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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Forum Buch
Vom 05.03.2017 (17:05 – 18:00 Uhr)
Redaktion und Moderation: Katharina Borchardt
Mit neuen Büchern von: Karl Heinz Bohrer, Christine Wunnicke, David Van
Reybrouck, Anne Weber, Niroz Malek, Kim Thúy
Karl Heinz Bohrer: "Jetzt"
Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie
Suhrkamp Verlag
542 Seiten
26 Euro
Gespräch mit Frank Hertweck
Christine Wunnicke: "Katie"
Berenberg Verlag
176 Seiten
22 Euro
Rezension von Ulrich Rüdenauer
David Van Reybrouck: "Zink"
Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert
Suhrkamp Verlag
60 Seiten
10 Euro
Rezension von Eva Karnofsky
Anne Weber: "Kirio"
Fischer Verlag
224 Seiten
20 Euro
Gespräch mit Carsten Hueck
Niroz Malek: "Der Spaziergänger von Aleppo"
Aus dem Arabischen von Larissa Bender
Weidle Verlag
144 Seiten
17 Euro
Kurzkritik von Katharina Borchardt
Kim Thúy: "Die vielen Namen der Liebe"
Aus dem Französischen von Andrea Alvermann und Brigitte Große
Antje Kunstmann Verlag
150 Seiten
18 Euro
Rezension von Margrit Irgang
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Service:
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Christine Wunnicke: "Katie"
Rezension von Ulrich Rüdenauer
Beitrag
Was für eine kunterbunte Figurenfamilie Christine Wunnicke im Lauf der Jahre um
sich geschart hat: einen schottischen Rockmusiker; die zwei Filmpioniere Selig und
Boggs; nicht zu vergessen den japanischen Nervenarzt Shimamura. Oftmals sind
diese Figuren nicht nur exzentrisch und mit einer jeweils sehr besonderen Obsession
gesegnet, sondern auch historisch verbürgt – wenngleich sie in Wunnickes Büchern
ein wunderbares Eigenleben entwickeln. In welchen entlegenen Bibliotheken und
Nachschlagewerken fahndet die Autorin eigentlich nach ihren Helden oder
Geschichten?
O-Ton 1 Christine Wunnicke
Die finden mich, da muss ich nicht suchen. Die fliegen mir zu.
Beitrag
Christine Wunnicke meint das sehr ernst: An ihren Doktor Shimamura ist sie zum
Beispiel über Google geraten – ein falscher Suchbegriff hat sie auf verschlungenen
Pfaden nach Japan und zur Fuchskrankheit geführt. Ihrem neuen Roman „Katie“ ging
allerdings ein von ihr verfasstes Radiofeature für den SWR zum Thema „Spiritismus“
voraus, und bei der weiteren Recherche stieß sie auf ihre beiden Helden.
O-Ton 2 Christine Wunnicke
Die kamen Hand in Hand, die traten in mein Leben, Florence Cook und
William Crookes. ... der Atomphysiker mit dem Gespenst am Arm, das fand
ich einfach zu schön, es war eigentlich hauptsächlich dieses Foto. Es gibt ein
Foto, wo Crookes die verschleierte Katie so am Arm präsentiert, als wenn er
sie zu einem Debütantinnenball führt. Und da hab ich gedacht, okay, das
guck ich mir jetzt mal genauer an.
Beitrag
Die Geschichte hat es tatsächlich in sich: Der Leser findet sich im Viktorianischen
England wieder, wo spiritistische Séancen der letzte Schrei sind und materialisierte
Geister zur besseren Gesellschaft gehören. Man kann mit besonderen
paraphysischen Fertigkeiten sogar berühmt werden, und die sechzehnjährige
Florence Cook sehnt sich nach wenig mehr als nach Ruhm. Das ätherische Wesen
hat das Talent, sich wie von Geisterhand aus Fesseln zu lösen, die man ihr während
spiritistischer Zusammenkünfte gewissenhaft anlegt. Eines Tages lockt dieses
begabte Medium aber sogar einen richtigen Geist namens Katie herbei – Tochter
eines walisischen Seeräubers aus dem 17. Jahrhundert, ein regelrechter Tomboy,
verführerisch, dabei durchaus handfest und derb.
