Oberbürgermeister Burkhard Jung, Leipzig Rede zum Neujahrsempfang der Stadt Frankfurt am Main 13. Januar 2015 „Sehnsucht nach Freiheit - 25 Jahre Friedliche Revolution“ Es gilt das gesprochene Wort! Sehr geehrte Damen und Herren, verehrte Frankfurterinnen und Frankfurter, verehrte Gäste, lieber Peter, einen ganz herzlichen Dank für die Einladung der Stadt Frankfurt an die Stadt Leipzig. (Peter, du kannst Dir sicher sein, ich wäre auch ohne das Fass Wein gern nach Frankfurt gekommen, aber nehme es natürlich sehr gern mit nach Hause. Und … ähm … wir werden Verwendung dafür finden. Danke!) Es ist ein wunderbarer Anlass, hier in Frankfurt gemeinsam in das 25. Jahr der Deutschen Einheit zu starten. Im Herbst vergangenen Jahres haben wir in Leipzig am 9. Oktober das Lichtfest gefeiert um an den Tag zu erinnern, an dem 1989 erstmals über 70.000 Menschen über den Leipziger Ring liefen und damit den Anfang vom Ende der DDR einläuteten. Die Menschen überwanden endgültig ihre Angst und gingen auf die Straße. Heute ist unstrittig, der 9. Oktober 1989 war das zentrale Ereignis, das die Diktatur zum Einsturz brachte. Es gäbe keine Deutsche Einheit ohne die mutigen Leipzigerinnen und Leipziger von 1989. Der Mauerfall am 9. November 1989 ist das Ergebnis der Revolution der Freiheit am 9. Oktober. 25 Jahre später sind im Herbst vergangenen Jahres 200.000 Menschen mit Kerzen in die Leipziger Innenstadt gekommen um gemeinsam mit dem Bundespräsidenten und den Präsidenten unserer Nachbarn Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn an den Herbst 1989 zu erinnern. Blickt man aus heutiger Perspektive zurück, in die Zeit von vor 1989, so drängen sich Fragen auf: Wo stünden wir heute ohne die mutigen Bürgerinnen und Bürger von Leipzig? Wie würden wir heute leben, hätte es die Friedliche Revolution nicht gegeben? Wie wäre der Kalte Krieg weitergegangen? Aber auch: Woher nahmen die Menschen 1989 die Kraft, den Mut und die Geradlinigkeit, gegen ein System aufzustehen, das ihnen mit Gewalt entgegenstand und mehrfach bewiesen hat, diese auch anwenden zu wollen? Hört man den Menschen zu, die die Diktatur erlebt haben, folgt man ihren Geschichten, erfährt ihre Hoffnungen und Träume, so erkenne ich immer wieder: Es war die Sehnsucht nach Freiheit die den Leipzigerinnen und Leipziger die Kraft gab aufzustehen. Doch je länger wir in der Freiheit leben, scheint der Wert der Freiheit zu verschwimmen. Natürlich ist jedes Urteil von Zeitgenossen gegenwartsgetränkt, zumal wenn es einen Rückblick auf die eigene Vergangenheit mit einschließt. Aber die Behauptung, dass die Friedliche Revolution eines der herausragenden Ereignisse der deutschen Geschichte des 20.Jahrhunderts darstellt, wird von niemandem ernsthaft in Zweifel gezogen. Für die Geschichte der Demokratie in Deutschland bildet sie möglicherweise das Zentralereignis. Zum ersten Mal gelang es einer gewaltlosen Bewegung von Bürgerinnen und Bürgern ein gewaltbereites Regime dauerhaft zu entmachten, ohne in der Folge einer neuen autoritären Versuchung zu erliegen. Mit der Distanz zu einem Ereignis wächst die Schwierigkeit der Erinnerung. Es sind nicht nur die Fakten, die verschwimmen, sondern auch deren Bedeutung. Oft treten dann die Verniedlicher und Relativierer auf den Plan, um scheinbar unverdächtige Fragen zu stellen: War vor 1989 alles gar nicht so schlimm? Haben sich die Wünsche der damaligen Revolutionäre verwirklicht? Dementiert die spätere Entwicklung den Sinn der Ereignisse von 1989? Eine demokratische Öffentlichkeit muss den Raum für ein kritisches Erinnern und Bedenken stets offen halten. Sie muss, ebenso rational wie politisch eindeutig, ein Medium des kritischen Nachdenkens und der zeitgenössischen Vergewisserung sein. Wir erinnern uns: Dies war einer der guten Gründe, warum die Menschen 1989 in Leipzig und anderswo auf die Straße gegangen sind. Wofür stehen wir heute? Was ist uns heute wichtig? Was hält uns zusammen? Eine Verständigung über die gemeinsamen und unveräußerbaren Grundlagen unseres Zusammenlebens ist von großem Gewicht. Gerade in Zeiten schneller Veränderungen, die den Menschen viel abverlangen, die von religiösem Wahn und Gewalt von außen und bornierter Kleingeistigkeit von innen getrieben sind, ist die Frage nach Sinn und Ziel der gemeinsamen Anstrengungen zwingend erforderlich. Die Sehnsucht nach Freiheit war ein starker Motor für die Menschen, die vor 1989 Unfreiheit erlebt haben. Wer die Unfreiheit erleben musste, für den hat das Erleben der Freiheit mehr Kontrast. Bei genauer Beobachtung erkennt man seit einiger Zeit einen gewissen Zungenschlag in dieser Diskussion. Die Werte scheinen Gefahr zu laufen, ihre Bodenhaftung zu verlieren. Natürlich: Wir brauchen Ideale und Ziele. Aber von gleichem Gewicht sind soziale und politische Alltagsverhältnisse, die den Werten die