V Transformationserfahrungen teilen – was Europa von seinem

V Transformationserfahrungen teilen – was Europa von seinem Osten
lernen kann
Landesdelegiertenkonferenz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Thüringen
13. April 2013 in Sömmerda
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Eingang: 13.09.2012
Antragsteller/-in: Carsten Meyer (KV Weimar)
Unterstützer/-in: Astrid Rothe-Beinlich (KV Weimar), Madeleine Henfling (KV
Ilmkreis), Reiner Bode (KV Weimarer Land), Stefan Schweßinger (RV
Wartburgkreis Eisenach), Henning Eggers (KV Erfurt), Sebastian Krieg (RV
Wartburgkreis Eisenach), Andreas Leps (KV Weimar), Tino Gassmann (KV
Unstrut-Hainich), Michael Hoffmeiner (KV Eichsfeld), Rüdiger Bender (KV
Erfurt), Thomas Blankenburg (KV Ilmkreis), Joachim Bender (KV Weimarer
Land)
Die Landesdelegiertenkonferenz möge beschließen:
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Europa als politisches Gebilde hat sich in den letzten drei Jahrzehnten stark
gewandelt: Dank friedlicher Revolutionen in Ost- und Mitteleuropa und die
deutsche Einheit wurden ehemals starre Blöcke aufgelöst und Grenzen verschoben.
Die Ausdehnung der Europäischen Union und der NATO und die Einführung des Euro
haben Europas Staaten einerseits näher zusammen rücken lassen, zugleich aber
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nach Außen auch abgeschottet.
Aktuell macht sich die Debatte über den weiteren gemeinsamen Weg der Staaten in
der EU nahezu allein an der Gemeinschaftswährung, dem Euro, fest. Aber nach
unserem Verständnis als BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geht es um viel mehr als um die
Lösung einer Währungskrise. Im Kern geht es um die Frage, ob Wohlstand durch
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weiteres Wachstum wirklich existiert. Wir sind kritisch, ob die jetzt als "alternativlos" angepriesene Strategie zur Lösung der diversen Krisen auch für weniger statt
mehr soziale Spannungen sorgt, gerade in Hinblick auf die gesellschaftliche Realität
der Mitgliedsstaaten. Dabei haben wir natürlich auch immer die notwendige Energiewende, die drohende Rohstoffknappheit und die globalen Ungerechtigkeiten im
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Hinterkopf. Immerhin bewegt sich die EU, gerade mit ihren Förderprogrammen,
langsam in eine ökologisch und sozial gerechtere Ausrichtung. Parallel zu diesen
strukturellen Problemen ist Europa in einer Legitimitätskrise und in vielen Ländern
erlebt der Nationalismus eine Wiedergeburt. Wir müssen also auch um die Glaubwürdigkeit der parlamentarischen Demokratie und des europäischen Gedankens ge-
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genüber neuen Phantasien von gelenkten Planwirtschaften und Diktaturen streiten.
Und natürlich mangelt es auch am Nachweis, dass die EU ein überstaatliches Handeln ermöglicht, das sich besser bewährt als isolierte Versuche der nationalstaatlichen Organisation.
Erfahrungen nicht zweimal machen müssen
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Die osteuropäischen Länder haben im Prozess der Transformation ihrer gesellschaftlichen, politischen und nicht zuletzt wirtschaftlichen Strukturen nach der
Perestroika viele Erfahrungen zum Thema Wettbewerbsfähigkeit, Innovation, Verteilung und Zufriedenheit
gesammelt. Sie haben sich verändert und verändern
müssen. Leider folgte nach dem Umbruch im Osten nicht der wünschenswerte Auf45
bruch im Westen, der danach schaute, welche osteuropäischen Erfahrungen und
Modelle auch dort wertvoll sein könnten.
Durch die Finanzkrise und die bestehenden oder sich abzeichnenden Staatskrisen in
der Euro-Zone setzt sich nur zwangsweise die Erkenntnis durch, dass sich in ganz
Europa etwas ändern muss, wenn Europa Bestand haben soll. Was aber wie und in
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welchem Zeitraum geändert werden muss, ist nicht nur höchst umstritten, sondern
oft genug auch völlig unklar.
Die Erfahrungen haben eines gemeinsam: Es gab und gibt keine allgemein gültigen
Regeln für diesen Prozess, es gibt aber sehr wohl ähnliche Erfolgsrezepte bei vergleichbaren gesellschaftlichen Ausgangslagen einzelner Staaten. Wir plädieren
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nachdrücklich dafür, dass sich der Euro-Raum und die gesamte EU diese Erfahrungen zunutze machen, wenn es um die Überwindung der strukturellen Krisen an Europas Rändern geht. Die handelnden Organe in diesem Prozess, also die Einzelstaaten ebenso wie die EU-Kommission, das EU-Parlament, die EZB und die internationalen Organisationen sind gut beraten, wenn sie dieses Wissen strukturiert nutzen.
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Es liegt an uns, der „Festung Europa“ ein anderes, lebenswertes und starkes Europa
entgegen zu setzen, in dem auch Gerechtigkeit und soziale Mindeststandards verbinden. Hier gilt es insbesondere auch, rigide Grenzziehungen und Ausgrenzungen
abzubauen. All das kann neuen politischen Schwung nach Europa bringen.
Wir stellen fest:
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1.