Zitat
„An diesem Abend trat Miss Cooks Materialisierung zum ersten Mal aus dem
Schrank. Sie war nicht am Hals zu Ende. Sie war kein Gesichtchen. Sie war
eine Frau, älter als Florence, auch etwas größer und schwerer als Florence,
in einem weißen Hemd, mit hellerem Haar als Florence, halb bedeckt von
einem weißen Tuch. Noch hielt sie sich an der Schranktür, als kämpfe sie
Schwindel nieder, dann tat sie drei Schritte und lächelte. Selina schrie leise
auf. Der Gesang verstummte. Und es gab ein Gewirr, der Mann ohne
Namen, der sich später als Spion eines eifersüchtigen Mediums aus Brixton
herausstellte, war aufgesprungen und griff zu, griff nach dem Tuch, nach
dem Geist, der noch immer lächelte, und Mrs. Cook griff nach dem Mann und
der Mann schrie »Miss Florence, ha !«“
Beitrag
Das Spektakel polarisiert: Wer nicht fasziniert die Geistererscheinung verfolgt,
vermutet faulen Zauber. Florence wird gar als Betrügerin denunziert. Hier nun kommt
der seriöse Physiker und Chemiker William Crookes ins Spiel, der die
Materialisierung des Mediums genauer unter die wissenschaftliche Lupe nehmen
soll. Wunnicke erzählt von zwei Leben, die sich hier schicksalhaft miteinander
verflechten: jenes des leicht mürrischen, etwas verkannten Gelehrten und jenes der
ruhmsüchtigen, in andern Sphären schwebenden Florence. William Crookes gab es
ebenso wie Florence Cook wirklich. Für die Wissenschaft hat er allerlei geleistet,
Kathodenstrahlen sichtbar gemacht oder radioaktive Strahlung nachgewiesen. Als
Parapsychologe betrachtete er sich ebenfalls, veröffentlichte dazu Aufsätze und
Bücher und erstellte Gutachten. Unter anderem widmete er sich dem Phänomen
Florence Cook – und attestierte dem Medium übersinnliche Kräfte. Man mag es
kaum glauben: Ein anerkannter Forscher begibt sich in die Abgründe des
Irrationalen.
O-Ton 3 Christine Wunnicke
Das liegt vielleicht daran, weil man sich mit Phänomenen befasst, die auch
sehr weit von der faktischen Alltagswahrnehmung weg sind, und da gibt's
Berührungspunkte. Weshalb das eine solche Mode in der Naturwissenschaft
im Viktorianischen England gerade wurde, das ist mir eigentlich immer ein
bisschen ein Rätsel geblieben. Aber es hat eine gewisse Schlüssigkeit.
Sowas wie Telegrafie und die neuen Herzwellen, die Radiowellen, das sind
alles plötzlich Kräfte, die da wirken, die man vorher nicht kannte. Und da hat
man dann schnell eine Vorstellung, dass man vielleicht auch Methoden so
kommunizieren kann. Es gibt die Geschichte, dass der Morse, bevor er den
Morse-Apparat erfunden hat, eigentlich nur mit seinem toten Bruder reden
wollte. Da gibt's Verbindungen, aber eine eindeutige Gleichung kann man da
echt nicht aufstellen, das ist schwierig.
Beitrag
Die Geschichte, die Christine Wunnicke erzählt, nimmt groteske Züge an.
Hochkomisch ist es, wenn Geist Katie den verschiedenen Protagonisten des nachts
und in den unmöglichsten Situationen erscheint: der Ehefrau von Crookes ebenso
wie seinem Assistenten Pratt, der vor allem von Katies androgynem Wesen
angezogen ist – der schüchterne junge Mann wird nämlich von dem Gespenst mit
eigenen, uneingestandenen Neigungen vertraut gemacht.
