Was ist 4D-Journalismus? - WAN-IFRA

Redaktion
Juli / August 1999
zeitungstechnik
Die Redaktionsdatenbank voll ausschöpfen
Was ist 4D-Journalismus?
Die traditionelle
Zeitung wird häufig
als zweidimensionales Nachrichtenprodukt bezeichnet.
Das Internet, so
heißt es, eröffne
hingegen eine dritte
Dimension, da es
aufgrund seiner verschiedenen Inhaltsebenen, Verzweigungen durch Links,
Multimedia-Fähigkeit und Interaktivität eine größere
Informationstiefe
ermöglicht. Jetzt
stoßen einige Zeitungen gar in die
vierte Dimension
vor.
Ich möche Ihnen kurz schildern, was
meine Familie und ich unlängst auf unserer
Reise nach Gent in Belgien erlebten, wo wir
die schön restaurierte, mittelalterliche Burg
Gravensteen der Grafen von Flandern besichtigen wollten. Am Kartenhäuschen
stellte ich fest, daß das Eintrittsgeld, das
ich entsprechend den Angaben in unserem
Reiseführer in belgischen Francs bereithielt,
nicht ausreichte. Obwohl wir uns gerade
die neueste Ausgabe dieses Reiseführers
zugelegt hatten, waren die darin aufgeführten Preise nicht mehr aktuell. Mein Sohn
erklärte sogleich das ganze Buch für wertlos. Nein, entgegnete ich, es ist nur nicht
mehr auf dem neuesten Stand.
Im Grunde macht es heute jedoch
keinen großen Unterschied, ob eine Information veraltet oder einfach falsch ist. In
einer Informationsgesellschaft, in der „der
Mensch ist, was er weiß“ und wo Datenbanken wertvoller sein können als materielle Wirtschaftsgüter, hat eine Information
wenig Wert, wenn sie so veraltet ist, daß sie
als ungenau oder irreführend betrachtet
werden muß. Während man früher in Kauf
nahm, daß Printprodukte wie z. B. Reiseführer mit der Zeit ungenauer wurden, legt
man eine Publikation mit falschen Angaben heute kurzerhand beiseite und wendet
sich einer aktuellen Informationsquelle zu,
wie beispielsweise der Web-Site der Stadt
Gent.
Der Wert von Datenbanken
Die Zeitungen haben die Inflation des
Informationswertes auf eigene Art zu spüren bekommen. Erinnern Sie sich noch an
die Anfangszeit des Internets, als die Redakteure alles daran setzten, ihre Archive
online verfügbar zu machen, weil sie erwarteten, mit dem Verkauf von Zugriffsrechten bedeutende Einnahmen zu erzielen? Heute wissen wir, daß der Markt für
alte Nachrichten begrenzt ist. Referatschreibende Schüler, präzedenzfallsuchende
Juristen und Ahnenforschung betreibende
Großmütter bringen nun einmal nicht so
viel Geld ein.
Sind die Datenbanken der Zeitungsverlage also wertlos? Wohl kaum. Den Redakteuren wird jedoch zunehmend bewußt,
daß sie die auf den Redaktions-Servern
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schlummernden Inhalte nur in echte redaktionelle Aktivposten transformieren können, wenn die Redaktionsdatenbank dahingehend weiterentwickelt wird, daß sie mehr
ist als nur ein der Produktion nachgelagertes, verschlagwortetes Archiv mit ITManagementfunktionen und Volltextsuchmöglichkeit. Ihnen wird klar, daß sich die
Zeitung von der herkömmlichen Denkweise
lösen muß, wonach nur Texte, Bilder und
Seiten, die tatsächlich veröffentlicht wurden, es wert sind, digital archiviert zu
werden, oder daß dieses Material außer für
Recherchezwecke nicht weiter von Interesse
ist. Und sie wehren sich insbesondere gegen die noch immer weit verbreitete
Ansicht, daß die Journalisten nicht für die
Pflege der Redaktionsdatenbank zuständig
seien.
Eine kleine, aber wachsende Zahl von
Zeitungen in allen Teilen der Welt fördert
derzeit unter ihren redaktionellen Mitarbeitern die intensive Arbeit mit der Redaktionsdatenbank und praktiziert bereits eine
Arbeitsweise, die man als 4D-Journalismus
bezeichnen könnte: die fortlaufende journalistische Bewertung der digitalen Nachrichtenressourcen, mit dem Ziel, deren Wert
zu erhalten und zu steigern. (Die vierte
Dimension ist – wer ein Faible für Physik
oder „Raumschiff Enterprise“ hat, dem sage
ich nichts Neues – die Zeit.)
