Wie offen ist die Zukunft Ostdeutschlands? - Arbeitsgruppe

Klaus Steinitz
Wie offen ist die Zukunft Ostdeutschlands?
In Süditalien wurde eine Agrarreform versäumt. Durch eine derartige Reform wären, schreibt Antonio Gramsci in »Die süditalienische Frage«, nicht nur andere gesellschaftliche Kräfte zum Zuge gekommen. Vielmehr hätten auch die Staatstätigkeit einen anderen Charakter angenommen. Tatsächlich ist es Rom auch noch nach 1945 nicht gelungen, das Versäumte durch infrastrukturelle und industrielle Projekte aufzuholen. Das wirft die Frage auf, ob die ostdeutsche Misere nicht in letzter
Instanz an einer verschleppten Industriereform krankt? Klaus Steinitz hat die deutsche Vereinigungspolitik von Beginn an kritisiert. Seine Gesichtspunkte zeigen, wie allein schon eine andere
Verteilungspolitik für mehr Aufgeschlossenheit und Beteiligung gesorgt hätte.
Der »Aufbau Ost« muss als gescheitert gelten. Nach Vereinigung der deutschen Staaten, wirtschaftlichem Absturz Ostdeutschlands 1990/91 und vergeblichen Versuchen einer nach- und aufholenden
Modernisierung – ein niederschmetterndes Ergebnis. Wohl in keinem industriell entwickelten Land
wurden die Reproduktionsbedingungen so abrupt und radikal zurückgeworfen wie mit der Auflösung der DDR? So ist für Ostdeutschland keine selbständige Entwicklung in Sicht. Die Fakten lassen keinen Zweifel zu!
In der Periode von 1996 bis 2004 liegt das durchschnittliche Wachstumstempo des Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den alten Ländern bei 1,3%, in den neuen Ländern aber nur bei 1,1%. Zwischen
Ost und West verhärten sich die Unterschiede. Seit Mitte der 90er Jahre stagniert das verhältnismäßige Ergebnis pro Einwohner: Betrug die ostdeutsche Leistung 1996 noch 61,7%, so hat sie sich bis
2003 auf 63,9% »verbessert«. »Verbessert« soll heißen: Das Ergebnis verdankt sich allein einem
Bevölkerungsrückgang von rund fünf Prozent.
Es ist bitter genug: Ostdeutschland hängt am Tropf. Ohne die jährlichen Transferleistungen in Höhe
von 80 – 90 Mrd. € (netto) geht es nicht. Das ist das Ergebnis einer Zerstörung wirtschaftlicher Potenziale. Damit haben sich auch strukturelle Verwerfungen ergeben. Die Deformierungen sind alles
andere als eine vorübergehende Erscheinung. Auch lassen sich die Unterschiede nicht als regionale
wegstecken, wie sie jeder Staat kennt. Vielmehr geht es um strukturelle Unterschiede, die eine wirtschaftlichen und soziale Spaltung Deutschlands begründet.1
Und es ist immer schlimmer gekommen als gedacht Vor allem verschlechtert die seit drei Jahren anhaltende wirtschaftliche Stagnation die Situation. Durch die zögerliche Belebung bleiben dringend
benötigte Impulse für Ostdeutschland aus. In Verbindung mit dieser Stagnation wird die ostdeutsche
Ökonomie geschädigt durch
•
die Agenda 2010, weil der Sozialabbau die Binnennachfrage schwächt, was Ostdeutschland
empfindlich trifft.
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Vgl. Karl Mai/Klaus Steinitz, Ostdeutschland auf der Kippe – Eine gesamtdeutsche Bilanz nach 13 Jahren,
Supplement der Zeitschrift Sozialismus 1/2004
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die absolute Verminderung ostdeutscher Bruttoeinkommen, weil hier anhaltend hohe Abwanderung, zunehmende Arbeitslosigkeit und Ausweitung des Niedriglohnbereichs zusammenkommen.
•
die Haushaltsprobleme der ostdeutschen Länder und Kommunen. Die Einnahmen gingen von
2000 bis 2003 um rund 3,5 Mrd. € zurück, die Ausgaben wurden um über 1 Mrd. € reduziert.