Zitat
„Dunkel war es in Jeremiah Pratts schmalem, jungfräulichem Bett, und fort
war das Glühen im Haar des Geistes, und Pratt dachte, oder flüsterte gar,
»p-strich gleich p plus df durch dt«, und all das Schöne explodierte langsam
und lautlos und lange, nach dem Gesetz der elektrischen Elastizität und oh,
dem Durchflutungsgesetz. Jeremiah Pratt erwachte erhitzt, verstört, erzürnt,
besudelt, beglückt. »Jetzt gehörst du mir, Pratt.« Das hatte einer gesagt.“
Beitrag
Katie ist eine Art Projektionsfläche – jeder sieht in ihr, was er sehen will und im
Leben vermisst; und die Entfesselungskünstlerin Florence zeigt auf, unter welchen
Fesseln – gesellschaftlichen und sexuellen – die Menschen ringsum leiden. Der
Geist ist wie ein Katalysator. Mit ihm haben die Protagonisten Zugang zu ihren
Träumen. Und William Crookes gelingt, in einer Mischung aus Wahn und Genialität,
sogar sein wissenschaftlicher Durchbruch. Ihr Glück allerdings finden die Helden
nicht unbedingt.
Es ist großartig, wie fein Christine Wunnicke auf beschränktem Raum ihre Figuren
zum Leben erweckt, wie sie die Geister einer vergangenen Zeit in komprimiertester
Form einfängt, pointierte Dialoge hinschmettert, zugleich aber mit Ironie eine
wohlkalkulierte Distanz zu den Geschehnissen wahrt. Wie sie fast schon filmische
Kulissen und eine eigentümlich flirrende Atmosphäre schafft. Es ist ein kleines
literarisches Meisterstück, auf knapp 150 Seiten solch eine Fülle entstehen zu
lassen.
O-Ton 4 Christine Wunnicke
Das (…) ist die Entwicklung von meiner ganzen Tätigkeit. Ich hab ja
angefangen mit einem relativ dicken Buch, und dann mit normal dicken
Büchern, würde ich sagen. Und ich hab – das ist auch schon wieder ein paar
Jahre her – einmal eine Novelle geschrieben, die ich auch wirklich für eine
Novelle halte, und da hab ich mich irgendwie reinverliebt in diese Länge, in
diese, ja, unter 150-Seiten-Länge, das hat irgendwie was, es macht einen
großen Spaß, das runterzuschleifen. (…) Und das ist zwar nicht ein sehr
romanhaftes Vorgehen, ich sag immer, ich schreib Roman-Haiku. (…) Es
kriegt ein bisschen was Exemplarisches, es bleibt schwebend, man muss
nicht alles ausführen, man kann auch Sachen besser offen lassen, als wenn
man einen großen, dickleibigen Roman schreibt. (…) im Moment ist das
irgendwie eine Form, die mir sehr zusagt.
Beitrag
Ein steter Prozess der Verknappung und Verdichtung: Erzählerische Ökonomie und
poetische Verschwendung stehen in einem wunderbar ausgewogenen Verhältnis.
Christine Wunnickes Bücher haben im Heraufbeschwören von fremden Szenerien
und verschollenen Geschichten allesamt etwas Magisches – sie beschwören Geister.
Im neuen Buch sogar wortwörtlich. Wie aber ist überhaupt die Begeisterung für
Literatur und das Schreiben entstanden?
O-Ton 5 Christine Wunnicke
Ich muss ehrlich sagen, was das ausgelöst hat, war, dass ich nicht schreiben
konnte. Da war ich vier. Und hab entdeckt, dass Menschen schreiben
können und ich nicht, und daraufhin hab ich beschlossen, meiner Mutter ein
Buch zu diktieren. Und seitdem habe ich nie mehr aufgehört, also, nicht,
meiner Mutter alles zu diktieren. Das war ein Neid auf schreibende Leute, da
hab ich gedacht, man muss irgendwie Geschichten machen, auch wenn man
nicht schreiben kann. Das ist die ehrlichste Antwort, die ich Ihnen geben
kann. Ich könnte irgendwas Schöneres mir ausgedacht haben, aber es ist so.