Im 4D-Journalismus hat die Redaktionsdatenbank die Funktion eines Speichers, in dem alles abgelegt wird, was die
Redaktion zu den verschiedenen Nachrichtenthemen, über die sie berichtet, weiß oder
erfährt. Im Gegensatz zu einem Archiv
wird das gespeicherte Material hier jedoch
nicht „eingefroren“. Statt dessen nutzen die
redaktionellen Mitarbeiter die Datenbank
als Umschlagplatz für immer mehr Nachrichtenmaterial unterschiedlichster Art.
Dieses Material wird als Teil der aktuellen
Berichterstattung betrachtet, das bis zum
Redaktionsschluß in Form gebracht und
strukturiert, erweitert oder kondensiert
werden muß. Das Ergebnis ist die Entwicklung der Datenbank zu einer Wissensbank,
die ein eigenständiges Nachrichtenprodukt
darstellt.
Der 4D-Journalismus ist eine Reaktion auf die Notwendigkeit einer noch bes-
zeitungstechnik
Juli / August 1999
seren Interaktion zwischen Journalismus
und Technologie, die durch den grundlegenden Wandel auf dem Nachrichtenmarkt und dem Technologie-Einsatz im
neuen Publishing-Sektor vorangetrieben
wird. Dieser Wandel bewirkt, daß eine richtig gepflegte und genutzte Datenbank zu
einem zentralen und integralen Bestandteil
unserer Nachrichtenprozesse – und nicht
nur unserer Arbeitsprozesse – wird.
Anwendungsbeispiele
Bei einer Reihe von Zeitungen, die
den 4D-Journalismus bereits praktizieren,
lassen sich bislang mehrere Anwendungsformen unterscheiden.
Die häufigste Anwendung besteht
darin, das in der Redaktionsdatenbank gespeicherte Nachrichtenmaterial als Hintergrund- oder Zusatzmaterial für die aktuelle
Berichterstattung zu verwenden. Dies geschieht häufig in Form von Chronologien
und Zusammenfassungen, die aus zuvor erschienenen Artikeln erstellt werden, doch
kann das gespeicherte Material auch beispielsweise für Erläuterungsboxen verwendet werden. Während es sich bei den früher
verwendeten Background-Artikeln im wesentlichen um Zusammenstellungen handelte, die auch von Nichtjournalisten erstellt werden können, ist hier die journalistische Beurteilung des Informationsmaterials gefordert.
In Zukunft könnte diese Beurteilung
bereits in einer früheren Phase einsetzen,
beispielsweise mit der Kontextauszeichnung wichtiger Fakten und Gedanken in
der redaktionellen Wissensdatenbank mittels einer Metasprache wie XML (eXtensible Markup Language). Dies böte die
Möglichkeit, einen redaktionellen Software-Agenten einzusetzen, der die gewünschten Schlüsselinformationen aus der
großen Materialmenge herausfiltert, um
weitgehend automatisch eine Chronologie
oder eine Erläuterungsbox zu erstellen.
Dieser Automationsgrad würde es den
Nachrichtenorganisationen ermöglichen,
nicht nur gelegentlich, wie es heute der Fall
ist, sondern jederzeit auf Anfrage Kontextmaterial für eine aktuelle Berichterstattung
zu liefern.
Bei einer weiteren Anwendung des
4D-Journalismus wird die Rolle der Nachrichtengewinnung dahingehend verändert,
daß sie über die reine Sammlung von Fakten und Zitaten für die Erstellung eines Ar-
Kerry J. Northrup
aktuellen Themen zu suchen, wie beispielsweise zur Lage im Kosovo oder zum letzten
Wahlgang der europäischen Parlamentswahlen, erhalten nicht einfach nur ein
automatisch aus dem digitalen Archiv generiertes Sammelsurium von Artikeln, die
mit dem Thema in Zusammenhang stehen.
Statt dessen bietet ihnen der Service Links
zu einer speziellen Materialsammlung, die
aus fachlicher Sicht der Datenbank-Journalisten für die Leser von besonderem Wert
ist. Die zur Verfügung gestellten Artikel
wurden unter dem Gesichtspunkt ausgewählt, daß sie für Leser, die sich einen
Überblick über das Thema verschaffen
möchten, möglichst umfassend, erklärend
und nützlich sein sollen und Zusammenhänge verdeutlichen.