Mit der Abwanderung kommen die Haushalte unter Druck, weil sie nicht ausgelastete Einrichtungen unterhalten. Da sich gleichzeitig die Situation der öffentlichen Haushalte des Bundes,
der westdeutschen Länder und der Kommunen verschlechtert hat, kommen die Transferzahlungen noch mehr unter Druck. Das zeigt u.a. die von der Bundesregierung vorgesehene weitere Kürzung der Mittel der Gemeinschaftsaufgabe »Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur«.
Und das sind auch die Herausforderungen der Osterweiterung der EU, von denen die neuen Bundesländer mit den meisten Grenzregionen und der längsten Grenze zu den neuen Mitgliedsstaaten am
meisten betroffen sind.
Sicherlich kann es so nicht weitergehen! Aber wie ist diese Abwärtsspirale zu stoppen? Was verbirgt
sich hinter der Forderung nach einer Kurskorrektur für den »Aufbau Ost«? Was ist vom Ruf nach
neuen Wirtschaftsstrategie für Ostdeutschland zu halten? Wie müsste die Alternative aussehen?
Aderlass als Therapie
Im Frühjahr 2004 legte eine Expertengruppe um Klaus v. Dohnanyi Thesen zur ostdeutschen Problematik vor, die lebhafte und ambivalente Reaktionen in der Öffentlichkeit hervorriefen.
Dabei sind im Dohnanyi-Papier durchaus vernünftige Überlegungen enthalten. So wird in den Thesen gefordert, dass der »Aufbau Ost« zu einem vorrangigen Ziel der deutschen Politik werden sollte.
Auch dürfe die Wirtschaftsentwicklung in den neuen Bundesländern, heißt es bei Dohnanyi, nicht
»Marktprozessen« überlassen werden. Auch lassen die Experten keinen Zweifel an der Dringlichkeit
einer Kurskorrektur. In diesen Punkte wäre man sich mit der »Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik« und der PDS durchaus einig. Freilich ist die Gesamtanlage der Thesen von einer neoliberalen Sichtweise durchdrungen. So wird gefordert, den Niedriglohnbereich mit staatlichen Lohnzuschüssen zu erweitern, das Arbeitsrecht zu deregulieren, öffentliches Eigentum weiter zu privatisieren und die Sparstrategie noch entschiedener durchzusetzen. Über die tatsächlichen Wirkungen
der Agenda 2010 auf die ostdeutsche Wirtschaftsentwicklung sieht Dohnanyis Arbeitsgruppe hinweg. Von der weit überdurchschnittlichen Schwächung der regionale Kaufkraft bis zur Verringerung
der Mittel für eine aktive Arbeitsmarktpolitik ist einach nicht die Rede. Die unzutreffende Einschätzung, die West-Ost Finanztransfers seien die Hauptursache für die Wachstumsschwäche Deutschlands, gießt Wasser auf die Mühle des West-Ost Streit um die Höhe und Verteilung der Mittel für
den »Aufbau Ost«.2
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Vgl. zu den Wirkungen der West-Ost Transfers als Konjunkturprogramm in Westdeutschland in den Jahren
1990/91 mit einem ständig reproduziertem Niveaueffekt von ca. 5 % des BIP: Ulrich Busch, Die Waren
kommen, die Menschen gehen, Freitag, 13/2004, S. 3; Klaus Steinitz, Ostdeutsche Wirtschaft – Wachstumsbremse gesamtdeutscher Wirtschaftsentwicklung? in: Stagnation – neoliberale Agenda – Alternativen,
Supplement der Zeitschrift Sozialismus 2/2004
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Die neoliberale Sparpolitik ist »Gift« für die ostdeutsche Wirtschaftsentwicklung. Sie schwächt den
Binnenmarkt und verlängert damit die Stagnation. Der Verzicht auf eine makroökonomische Geldund Einkommenspolitik zur Stärkung der Nachfrage in Deutschland führt infolge der ausgeprägten
strukturellen Abhängigkeit des Ostens vom Westen zu einer permanenten Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die ostdeutsche Wirtschaft.
