverlauf rückläufig
95,50%
in Deutschland 2010 4,50%
in Deutschland 1997
88%
12%
im Osten 2010
70%
30%
im Osten 1997
41%
59%
0%
10%
20%
30%
40%
50%
ostdeutscher Herkunft
60%
70%
80%
90%
100%
westdeutscher Herkunft
Angabe für 1997: Studie; für 2010: Schätzung
Quelle: Bürklin/Rebenstorf 1997: 240;241; Kollmorgen 2010: 3
27
Anteil von Ostdeutschen unter den
Führungskräften in Ost- und Westdeutschland
Zeitraum
Bundesgebiet West
Bundesgebiet Ost
Gesamt
1990/1994
0
99
13
1995/1999
1
84
11
2000/2004
1
75
9
2005/2009
2
71
9
Quelle: SOEP. Berechnungen DIW Berlin 2010
28
Fazit. Meine These: Vier kräftige Ansätze zur Ausbildung eines
ostdeutschen Subethnos sind erkennbar. Frage nach Perspektiven
WirBewusstsein
als Ostdeutsche
Verweisungszusammenhang;
Dominanz der
Konfessionsfreien
Zentrale Rolle :
WirBewusstsein
Verschobene
Sozialstruktur
Erbe und
Totengräber der
„arbeiterlichen“
Gesellschaft
29
Wie werden sich die Abgrenzungen nach dem Modell
„Wir“ – „sie“ gegenüber den Welten der
Westdeutschen entwickeln ?
Erweiterte Reproduktion
Aufhebung,
Transformation
Erosion
30
Variante 1: Erosion des WirBewusstseins im Osten
– Durch soziale und regionale Ausdifferenzierung
der ostdeutschen Gesellschaft (Folie 23/24):
Mittelschichten Ost gehen auf Distanz zu Arbeiterund vor allem Unterschichten Ost
– Keine Reproduktion ostdeutschen WirBewusstseins in der Abfolge der Generationen
– Selbst tragende Wirtschaft im Osten (in ca. 5
Jahren): Aufstiegs- und Entwicklungsmöglichkeiten
– Die DDR hat es nie gegeben/ moralisch-spirituelle
Kapitulation (Schivelbusch)
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Variante 2: Erweiterte Reproduktion des
Wir-Bewusstseins im Osten
• (Auch) in der Abfolge der Generationen (Folie 19)
• Agieren mit der „DDR im Rücken“ (Ahbe 2010): der DDR
distanziert den Rücken zukehrend wie Versatzstücke aus der DDR als
rückenstärkend reflektierend
• Entstehung einer ostdeutschen Elite
• Logische Folge: (Sezession, Scheidung auf tschechoslowakisch aus
drei Gründen* unwahrscheinlich) : Aufnahme des Kampfes
um Entwicklungsmöglichkeiten und Entwicklungsmittel, für „geistige Anerkennung“ der DDR
32
*Warum Sezession höchst
unwahrscheinlich?
• Keine Organisationsanker für Aufkündigung der
staatlichen Einheit vorhanden und in Sicht, weil
• Es seit 1990 im Osten zu einer „Wohlstandsexplosion ohne wirtschaftliches Fundament“ kam
(K. Schroeder 2010) (solange das so ist, gilt: Sezession = Harakiri)
• Ostdeutschland wurde aus einer vergleichsweise
jungen Gesellschaft (1990) zu einer relativ alten
Gesellschaft (kritische Masse an zornigen jungen Männern und Frauen
unterschritten; Ältere proben nicht den Aufstand)
33
Variante 3: Aufhebung, Transformation des WirBewusstseins Ost
• Durch gemeinsamen Neuanfang, ein „Projekt“
des sozial-ökologischen Umbaus des Landes
•
Ansatz: Der Kapitalismus ist eine Gesellschaft, die kein Maß kennt. Maßstäbe
müssen von außen herangetragen und gegen seine Dynamik durchgesetzt
werden (Münkler 2010).
• Ökologische Tragfähigkeit: Erderwärmung < 2
Grad halten= globale Aufgabe
•
Wer sozial verwundbar ist, schert sich nicht um ökologische Postulate. Ihre
Durchsetzung würde am Widerstand der sozial Schwachen scheitern. Daher
Sozial-ökologischer Umbau des Landes, der Erde
34