Dieser Ansatz ermöglicht einer Nachrichtenorganisation, sich als namhafte, zuverlässige Informationsquelle zu den in
ihrem Markt relevanten Themen zu etablieren. Je mehr Materialsammlungen auf diese
Weise entwickelt werden, desto namhafter
ist die Nachrichtenorganisation, desto
größer ist aber auch der Arbeitsaufwand.
Hochaktuelle Nachrichtenereignisse können die kurzfristige Zusammenstellung einer neuen Materialsammlung erfordern
oder gar die Erstellung eines zusammenfassenden Dokuments, dessen Einzelinformationen zu sehr verstreut sind, um für einen
Datenbank-Kunden von Nutzen zu sein.
Die Implementierungsaufgaben, die
sich bei allen Initiativen im Bereich des
4D-Journalismus stellen, berühren sowohl
die Organisation als auch die Technik. Alle
Projekte dieser Art haben jedoch eines gemeinsam: die bewußte Beteiligung der
Journalisten am Aufbau der Redaktionsdatenbank und die Weigerung, wertvolles
Archivmaterial dem Zahn der Zeit zu überlassen. Man darf auf weitere 4D-Journalismus-Projekte fortschrittlicher Nachrichtenorganisationen gespannt sein, die ihre
Marktstellung in der digitalen Informationsindustrie behaupten wollen. <
tikels hinausgeht. Verschiedene Redaktionen legen zunehmend Wert darauf, eine
Vielzahl von Dokumenten und Informationen, die für ihre Berichterstattung relevant
werden könnten, zu sammeln und in ihrer
Datenbank vorzuhalten: Entwicklungspläne
und Reden, Staatshaushaltsänderungen
und Regierungsberichte und sogar Pressemitteilungen und Bekanntmachungen von
lokalen Parteien und Institutionen. Die Reporter werden beauftragt, mehr Material in
die Redaktion zurückzubringen als sie zur
Erstellung ihrer eigenen Artikel benötigen.
Sobald dieses Material journalistisch
sinnvoll in die Redaktionsdatenbank integriert ist, kann es als Ressource für künftige Berichterstattungen und die Erstellung
der obenerwähnten Kontextartikel herangezogen werden.
Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, eine Verbindung zwischen dem Kontextmaterial und den in der Zeitung veröffentlichten Artikeln herzustellen, sei es
durch Links auf der Zeitungs-Web-Site,
oder durch eine Fax-Abruf-Nummer in der
Printausgabe. Wer weitergehende Informationen zu einem Thema wünscht, wird
dann in der Zeitung eine umfassende Informationsquelle finden – nicht nur einen Zusammenfassungsdienst. Außerdem wird die
journalistische Glaubwürdigkeit erhöht, da
die Nachrichtenorganisation auch das Originalmaterial, auf das sie ihre Berichte und
Schlußfolgerungen stützt, zur Verfügung
stellt.
Inzwischen sind robuste und kostengünstige Ausrüstungen verfügbar, wie der
Strobe-Scanner von Visioneer, das Capshare 910 Information Appliance von Hewlett-Packard und der handliche M2-Multimedia-Recorder von Hitachi, mit denen die
digitale Dokumentenerfassung sowohl in
der Redaktion als auch an entfernten Nachrichtenorten immer leichter durchführbar
wird.
Eine dritte Anwendungsform des 4DJournalismus besteht darin, daß die redaktionellen Mitarbeiter qualitativ hochwertige, themenspezifische Nachrichtenpakete
kreieren und auf dieser Grundlage spezielle
Mehrwert-Präsentationen entwickeln.
Das Ifra Centre for Advanced News
Operations befaßt sich mit Innovationen
auf dem Gebiet der redaktionellen Organisation und der Nachrichtentechnologie.
Kommentare (in englischer Sprache) zu
diesem Artikel oder zu verwandten Themen
können per E-Mail direkt an Kerry Northrup unter [email protected] gerichtet
werden.
Praktische Umsetzung
Ein Beispiel dafür bietet Morgenavisen Jyllands-Posten in Dänemark. Leser,
die den Online-Dienst dieser Zeitung nutzen, um nach Hintergrundinformationen zu
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