Über die Perspektive Ostdeutschlands wird entscheiden, inwieweit sich eine Haushaltskonsolidierung mit Politik sozialer Sicherung verbinden lässt. Tatsächlich lastet die Verschuldung schwer auf
ostdeutsche Länder und Kommunen. Mit Ausnahme Sachsens betragen die öffentlichen Schulden
36% vom BIP (ohne Berlin; mit Berlin: ca.50 %). Dagegen liegt die westdeutsche Quote bei 25%.
Damit macht der Schuldendienst finanzielle Spielräume zunichte. Diese Situation schrittweise zu
überwinden ist eine der größten Herausforderungen. Ob und wie es gelingt, ein zukunftsorientiertes
Gleichgewicht herzustellen zwischen notwendigen Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung einerseits und der finanziellen Sicherung einer nachhaltigen Struktur- und Beschäftigungspolitik sowie
sozialen Sicherheit andererseits. Die Haushaltsmisere der ostdeutschen Länder und Kommunen, die
sich in den nächsten Jahren noch durch eine drastische Verringerung der Steuereinnahmen verschärfen wird, kann, wie auch die Erfahrungen Berlins zeigen, nicht mit eigenen Kräften allein gelöst
werden, sondern erfordert eine Unterstützung des Bundes, u.a. durch Zuweisungen, Streichen von
Altschulden und eine Gemeindesteuerreform.
Die West-Ost Transfers sind langfristig für die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland absolut unverzichtbar. Ihre Kürzung würde vor allem die Investitionen – öffentliche und private – die
Forschung sowie die Mittel für eine aktive Arbeitsmarktpolitik treffen und die Haushaltssituation
vieler Kommunen noch mehr verschlimmern.
Die Mindestforderung müsste darin bestehen, die im Solidarpakt II vereinbarten Mittel in voller Höhe zu sichern. Mit diesem Finanzrahmen können jedoch noch nicht hinreichend die investiven und
innovativen Voraussetzungen für eine spürbare Verringerung der ostdeutschen Lücke zwischen
Wirtschaftsleistung und Verbrauch – Produktionslücke in Höhe von mehr als 100 Mrd. € – und damit für den perspektivischen Übergang zu einer selbst tragenden Wirtschaftsentwicklung geschaffen
werden. Für ein Investitions- und Innovationsprogramm Ost bis etwa 2010/15 müssten die Mittel um
jährlich um mehrere Mrd. € erhöht werden.
Eine stärkere Konzentration der Mittel auf Wachstumskerne und Produktionscluster sowie auf den
Unternehmenssektor ist notwendig. Sie darf jedoch nicht durch einfache Umverteilung wie im Dohnanyi Papier gefordert, d.h. durch eine absolute Verringerung der Mittel für die Peripherie, strukturschwache Regionen und notwendige Infrastrukturinvestitionen erfolgen. Es muss verhindert werden,
dass große Teile Ostdeutschlands noch stärker als bisher von der Fortentwicklung abgekoppelt werden. Auch aus diesem Zusammenhang wird deutlich, wie wichtig es ist, nach neuen, innovativen
Lösungen zu suchen, ohne die Forderung nach einem notwendigen »Aufstocken« der Mittel für Investitionen aufzugeben.
Auch hier bestätigt sich, dass die Vorschläge für eine wirksame Wirtschaftsförderung in Ost aber
auch in strukturschwachen Regionen West sehr eng mit Veränderungen in der gesamten Politik und
in den Richtungen der Reformen in der Bundesrepublik verflochten sind. Notwendig ist vor allem eine andere Steuer-, Finanz- und Einkommenspolitik, eine makroökonomischen Politik, die den Bin3
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nenmarkt stärkt und die Schaffung von Arbeitsplätzen unterstützt, wie sie u.a. im MEMORANDUM
2004 gefordert und auch konkret entwickelt ist.
Alternativen: Auf Dauer abgekoppelt oder Modellregion?