So ist es, die Wahrheit.
Beitrag
Die Wahrheit über Katie, ihr Medium Florence und den Wissenschaftler Crookes, der
später im Schatten anderer Forscher ein wenig in Vergessenheit geriet, kann man in
Lexika nachlesen. Wunnickes Buch hingegen bietet wahrhaftige, vielschichtige und
eigensinnige Figuren. Wie es mit diesen endet, darf hier allerdings nicht verraten
werden. Nur so viel: Man erliegt der Magie dieses Romans vom ersten bis zum
letzten Satz.
David Van Reybrouck: "Zink"
Rezension von Eva Karnofsky
Neutral-Moresnet ist ein einzigartiges Fleckchen Erde. Es liegt südwestlich von
Aachen, wurde auf Deutsch früher Altenberg genannt und war von 1816 bis 1919 ein
von den Nachbarländern unabhängiges Territorium, das sich selbst regierte. Es
grenzte an Belgien, die Niederlande und Preußen und zuletzt dann für kurze Zeit an
das Deutsche Reich. Wobei sowohl Belgien als auch Preußen das Gebiet für sich
beanspruchten. Der Grund war eine Mine, die ganz Europa mit seltenem Zinkerz
versorgte. Im Ersten Weltkrieg wurde Neutral-Moresnet, das damals 4668 Einwohner
zählte, von deutschen Truppen besetzt, 1919 dann Belgien zugeschlagen. Während
des Zweiten Weltkrieges wurde es von den Nazis okkupiert, seit Kriegsende zählt
Neutral-Moresnet wieder zu Belgien und heißt heute Kelmis.
Emil Rixen wurde 1903 in Neutral-Moresnet geboren, und David Van Reybrouk stellt
diesen Mann in den Mittelpunkt seines Buches Zink, denn der 1971 verstorbene
ehemalige Bäcker hat am eigenen Leibe erlitten, was es heißt, aus einem solch
einzigartigen, neutralen Ort zu stammen, um den sich die Nachbarländer förmlich
rissen. In dem Haus, in dem Rixen einst gelebt hat, konnte Historiker Van Reybrouck
mit dessen Tochter Betty über ihren Vater sprechen:
1. Zitat:
„Innerhalb weniger Stunden in dem stillen Haus erfuhr ich, dass er nicht nur elf
Kinder, sondern auch fünf Staatsangehörigkeiten und zwei Identitäten gehabt hatte.
Ein sehr bewegtes und dabei alles andere als rosiges Leben.“
Emil Rixens Mutter Maria war Preußin. Sie hatte als Dienstmädchen in Düsseldorf
gearbeitet, war vom Dienstherrn schwanger und aus dem Haus gejagt worden. Zur
Familie zurückzukehren – das war im strengen Preußen undenkbar. Und in NeutralMoresnet gab es Arbeit, dank der Zink-Mine, und weil der Ort damals ein Paradies
für Schmuggler war.
2. Zitat:
„Mit der Eisenbahn kann sie nach Köln fahren, südwärts den Rhein entlang, und
dann westwärts durch die Eifel nach Aachen. Vor dort aus kann sie das neutrale
Gebiet erreichen, acht Kilometer weiter. Es ist nicht groß, weiß sie, ... , aber in dem
winzigen Zwergstaat Neutral-Moresnet ist man weniger eingeengt als im
weiträumigen Preußen. Es sind mehr Mädchen dorthin gegangen, aus Deutschland,
aus Belgien, sogar aus der Schweiz. Man wird dort in Ruhe gelassen“,
David Van Reybrouck kümmert sich nicht um die politisch und wirtschaftlich
Mächtigen, sondern er erklärt Geschichte von unten, er recherchiert, was politische
Entscheidungen und Winkelzüge für die Bürger bedeutet haben, die mit deren
Konsequenzen jeden Tag zurecht kommen mussten. Das macht sein Buch Zink
verständlich und anschaulich. Zwar betreibt er durchaus historisches
Quellenstudium, wie die Literaturliste am Ende des Buches belegt, und er hat auch
mit Zeitzeugen sowie mit Rixens Tochter gesprochen, doch stilistisch und im Aufbau
ähnelt sein Buch eher einer Erzählung als einer geschichtswissenschaftlichen
Abhandlung, da er auch versucht, die Gefühle der Neutral-Morseneter
nachzuempfinden.