Luft zum Atmen geben. Freiheit ist eben mehr als die Freiheit von etwas. Was geschieht mit unserer Gesellschaft, wenn der Kontrast zwischen Licht und Schatten immer größer wird? Wer gestaltet die Gemeinschaft, die Lauten oder die Leisen? Denn: Wovon man überzeugt ist und was man als richtig erkennt, hat stets mit dem zu tun, was man tut, in welcher sozialen Lage man ist. Die Welt erscheint aus dem Penthouse etwas anders als aus der Perspektive des Kellers. In der Bodenhaftung der Weltsicht könnte ein großer Vorteil ostdeutscher Menschen in der Wertediskussion bestehen. Werte sind umso überzeugender, je stabiler die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Strukturen sind, die ihre Geltung garantieren. Werte werden zum Schein, stehen sie im Widerspruch zu den Bedingungen, die unser Leben bestimmen. In dieser Hinsicht besitzen vielleicht gerade die Ostdeutschen angesichts ihrer Transformationserfahrungen ein feines Gespür. Wir sollten bei unserer Wertediskussion nicht vergessen: Immer noch sind es lebendige Menschen, die das Glaubwürdige einer Moral, einer Gesellschaft, einer Politik, verkörpern. Diese Glaubwürdigkeit beweist sich im Alltag und Vor-Ort - da, wo man die Leute kennt und man selbst erkannt wird - und nicht im gleißenden Licht der Scheinwerfer. Nur wenn das, was wir sagen, im Einklang steht mit dem, was wir tun, nur wenn wir auf der Ebene der Städte und der Länder, der Wirtschaft, der Religionsgemeinschaften Personen besitzen, die für eine solche unverwechselbare demokratische Identität stehen, nur dann werden unsere europäischen Werte dauerhaft jene Kraft entfalten, die sie trotz ihres hohen Alters immer noch so anziehend machen. Ein kluger Mann hat einmal behauptet: Illusionen sind dazu da, den Zustand zu verändern, der der Illusionen bedarf. Vielleicht sind die vielbeschworenen Werte Illusionen. Vielleicht müssen sie gar Illusionen sein - und bleiben. Aber dies in einem besonderen Sinne, nämlich dem, dass Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit, Toleranz und Mündigkeit nie in Gänze - in welcher politischen Wirklichkeit auch immer - aufgehen, sondern stets eine Aufgabe bleiben, der wir um der Demokratie willen genügen müssen. Der Einsatz dafür ist eine Freiheit „zu“ handeln. Die Freiheit von „etwas“ ist im Rahmen dieser Dimension zu wenig. Demokratie braucht streitbare Menschen, die in der Freiheit zu Toleranz und Geschwisterlichkeit handeln. Sehr geehrte Damen und Herren, verehrte Gäste, ich stehe heute hier vor Ihnen als Oberbürgermeister der Stadt Leipzig. Mein Leben begann im Westen Deutschlands im Siegener Land und hat mich in den frühen 90iger Jahren in den Osten Deutschlands nach Leipzig geführt. Meine Kinder sind in Leipzig groß geworden und wird haben im Osten Deutschlands unser zuhause gefunden. Die Deutsche Kanzlerin und der Bundespräsident sind Ostdeutsche, die Verantwortung für ganz Deutschland übernehmen. An Leipzigs Universität haben sich zum vergangenen Semesterbeginn erstmals mehr Studenten aus dem Westen unseres Landes beworben als aus dem Osten. Die Genzen zwischen Ost und West sind längst nicht mehr! Als ich vor über 20 Jahren nach Leipzig kam, sendete das ZDF eine Dokumentation mit dem Titel: „Ist Leipzig noch zu retten?“ Und dieser Titel war in Anbetracht der desolaten Struktur und der exorbitanten Arbeitslosigkeit sehr ernst gemeint. Heute ist Leipzig das Zentrum einer einer der dynamischsten Wachstumsregionen unseres Landes. Die Stadt gehört seit 2010 zu den am schnellsten wachsenden Städten Deutschlands. In den vergangenen sieben Jahren hat sich Leipzigs Arbeitslosigkeit halbiert und sinkt dank industriellem Wachstum immer weiter. Wir konnten massiv Schulden abbauen und investieren in Zukunftsprojekte, Infrastruktur, Kitas und Schulen. Meine Damen und Herren, wir stehen im 25. Jahr der deutschen Einheit und können feststellen: ja, unser Land hat sich verändert. Gemeinsam haben wir es vollbracht, aus dem wiedervereinten Land ein Land werden zu lassen. Längst spielt der Unterschied zwischen Ost und West kaum noch eine andere Rolle, als der Unterschied zwischen Nord und Süd. Der Aufbau Ost ist eine Erfolgsgeschichte! Das können, dürfen und sollten wir alle gemeinsam feiern! Verehrte Festgäste, ich wünsche Ihnen allen ein friedvolles, glückliches, erfolgreiches und gesundes Jahr 2015. Ich wünsche uns allen ein gutes 25. Jubiläum der Deutschen Einheit. Und ich wünsche uns allen weiter ein festes Fundament: der Freiheit, der Gleichheit, der Geschwisterlichkeit, der Toleranz und der Mündigkeit und bin mir sicher, dass uns in dieser Klarheit eine gute Zukunft bevorsteht und uns weder Kleingeister im eigenen Lande noch religiöse Fanatiker von irgendwo erschüttern können. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
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