Ein alternatives Konzept für den Kurswechsel unterscheidet sich wesentlich von den Vorstellungen
der Bundesregierung, der CDU/CSU und auch der Expertengruppe um v. Dohnanyi, die dem neoliberalen Mainstream entsprechen, auch wenn es mit einigen dort enthaltenen konkreten Vorschlägen
übereinstimmt. Ihm liegen insbesondere folgende Überlegungen zu Grunde: (1) Der »Aufbau Ost«
hat nur Chancen, wenn es gelingt, die wirtschaftliche Stagnation und die Schwäche des Binnenmarkts in Deutschland zu überwinden. Das macht substanzielle Veränderungen der Politik erforderlich. (2) Die Lösung der Probleme Ostdeutschlands kann nicht auf dem Weg einer neoliberalen Deregulierung erfolgen. Mit einer Sonderwirtschaftszone Ost und einem Niedriglohngebiets ist nichts
gewonnen. Entscheidend sind innovative Lösungen im produzierenden Gewerbe und darüberhinaus,
nämlich auch auf den Gebieten Arbeit, soziale Sicherheit, Wissenschaft und Kultur. Solche innovativen Lösungen könnten sein: Erweiterung öffentlich geförderter Arbeit, Mindesteinkommen, die eine menschenwürdige Existenz sichern, wirksame Schritte einer Energiewende, Stärkung des Eigenkapitals der KMU und Entwicklung von Unternehmensnetzwerken, Demokratisierung und Einbeziehung der Menschen in den Regionen in die sie betreffende Entscheidungsprozesse. (3) Die wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands ist nicht nur von der Westdeutschlands abhängig, sie wirkt
auch auf diese in vielfältiger Weise zurück, nicht nur über die Finanztransfers und deren Realisierung u.a. in hohen westdeutschen Lieferüberschüssen. Die ungelösten Probleme Ostdeutschlands
hemmen auch zunehmend einen gesamtdeutschen Konjunkturaufschwung. Es gilt vor allem solche
Rückwirkungen zu verstärken, die von Ostdeutschland als einer Region ausgehen, auf dem auch zukunftsfähige Erfahrungen für ganz Deutschland auf ausgewählten Gebieten gewonnen werden.
In der Debatte um die Zukunft Ostdeutschlands spielen zwei ganz unterschiedliche Erwartungen eine Rolle. Die pessimistische Variante geht von einen deutschen Mezzogiorno aus. Danach ist von
einer dauerhaften Abkoppelung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung zu rechnen. Das Resultat wäre eine rückständige Region, die von überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit, Abwanderung
junger Menschen, fortgesetzter Alimentierung und verbreiteter Resignation der Bevölkerung gezeichnet wäre. Die optimistische Variante hält es für möglich, dass Ostdeutschland zu einer Modellregion für ganz Deutschland werden könnte. Im Ergebnis einer sozial und ökologisch nachhaltigen
Entwicklung würde sich eine Vollbeschäftigung neuer Art einstellen. Die wäre dann einer vorrangigen Entwicklung von Bildung, Wissenschaft, Forschung und Innovationen und von human orientierten Dienstleistungen zu verdanken. Mit umwelt- und familienfreundlicher Arbeitsbedingungen, einem starken Sektors öffentlich geförderter Beschäftigung, der Gestaltung regionaler Wirtschaftskreisläufe und der Demokratisierung von Entscheidungsprozessen käme der ostdeutschen Region
eine Pionierfunktion für ganz Deutschland zu.
Die erste Variante eines deutschen Mezzogiorno ist nicht wünschenswert. Sie würde nicht nur den
Interessen der Menschen in Ostdeutschland widersprechen, sondern auch der westdeutschen Entwicklung Probleme bereiten. Sie ist aber gegenwärtig die realistische und wahrscheinliche Variante.
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Die zweite Variante ist zwar wünschenswert, hat aber unter den konkreten Entwicklungsbedingungen Ostdeutschlands in ihrer Gesamtheit in absehbarer Zeit keinerlei Realisierungschance. Das
schließt jedoch nicht aus, sondern vielmehr ein, dass entscheidende Elemente oder Schritte auf diesem Weg in einem noch auszuarbeitenden Leitbild für die Entwicklung etwa bis 2020 aufgenommen
werden, und dass um deren Realisierung gerungen wird.
Eine realistische und zugleich anzustrebende Variante müsste somit darauf gerichtet sein, einerseits
den Tendenzen zur Verfestigung Ostdeutschlands als Mezzogiorno so wirksam wie möglich entgegenzuwirken, und andererseits konkrete, grundsätzlich machbare kleinere Schritte in Richtung der
oben umrissenen Alternative zu gehen. Es geht um eine Zukunftsvariante für Ostdeutschland, die
versucht, eine realistische Bewertung der Spielräume und der Beeinflussbarkeit der Entwicklungsprozesse so weit wie möglich mit den Interessen und Wünschen der hier lebenden Menschen und
der Zukunftsfähigkeit des vorgeschlagenen Entwicklungsweges zu verknüpfen.