Van Reybrouck erzählt in der Ich-Form von seinen Interviews und Beobachtungen
vor Ort, und sprachlich bewegt er sich im Bereich der Belletristik. Seine
Ausdrucksweise ist oft poetisch, und er verwendet gern Metaphern.
Emil Rixen steht mit seinen Erfahrungen und Erlebnissen für alle in Neutral-Moresnet
geborenen Menschen, als dieses noch ein unabhängiges Territorium war. Wir
erinnern uns – Maria brachte ihn 1903 zur Welt.
3. Zitat:
„Ihr Sohn bekommt ihren Nachnamen, nicht jedoch ihre Staatsangehörigkeit.
Während sie Preußin bleibt, wird er als >>Neutraler<< registriert.“
Rixen wechselte im Laufe seines Lebens fünfmal die Staatsbürgerschaft - das sagt
sich so leicht. Doch den Bewohnern von Neutral-Moresnet brachte das nur Ärger und
Sorgen ein, und darum geht es hauptsächlich in Van Reybrouks Buch. So will Emils
leiblicher Vater, den er in Düsseldorf ausfindig macht, nichts von ihm wissen, weil der
uneheliche Sohn nach 1919 Belgier ist und gerade seinen Wehrdienst ableistet.
4. Zitat:
„Wenn das sein Sohn ist, wie der linkische junge Bursche vor der Haustür hartnäckig
behauptet, warum trägt er dann um Himmels willen die Uniform der verhassten
belgischen Besatzer des Ruhrgebiets?“
Nach der Besetzung Neutral-Moresnets durch die Nazis im Jahr 1940 wird Emil dann
in eine deutsche Uniform gesteckt und ins Hohe Venn in Belgien geschickt, um
gegen die ehemaligen Landsleute und die anrückenden Amerikaner zu kämpfen.
5. Zitat:
„Dann trifft er eine Entscheidung. Desertieren hätte er es nicht zu nennen gewagt.
>>Als sich alle anderen zurückzogen, bin ich dem Feind entgegengegangen!<<
wurde sein Standardwitz in den Nachkriegsjahren. Beim Hochmoor am Mont Rigi
verdrückt er sich... Wenn ihn deutsche Soldaten erwischen, werden sie ihn
standrechtlich erschießen.“
Nach dem Krieg, bevor er wieder Belgier wird, inhaftieren ihn die Amerikaner als
Deutschen, der im Dienst der Wehrmacht gestanden hat. Niemanden interessiert,
dass dies nicht freiwillig war.
6. Zitat:
„Er hat keine Grenzen überschritten, die Grenzen sind über ihn hinweggegangen. ...
Und da kauert er nun, Emil, inmitten deutscher Soldaten und ehemaliger Nazis,
obwohl er seinen Sohn nach dem belgischen König benannt hat und obwohl sich
seine Frau geweigert hat, das Mutterkreuz anzunehmen. Da kauert er nun, der
Mann, der in der belgischen Armee Deutschland besetzt hat, das uneheliche Kind,
der Mann, dessen Identität so oft wie ein Klumpen Zinkerz geschmolzen wurde, dass
ihm nur fatalistische Resignation bleibt.“
Rixen stirbt mit 68 Jahren, verschlissen von einem entbehrungsreichen Leben.
Die Zink-Minen schlossen bald nach dem Krieg, weil sie nicht mehr rentabel waren.
