Zwischen Tarifflucht und Renaissance von Tarifverträgen: Was kann die Tarifautonomie noch leisten? Reinhard Bahnmüller Kongress der Konrad Adenauer-Stiftung am 8. Dezember 2008 in Berlin Agenda 1. Zur Erinnerung: Was heißt Tarifautonomie 2. Zur Diagnose ¾ ¾ Tendenzen und Gründe der Erosion des Tarifsystems? Renaissance von Tarifverträgen? 3. Was leistet die Tarifautonomie noch, was nicht mehr? ¾ Ein kurzer Durchgang durch die Funktionen der Tarifautonomie 4. Fazit Diagnose (1) Veränderungen im Geltungsbereich bzw. in der Reichweite des Tarifsystems Entwicklung der Tarifbindung von Beschäftigte und Betrieben durch Flächentarifvertrag 1995 bis 2007 80 Beschäftigte Betriebe West 70 60 West Ost 50 40 Ost 30 20 10 0 1995 Quelle: IAB-Betriebspanel 2007 1996 2007 1995 2007 1996 2007 Quelle: IAB-Betriebspanel 48 42 Ve rs ic he ru La ng nd en wi rts ch af tu sw So . ns t ig e D ie ns Be te tri eb e ge Ve sa rk m eh t r/N ac hr ic H ht an en de l/% R ep ar at In ur ve st D i ie tio ns ns te gü fü te rU r nt er ne hm en ns gü te r) ec k 27 di t/ sz w te r 49 Kr e er b du kt io Er w ch sg ü e 30 (P ro oh ne ne rg i 53 it u ng n u/ E Prozent 62 of fv er ar be rg ba en we rb e ru ng ug e Ve rb ra u Be Ba zi al ve rs ich e 60 nd st /S o 50 ni sa tio ne af te n 70 O rg a ie ts kö rp er sc h 100 G ru G eb Tarifbindung der Betriebe nach Branchen 2007 (Branchen- und Firmentarifverträge) 92 90 90 West 46 40 40 29 10 39 23 20 39 32 21 38 24 36 21 Ost 80 59 46 33 19 23 14 8 0 18 Tarifbindung der Betriebe nach Betriebsgröße 2007 (Branchen- und Firmentarifverträge) 100 West 90 90 87 Ost 80 80 74 70 62 58 Prozent 60 50 50 40 35 32 30 20 19 10 0 1 bis 9 Beschäftigte Quelle: IAB-Betriebspanel 10 bis 49 Beschäftigte 50 bis 199 Beschäftigte 200 bis 499 Beschäftigte 500 u. mehr Beschäftigte lve rs ich er un ge n/ G eb i et sk ör pe rs ch af Be te rg n ba Kr u/ En ed er it/ Ve G gi ru e r s nd ic he st of ru fv ng er en ar be Ba itu ug ng ew (P er ro be du kt io ns gü In te ve r) st itio Be ns sc gü hä te f ti r gt e ge sa Ve m rb t r a O u rg ch an sg So is üt at er n io st ig ne e n D oh ie ne ns te Er we rb La sz we nd wi ck r ts ch af Ve tu rk sw eh . r /N ac hr ich Ha te nd n el Di /R en ep st e ar fü at rU ur nt er ne hm en So zia Prozent Tarifbindung von Beschäftigten nach Branchen 2007 (Branchen- und Firmentarifverträge) 100 90 80 60 50 20 Quelle: IAB-Betriebspanel 97 97 91 89 90 West 73 77 70 63 56 44 42 61 61 54 53 46 56 56 47 50 Ost 75 68 61 53 52 43 40 30 30 15 10 0 Diagnose (2): Veränderungen innerhalb des Tarifsystems Differenzierung ¾ Horizontal Verkleinerung des Geltungsbereichs von Tarifverträgen ¾ Vertikal Differenzierung im materiellen Gehalt bzw. in der Wertigkeit der Tarifverträge/Tarifregelungn nach Betrieben und Beschäftigtengruppen Dezentralisierung/Verbetrieblichung ¾ Vollständige oder teilweise Verlagerung der Regulierung der Arbeitsbedingungen von der nationalen/sektoralen Ebene auf die betriebliche Ebene ¾ Übergang vom bisherigen dualen und zweitstufigen System der Interessenvertretung zu einer neuen Form der Zweistufigkeit und neuer Grenzziehung zwischen Tarifautonomie und Betriebsverfassung Veränderter Charakter der Tarifnormen und Tarifverträge ¾ Von Mindestnormen zu Höchstnormen ¾ Von bindendem Tarifabkommen zu Orientierungsrahmen Einige Gründe für die Schwächung des Tarifsystems ¾ Wandel der Wirtschaftsstruktur und der Arbeitsmärkte • • • • • ¾ Gewichtsverschiebungen zwischen den Wirtschaftssektoren: Weniger Betrieb und Beschäftigte im produzierenden Gewerbe, mehr Dienstleistungen Rückbau alter Industrie, Aufkommen neuer Verkleinerung der Betriebsgrößen/Bedeutungsgewinn von KMUs Feminisierung der Beschäftigung Atypische Beschäftigungsverhältnisse Mitgliederverluste der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände ¾ Stabilisierungsstrategien: Mitgliederlogik versus Einfluss/Repräsentationslogik Mitgliederentwicklung DGB-Gewerkschaften 1950-2007 14.000.000 12.000.000 10.000.000 8.000.000 6.000.000 4.000.000 2.000.000 19 50 /5 1 19 52 19 54 19 56 19 58 19 60 19 62 19 64 19 66 19 68 19 70 19 72 19 74 19 76 19 78 19 80 19 82 19 84 19 86 19 88 19 90 19 91 19 93 19 95 19 97 19 99 20 01 20 03 