Angesichts der Diskussionen um die ostdeutsche Perspektive und eine neue Wirtschaftsstrategie
kann ein Blick auf die Erfahrungen und Ergebnisse der italienischen Regionalpolitik im Zusammenhang mit dem Mezzogiorno Problem aufschlussreich sein.
Bleibt die Lektion Mezzogiorno folgenlos?3
Der Mezzogiorno umfasst die wirtschaftsschwächeren, durch die historische Entwicklung (jahrhundertelange Fremdherrschaft, Ausbeutung) und eine rückständige Wirtschaftsstruktur (Latifundienwirtschaft, unsoziales Pachtsystem) ökonomisch und sozial hinter der Gesamtentwicklung Italiens
stark zurückgebliebenen südlichen italienischen Regionen. Bei einem Bevölkerungsanteil von 35%,
betrug der Anteil am BIP Italiens weniger als 25%.
Zwischen dem Mezzogiorno und Ostdeutschland gibt es sowohl grundlegende Unterschiede als auch
wichtige Gemeinsamkeiten. Die Rückständigkeit Mezzogiornos ist historisch entstanden und seit
150 Jahren charakteristisch für Beziehungen innerhalb Italiens, während das wirtschaftliche Zurückbleiben Ostdeutschlands vor allem ein Ergebnis der Politik nach der Vereinigung ist, insbesondere
des tiefen wirtschaftlichen Absturzes 1990/91 und der Stagnation seit Mitte der neunziger Jahre.
Mezzogiornos Rückständigkeit bezieht sich auf alle Seiten des Lebens – in Ostdeutschland gibt es
bisher kaum ein Zurückbleiben in der Bildung, Qualifikation, Kultur, sozialen Betreuung. Mezzogiorno weist eine überdurchschnittlich hohe Geburtenrate und einen hohen Geburtenüberschuss auf
– Ostdeutschland niedrige, drastisch gesunkene Geburtenraten.
Die Gemeinsamkeiten in den Problemen beziehen sich besonders auf die Abhängigkeit von Transfers aus dem wirtschaftlich stärkeren Teil (Norden bzw. Westen), und dass die Transfers vor allem
zur Stabilisierung des privaten und öffentlichen Konsums beitragen, aber private Investitionen nicht
in ausreichendem Umfang gewährleisten und auch darin, dass der Absatz regionaler Unternehmen
sich nur unzureichend erweitern konnte. Für beide Regionen ist eine anhaltende Abwanderung der
Bevölkerung, vor allem jüngerer Menschen, in die wirtschaftlich stärkeren Teile des Landes und eine im Vergleich zum Norden bzw. Westen etwa doppelt so hohe Arbeitslosenquote typisch.
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Vgl.: Stefan Schröder, Der Mezzogiorno - Italiens Problemregion am Rande Europas. Universität Augsburg,
2000
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Was Süditalien auf Dauer zurückwarf, war die zu Beginn des 20. Jahrhunderts unterlassene Agrarreform. Nach dem 2. Weltkrieg glaubte man dann, das Versäumte mit industriellen und infrastrukturellen Projekten aufholen zu können. Insofern lag (1950 - 1957) das Hauptaugenmerk der staatlichen
Investitionstätigkeit auf der Rationalisierung der Landwirtschaft und dem Aufbau der Infrastruktur.