Geblieben ist die Erinnerung an einen Ministaat, der einst entstanden war, weil sich
der Wiener Kongress 1805 nicht eindeutig über die preußisch-niederländische
Grenze geäußert hatte und weil alle an seinem Zinkerz interessiert waren. Einige
Enthusiasten hätten Neutral-Moresnet gern zum ersten und einzigen EsperantoStaat auf der Welt gemacht, doch auch daraus wurde nichts.
Zink ist vor allem eine anrührende Familiengeschichte, die zeigt, wie Menschen zum
Spielball der Weltpolitik werden. Außerdem erinnert Autor David Van Reybrouck an
ein vergessenes Kuriosum europäischer Geschichte, das der Leser in seinem
spannenden Buch wiederentdecken kann.
Kim Thúy: "Die vielen Namen der Liebe"
Rezension von Margrit Irgang
Autorin
Der neue Roman der vietnamesisch-kanadischen Autorin Kim Thúy ist
eine Meditation über die Liebe. Im Vietnamesischen, schreibt sie, gäbe es sechs
Varianten des Wortes „Lieben“: bis zum Wahnsinn lieben; lieben, bis man Wurzeln
schlägt wie ein Baum; rauschhaft lieben, bis zur Bewusstlosigkeit, bis zur
Erschöpfung, bis zur Selbstaufgabe lieben. In diesem Roman entdeckt die IchErzählerin Vi, dass es noch andere Ausdrucksformen der Liebe gibt – solche, die auf
den ersten Blick gar nicht wie Liebe aussehen und die man auch erst später im
Leben versteht.
Vi wächst als verwöhnte kleine Schwester von drei Brüdern in einer
wohlhabenden Orchideenzüchter-Familie in Saigon auf. Ihre Mutter vergöttert ihren
Mann, hält alle Unannehmlichkeiten von ihm fern und übersieht großzügig seine
zahlreichen Geliebten.
Zitatorin
Schon im ersten Jahr ihrer Ehe schuf sie den Thron, auf dem sich mein
Vater als Herrscher seines Königreichs fühlen konnte, indem sie eine Villa und ein
Lager in Saigon erwarb. Mein Vater war Herr und Meister über diese Anlaufstelle für
Händler und Käufer, die dort ihre Bestellungen abgaben, und leitete offiziell das von
meiner Mutter zusammengestellte Team. Meine Mutter erklärte den Angestellten,
dass mein Vater an zahlreichen gesellschaftlichen Veranstaltungen teilnehmen
müsse, weshalb es streng verboten sei, ihn morgens, mittags, während der Siesta
oder in den Zeiten, in denen er nachdachte, zu stören.
Autorin
Als sie längst in Kanada lebt, erinnert sich Vi in kurz aufleuchtenden
Szenen an das Glück einer sorglosen Kindheit und an den Tag, an dem es zerbrach:
Am 30. April 1975 erobern nordvietnamesische kommunistische Truppen die Stadt
Saigon; Intellektuelle werden in Umerziehungslager gesteckt, Firmenbesitzer
enteignet. Vi lernt einen weiteren Ausdruck von Liebe kennen, den sie erst als
Erwachsene versteht: Há, die Freundin der Mutter, heiratet einen kommunistischen
General, um ihre Familie zu schützen. Und Vis tatkräftige Mutter lässt schließlich den
geliebten Mann, der nicht fliehen will, zurück, um ihre Kinder in Sicherheit zu bringen.
Mit Hilfe eines Schleppers gelangen sie in ein Flüchtlingslager in Malaysia. In ruhigen
Worten, die das Grauen noch unterstreichen, erinnert sich die erwachsene Vi an
Eindrücke aus dem Lager, vor allem an die Frau, die vierzehn Kinder bei sich hat und
nicht weiß, wer diese sind.
Zitatorin
Sie hatte mitansehen müssen, wie ihrem Sohn die Kehle
durchgeschnitten wurde, weil er es gewagt hatte, sich auf den Piraten zu stürzen, der
seine schwangere Frau vergewaltigte. Als ihr Sohn und ihre Schwiegertochter ins
Meer geworfen wurden, fiel diese Mutter in Ohnmacht. Was danach geschah, wusste
sie nicht. Sie erinnerte sich nur daran, unter Leichen liegend vom Weinen der
vierzehn überlebenden Kinder aufgewacht zu sein.