20 05 20 07 0 West Quelle: DGB Gesamt Gegenstrategien der Gewerkschaften Frage aller Fragen: Wie kann man beim rückwärtsgehen Stärke gewinnen? ¾ Mitgliedergewinnung als oberste Organisationsaufgabe => Fokussierung der Ressourcen auf diese Organisationsaufgabe ¾ Konzentration auf die Interessen der Mitglieder => Relativierung des Repräsentationsanspruchs aller Arbeitnehmer ¾ Vorteilsregeln/Boni für Mitglieder in Tarifverträgen ¾ Stärkere Einbeziehung der Beschäftigten/Mitglieder in betriebliche Auseinandersetzungen =>Legitimationssicherung nicht nur über Output, sondern Input ¾ Konfliktorischeres Vorgehen bei betrieblichen Auseinandersetzungen Insgesamt: Stärkere Orientierung an Mitgliederlogik und weniger eine Einfluss-/Repräsentationslogik Mitgliederentwicklung Gesamtmetall 1960-2007 (tarifgebundene Mitglieder) 12.000 10.000 8.000 6.000 4.000 2.000 West Quelle: Gesamtmetall Ost Gesamt 20 06 20 04 20 02 20 00 19 98 19 96 19 94 19 92 19 90 19 88 19 86 19 84 19 82 19 80 19 78 19 76 19 74 19 72 19 70 19 68 19 66 19 64 19 62 19 60 0 Gegenstrategien der Arbeitgeber: OT-Verbände Mitgliederentwicklung Gesamtmetall 1960-2007 (mit OT-Mitgliedern) 7.000 6.000 ohne Tarifbindung 5.000 4.000 mit Tarifbindung 3.000 2.000 1.000 0 2000 2001 2002 2003 1) Tarifgebunden Gesamt Quelle: Gesamtmetall 2004 ohne Tarifbindung Gesamt 2005 2006 2007 Weitere Gründe für die Schwächung des Tarifsystems ¾ Globalisierung und Liberalisierung der Märkte, Privatisierung öffentlicher Unternehmen, Outsourcing von Unternehmen und Unternehmensteilen ¾ ¾ ¾ ¾ Tarifflucht und Nutzung von Tarifarbitrage als Wege zur Reduzierung der Arbeitskosten und Verbesserung der Wettbewerbspoition Druck auf die Insider des Tarifsystems durch Outsiderkonkurrenz Erhöhung der Outsiderkonkurrenz durch restriktiven Umgang mit Allgemeinverbindlichkeitserklärungen Im Ergebnis: verbesserte internationale Wettbewerbssituation, sinkende Lohnstückkosten, stagnierende Löhne und Gehälter – und schwache Inlandsnachfrage Renaissance der Tarifverträge? ¾ Stabilisierungsversuche der Tarifparteien durch (mehr oder weniger) kontrollierte Dezentralisierung und Flexibilisierung des Systems ¾ Stabilisierung durch Reform der Inhalte von Tarifverträgen (Beispiel ERA M+EIndustrie, TVöD) ¾ Die Wiederentdeckung der Ordnungsfunktion von Tarifverträgen durch die Arbeitgeber ¾ Nicht nur Exit als Option sondern „Umnutzung“ von Tarifverträgen ¾ Steigende Zahl von (Firmen-)Tarifverträgen Ausdruck der Krise des Flächentarifvertrags, nicht seiner Renaissance. ¾ Veränderte Diskurse aber keine belastbaren Zeichen der Stabilisierung der Tarifbindung bzw. des Systems. Anzahl Tarifverträge im Jahr 2007 • Insgesamt gültige Tarifverträge: 69.592 (1996: 45.148) davon Verbandstarifverträge: Firmentarifverträge: 36.996 32.596 2007 neu abgeschlossen 5.694 Gültige Firmentarifverträge 1990 bis 2006 10.000 9.000 8.000 7.000 6.000 5.000 4.000 3.000 2.000 1.000 0 1990 Quelle: Tarifregeister 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 West 1998 1999 Ost Gesamt 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 Was leistet die Tarifautonomie noch, was sollte sie leisten? Für die Beschäftigten - Schutzfunktion: durchlöchert - Verteilungsfunktion: ausgesetzt - Partizipationsfunktion: bedingt Für die Arbeitgeber - Friedensfunktion: ja, aber Gefahr der Verbetrieblichung der Konflikte - Kartellfunktion: sehr eingeschränkt - Ordnungsfunktion: teils ja, teils nein Für den Staat - Entlastungsfunktion: Tendenz rückläufig - Legitimationsfunktion: Tendenz rückläufig - politische Integrationsfunktion: Fazit ¾ Tarifsystem und Tarifautonomie erheblich geschwächt. Ca. 70% der Betriebe und 50% der Beschäftigten außerhalb des Systems ¾ Einige relativ stabile Kern bei zunehmender Zahl erodierter, teilweise kollabierter Bereiche ¾ Eigeninitiative der Tarifparteien zur Stabilisierung des Systems und der Verbände nur bedingt erfolgreich ¾ Kritische Schwelle in einigen Branchen bereits unterschritten, d.h. Tarifparteien werden aus eigener Kraft das Tarifsystem dort nicht mehr restabilisieren können Ein Schutzschirm zur Gewährleistung der Tarifautonomie tut Not !
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