Charakteristisch war eine breite Streuung der Mittel. Dies änderte sich ab 1958 grundlegend, als die
Industrie in den Blickpunkt der Fördermaßnahmen geriet. Die Infrastrukturmaßnahmen konzentrierten sich auf Gebiete mit günstigen Voraussetzungen für eine industrielle Entwicklung. Diese Gebiete erhielten nun den Hauptanteil der finanziellen Zuwendungen. Die anfänglich 45 Entwicklungspole und -kerne wurden auf fünf Entwicklungsgebiete reduziert und es wurde versucht, mit einer extremen Zentralisierung der Hilfsmaßnahmen bessere Resultate zu erzielen. Dies hatte jedoch zur
Folge, dass sich größere Regionen zu Depressionsgebieten entwickelten. Durch die zunehmende
Schwerpunktbildung ab 1965 erhöhte sich das wirtschafträumliche Ungleichgewicht, so dass sich
ein Mezzogiorno esterno (Küstengebiete), von einem Mezzogiorno interno (von Entleerung und
Verarmung betroffenes Hinterland) zunehmend abhob. Das Konzept wurde Anfang der siebziger
Jahre bereits wieder zugunsten einer Kompetenzerweiterung der Regionen aufgegeben. Das Ziel,
Entwicklungsanstöße von innen heraus zu induzieren, vor allem mit der Entwicklung der Infrastruktur industrielle Wachstumsimpulse auszulösen, wurde nicht erreicht. Die gestiegene Nachfrage für
den Aufbau der Infrastruktur und nach industriellen Konsumgütern kam fast ausschließlich der Industrie des Nordens zugute.
Mit der Krise Anfang der achtziger Jahre haben sich die Ausgaben der öffentlichen Hand zwischen
Produktivinvestitionen und Sozialkonsum verstärkt zu Ungunsten der ersteren und zu Gunsten der
Ressourcentransfers durch den Sozialstaat verschoben. Zu Beginn der achtziger Jahre geriet die
Entwicklungspolitik für Süditalien dann in eine ernste Krise. Seit 1993 wurde die Sonderförderung
beendet.
Das Süditalienproblem hat heute in Italien an Bedeutung verloren, nicht weil der Entwicklungsrückstand beseitigt wurde, sondern weil die Anstrengungen der Jahre 1950 - 1980 nicht die erwünschten
Resultate gebracht haben. Steht Ostdeutschland ein ähnliches Schicksal bevor?
Die Finanzpolitik trifft die programmatische Vorentscheidung
Die »süditalienische Frage« macht deutlich, wie die Art staatlicher Eingriffe und industrieller Entwicklung über Erfolg und Misserfolg einer nachholenden Modernisierung entscheidet. Dabei treffen
finanziellen Maßnahmen die programmatische Vorentscheidung. Die Wirtschaftsentwicklung in
Ostdeutschland wird noch über einen längeren Zeitraum, über 2019 hinaus, hohe externe – öffentliche und private – Zuflüsse an Investitionen und Mitteln zum Ausbau der Forschungs- und Entwicklungskapazitäten erfordern. Sie kann nur bei gemeinsamer Kraftanstrengung in Ost und West und als
eine bundespolitische Aufgabe von hoher Priorität erfolgreich verlaufen.
Eine wesentliche Rolle kommt dem wirksameren Einsatz der Methoden und Instrumente der Wirtschaftsförderung zu. Um eine höhere soziale, ökonomische und ökologische Effizienz beim Einsatz
der verfügbaren Mittel zu erreichen, müssten folgenden Fragen gelöst werden:
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•
Eine höhere Qualität und Neuausrichtung der Wirtschaftsförderung, insbesondere durch eine
bessere Übereinstimmung der Kriterien für die Forschungs-, Innovations- und Investitionsförderung mit den Zielen der Wirtschafts- und Strukturentwicklung
•
Die Unterstützung und Förderung von Innovationen auf allen Gebieten, von der Finanzierung
bis zur Qualifizierung mit dem Kern unternehmerischer Innovationen;
•
Eine zukunftsorientierte und auf den sozial-ökologischen Umbau gerichtete Struktur- und Innovationspolitik, insbesondere durch Förderung innovativer technologischer Cluster und
Wachstumskerne, die Stärkung der von diesen ausgehenden Multiplikatoreffekte auf Produktion und Arbeitsplätze in den Regionen und auf regionale Wirtschaftskreisläufe, engere Verbindung von Wissenschaft und Unternehmen durch den Ausbau von Kompetenzzentren;
•
Eine Koordinierung von Entwicklungskonzepten über regionale und Ländergrenzen hinweg zu
einem neuen Gesamtkonzept für Ostdeutschland (»Zukunftsprogramm Ost«), dessen Kern ein
Innovations- und Investitionsprojekt Ost für den Zeitraum bis 2010/15 bilden sollte, in dem
auch die notwendigen Finanzierungsvorstellungen enthalten sein müssen;
•
Erweiterung der Möglichkeiten für eine gezielte Vergabe öffentlicher Aufträge an ostdeutsche
Unternehmen;
•
Verbesserung der Absatzbedingungen, insbesondere auch für die Erhöhung des Exports, u.a.