Europa wird stärkere gemeinsame Mindeststandards bei der Sozial-, Arbeits-
markt – und Steuerpolitik entwickeln müssen, ohne dadurch die differenzierte Entwicklung der Einzelstaaten zu unterbinden. Gerade weil dieser Prozess in den ostund südosteuropäischen Gesellschaften mit aktiver Unterstützung durch europäisches Geld und Know-How passierte, kann dort heute besichtigt werden, wie unter70
schiedlich (erfolgreich) der soziale Ausgleich ist.
2.
Europa ist groß und der europäische Einigungsprozess entgrenzt die Lebens-
räume für den Einzelnen. Was für viele Menschen sozialen Reichtum bedeutet,
empfinden andere als Bedrohung und Gefahr für ihre Identität. Das bringt für die
Kommunen und Regionen eine wichtigere politische Rolle mit sich als bisher. Die
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Transformationsstaaten Osteuropas können hier Antworten geben. Sie haben sich
bewusst und aus vielen guten Gründen von einem autoritären Zentralstaat wegbewegt und müssen die Balance zwischen regionaler Eigenständigkeit und zentraler
Steuerung auch jetzt noch ständig neu justieren. Hier kann Europa von den guten
wie von den schlechten Beispielen lernen.
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3.
Europa erlebt eine Jahrzehnte lang unbekannte, friedliche Wanderung von
Millionen Menschen innerhalb seiner Grenzen und zunehmend auch von außerhalb.
Bei weitem nicht alle MigrantInnen sind dies freiwillig, wie etwa die Austauschschüler/innen oder viele Student/innen. Für die meisten ist die Migration erzwungen
durch Arbeitslosigkeit oder durch Unterdrückung im Heimatland. Auch dieser
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Aspekt der derzeitigen Krise im Euro-Raum ist heute schon Teil der erlebten „kollektiven Erfahrung“ der Menschen aus den EU-Beitrittsländern im Osten.
4.
Die Bürgerinnen und Bürger in Ost- und Südosteuropa haben sich die Verän-
derung ihrer Gesellschaften selbst erkämpft, oftmals friedlich, manchmal auch gewalttätig. Aber wenn es, gerade in Hinblick auf die großen sozialen Verwerfungen
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aktuell z.B. in Griechenland und Spanien, etwas aus diesem Prozess zu lernen gibt
dann ist dies: Je umfassender, frühzeitiger und verbindlicher auch die zivilgesellschaftlichen Gruppen in den Prozess eingebunden werden, um so wahrscheinlicher
sind gute Ergebnisse und eine friedliche Einigung. Gerade bei sich abzeichnenden
notwendigen Debatten um Wachstumsreduzierung oder sogar Schrumpfung muss
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dies nach unserer Überzeugung unbedingt beachtet werden.
Wir fordern deshalb:
Im Ergebnis plädieren wir dafür, einen europaweiten, moderierten Diskussionsprozess in Gang zu setzen, der die Erfahrungen nutzt, um über Best Practice-Beispiele
innerhalb der Einzelstaaten zu Lösungsszenarien zu kommen. Den Bürgerinnen und
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Bürgern ebenso wie die politischen und wirtschaftlichen Akteuren muss klar werden, dass sich Gesellschaften nicht in Jahren, sondern nur in Jahrzehnten reformieren lassen. Hier kann die EU sowohl durch Moderation des Prozesses wie auch durch
weitere verlässliche Rahmensetzung und natürlich auch durch gezielte Mittelvergabe unterstützen, ohne als der negative „große Bruder“ wahrgenommen zu werden.
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Die LDK bittet die Mitglieder unserer Partei im Bundestag, im Landtag und die
Delegierten der betroffenen BAGen, folgende Aspekte bei ihrer Tätigkeit zu berücksichtigen:
Wir sind dazu bereit, den Teil der Erfahrungen, der sich auf die deutsch-deutsche
Wiedervereinigung und den „Aufbau Ost“ stützt, aktiv einzubringen.
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Uns erscheinen dabei folgende inhaltlichen Aspekte besonders wichtig:
1.
Die Entwicklung von Unternehmensstrukturen und Innovationsfähigkeit beim
Umbau einer nicht konkurrenzfähigen Wirtschaft und die gemischten Erfahrungen
mit der Konzentration auf eine Export-orientierte Wirtschaft. Dies kann bei der
Ausrichtung der Förderpolitik der EU ab 2014 sehr hilfreich sein.
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2.
Der Umgang mit Schrumpfung, Wanderung und Alterung in einem funktionie-
ren-den Staat und die Akzeptanz der sozialen „Begleiteffekte“ einer Politik der
Staatsentschuldung. Von diesen Erfahrungen und Lösungsversuchen können die EULänder am Mittelmeer sehr profitieren, ohne in ein einfaches Kopieren zu verfallen.
3.
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Die Durchsetzung langfristiger Strukturänderungen in Schule, Hochschule und
Berufsausbildung zur Anpassung an neue Bildungsbedarfe. Gerade in diesem Bereich
ist die Transformation in Europas Osten eine Erfolgsgeschichte, die auch in Griechenland oder Portugal wiederholt werden kann.
4.
Die Stärkung der Zivilgesellschaft nach dem Modell der Runden Tische unter
Einbeziehung der örtlichen Zivilgesellschaft hat in vielen Gesellschaften nach 1989
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erst die Legitimität geschaffen, die sozialen Zumutungen auch ertragen zu können.
5.
Die Betonung der kulturellen Vielfalt Europas durch einen Dialog über Erfah-
rungen in den Herkunftskulturen/-sozialisationen. Die EU muss glaubhaft machen,
dass sie die kulturelle und regionale Identität ihrer Bürgerinnen und Bürger nicht
schwächt, sondern im Gegenteil stärken kann.