Autorin
In Québec angekommen, arbeitet die Mutter als Spülerin im Restaurant;
die Brüder leben sich mühelos ein, aber Vi fällt es als Mädchen nicht leicht, den
westlich-freien Lebensstil mit ihrer asiatischen Erziehung in Einklang zu bringen. Als
Studentin geht sie eine Beziehung mit einem jungen Vietnamesen ein, wodurch sie
ihre Familie und die Familie des Mannes entehrt.
Zitatorin
Durch Personen, denen ich nie begegnet bin, kamen diese Nachrichten
auch meiner Mutter zu Ohren. Nach meiner ersten Prüfung in Verfassungsrecht
wartete sie vor meiner Wohnung. Kaum hatte sie den Fuß über die Schwelle gesetzt,
lag ich schon vor ihr auf den Knien. Sie zog nicht einmal ihren Mantel aus, weil sie
nur zwei Sätze zu sagen hatte: „Ich habe bei deiner Erziehung versagt. Ich bin nur
gekommen, um meinem Scheitern ins Antlitz zu sehen.“ Dann ging sie, so schnell sie
gekommen war, und fuhr mit meinem Bruder Lôc, der im Auto auf sie gewartet hatte,
davon.
Autorin
Kim Thúy macht nicht den Versuch, solche krassen kulturellen
Unterschiede erklären zu wollen oder gar Vorschläge für ihre Lösung zu machen. So
wird für uns als Leser die Zerrissenheit von Vi zwischen zwei Kulturen und ihre
Suche nach sich selbst nachvollziehbar. Ihre strenge, aber kluge Mutter erlaubt ihr
irgendwann, bei der ebenfalls geflohenen Freundin Há, die inzwischen in Ottawa
verheiratet ist, zu leben, und Vi fühlt sich zuerst weggeschickt. Aber dann kehrt sie
als Mitglied einer Delegation für den Wiederaufbau des Landes nach Vietnam
zurück, wo sie Vincent begegnet, der ihre große Liebe wird. Er hilft ihr zu erkennen,
dass die Handlung der Mutter ein Ausdruck ihrer Liebe zur Tochter war.
Zitatorin
Meine Mutter hat mir vor allem beigebracht, so unsichtbar wie möglich
zu sein oder mich wenigstens in einen Schatten zu verwandeln, um unangreifbar zu
werden, durch Wände gehen und mit meiner Umwelt verschmelzen zu können. In
der Kunst des Krieges, hatte sie immer wieder gesagt, bestehe die erste Lektion
darin, das eigene Verschwinden zu beherrschen. Dank dem Echo meiner Stimme in
Vincents schützenden Armen konnte ich den Wunsch meiner Mutter verstehen, mich
wegzuschicken und anders aufwachsen zu lassen, damit ich nicht das gleiche
Schicksal erlebte wie sie.
Autorin
Kim Thúy erzählt ihre leise Geschichte auf sehr asiatische Weise:
Dinge und Speisen werden hier zu Trägern der Gefühle. Heimatgefühl entsteht beim
Duft von geröstetem Zitronengras und dem von in Limetten-Fischsoße sautierten
Bambussprossen. Und wenn Vis Mutter ihrer vietnamesischen Schwiegertochter
beibringt, das Huhn auf die komplizierte traditionelle Art zuzubereiten, und ihrem
zweiten Sohn den Kofferraum voller Speisen packt, weil seine amerikanische Frau
nicht kochen kann, dann ist auch das ein Ausdruck von Liebe. Kim Thúy lässt offen,
ob es Vi gelingen wird, eine starke und unabhängige Frau zu werden, oder ob sich in
ihrem Leben das Schicksal der Mutter wiederholt. Aber vielleicht ist Vis Erkenntnis,
dass Vietnam nicht mehr ihre Heimat ist, ein erster wichtiger Schritt in die Freiheit.