durch Übernahme von Exportbürgschaften gegenüber Russland und anderen mittel- und osteuropäischen Ländern, Regelungen für eine stärkere Beteiligung ostdeutscher Zulieferer an Exportaufträgen von Konzernen und Großunternehmen u.a. nach China und andere außereuropäischen Länder mit einer dynamischen Marktentwicklung;
•
Gezielte Entwicklung der Regionen Berlin-Brandenburg und Leipzig-Dresden-Chemnitz zu
Metropolenregionen von europäischer Bedeutung, um über Agglomerations- und Synergieeffekte Ostdeutschland als Produktionsstandort zu stärken;
•
Ausarbeitung und finanzielle Absicherung von Entwicklungs- und Förderkonzepten für die
Grenzgebiete zu Polen und Tschechien, um gezielt grenzübergreifende Wirtschafts-, Forschungs- und Bildungsaktivitäten sowie Bemühungen um eine engere Kooperation zu unterstützen, und die Wettbewerbspositionen der ostdeutschen KMU in dieser Region zu stärken.
Diese Aufgaben können und müssen noch durch konkrete Regelungen ergänzt werden. Das allein wird jedoch nicht ausreichen. Sie müssen auch miteinander verflochten sein, was eine
komplexe Strategie ermöglichen könnte, nämlich:
•
sowohl höhere Effizienz beim Einsatz der Mittel – als auch langfristige Sicherung umfangreicher finanzieller Mittel aus externen Quellen für Investitionen, Wissenschaft und Forschung;
•
sowohl Erweiterung der Binnenkaufkraft, der Anteile ostdeutscher Unternehmen am ostdeutschen Markt und Stärkung regionaler Kreisläufe – als auch Erweiterung des Exports und der
überregionalen Lieferungen;
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•
sowohl Förderung von Neugründungen und Neuansiedlungen von Unternehmen – als auch
stärkere Unterstützung existierender Unternehmen in deren Stabilisierungs- und Wachstumsphase;
•
sowohl Förderung von Wachstumspolen, Produktionsclustern und Kompetenzzentren – als
auch Bemühen um deren stärkere regionale Ausstrahlung in die Peripherie und Problemregionen sowie insgesamt einer wirksameren Verknüpfung der Förderung von Wachstumspolen mit
der Entwicklung strukturell schwächerer Regionen;
•
sowohl gezielte Anstrengungen und Maßnahmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen auf dem
ersten Arbeitsmarkt – als auch Auf- und Ausbau gemeinnütziger, gesellschaftlich notwendiger
und öffentlich geförderter (finanzierter) Arbeiten;
•
sowohl Stärkung der Bereiche human- und wissensorientierter sowie unternehmensbezogener
Dienstleistungen (mit besonderem Schwerpunkt auf innovative Dienstleistungen mit perspektivisch hoher Dynamik), Tourismus, Umweltschutz (»Soft«bereiche) – als auch überdurchschnittliches Wachstum und Stärkung des verarbeitenden Gewerbes, besonders innovativer
Branchen mit hoher Forschungs- und Wertschöpfungsintensität.
Das Gelingen einer solchen Strategie erfordert, dass die Menschen, die sozialen Bewegungen, gesellschaftlichen Organisationen und die sich für ostdeutsche Interessen einsetzenden Parteien einen
höheren politischen Druck zur Durchsetzung dieser Interessen ausüben. Zugleich ist sie davon abhängig, dass durch Vertreter linker und alternativen Politikvorstellungen die Einsicht verstärkt befördert wird, dass Anstrengungen zur Erhöhung des ostdeutschen Wirtschafts- und Innovationspotenzials und zur Verringerung der »Produktionslücke«, auch durch hinreichende öffentliche und unternehmerische Finanztransfers, mittel- und langfristig nicht nur im Interesse der Menschen der neuen, sondern ebenfalls der Menschen in den alten Bundesländern liegen.
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