Barrierefreies Bauen - Baufachliche Betrachtung

Barrierefreies Bauen
Eine baufachliche Betrachtung
Professor DI Dr. Hans Steiner, MBA h.c.
Februar 2015
Version 3.1
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Philosophie und Überblick
Für alle, die sich einen schnellen Überblick erwarten…
Leseprobe aus:
Steiner/ Jernej 2014, Strategie für den Blick auf das Ganze. Ein Buch auch für Baumenschen
Die bauliche Barrierefreiheit – ein gesamtgesellschaftliches Projekt aus kybernetischer Sicht
Ein Thema, das aus aktuellem Anlass das Bauwesen
beschäftigt, ist das „barrierefreie“ Bauen. Mit 1. Jänner
2006
trat
in
Österreich
das
BundesBehindertengleichstellungsgesetz in Kraft, dessen Ziel es
ist, die „Diskriminierung von Menschen mit Behinderung
zu beseitigen oder zu verhindern und damit die
gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit
Behinderungen am Leben in der Gesellschaft zu
gewährleisten und ihnen eine selbstbestimmte
Lebensführung zu ermöglichen“ (§ 1)1. Für die
Baupraxis ergibt sich aus dem Gesetzestext, dass unter
„barrierefrei“ bauliche und sonstige Anlagen zu verstehen
sind, wenn sie „für Menschen mit Behinderung in der
allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis
und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und
nutzbar sind“ (§ 6 Abs. 1).
Die Selbstverständlichkeit des Nichtdiskriminierens ist
der Grundgedanke einer Revolution des Bauens – einer
entstehenden neuen Gebäudelehre, die auch als
Bestandteil der „Großen Transformation 21“ gesehen
werden kann, die nach Fredmund Malik jene
notwendigen Änderungen und Adaptionen umfasst, die
im 21. Jahrhundert von den Menschen zwingend
gefordert werden2. Das neue Funktionieren bedeutet ein
Funktionieren für Menschen.
Da das Gesetz mit Übergangsfristen bis zum 31.
Dezember 2015 versehen wurde, erhält dieses Thema im
Jahr 2014 zusätzliche Brisanz. Im Gesetz werden auch
Schlichtungsverfahren behandelt, die bereits dann
ausgelöst werden, wenn sich eine betroffene Person
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Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz – BGStG,
https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=
Bundesnormen&Gesetzesnummer=20004228&ShowPrint
Preview=True (10.6.2014).
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Vgl. m.o.m.®-Letter 02/11 (17.7.2014).
© STP 2015 Hans Steiner
diskriminiert fühlt. Damit ist der Anspruch erhoben, dass
das Bauwerk alle Ansprüche für alle erfüllen muss.
„Design for all“ – kann es das geben?
Bereits in den Jahren vor dem Inkrafttreten des BundesBehindertengleichstellungsgesetzes gab es Normen, die
sich dieser Thematik widmeten. Die ersten wurden vor
über 35 Jahren herausgegeben3. In der Ö-Norm B 1600
wurde versucht, detaillierte Vorschriften zu schaffen.
Doch die unreflektierte Einhaltung der Normen kann
auch zu Diskriminierungen führen. Ein Gebäude, das
nach den gültigen Regeln der Technik mit ihren
Mindestmaßen errichtet wurde, diskriminiert z. B.
Elektrorollstuhlfahrer, weil der Manövrierraum nicht
ausreichend ist.
Normen und Vorschriften, die Probleme mittels genauer
Vorgaben zu lösen versuchen, werden immer nur
Teilbereiche abdecken können. Selbst in detailliertester
Ausarbeitung wird es Fälle geben, die durch die Normen
nicht abgedeckt werden. Vor allem ist es unmöglich,
zukünftige Entwicklungen in detaillierten Normen
vorwegzunehmen. Wer von uns vermag zu entscheiden,
wo in der Zukunft Diskriminierungen liegen werden? Ist
es vorstellbar, dass sich z. B. künftig Menschen ohne
Smartphone diskriminiert fühlen? Dies soll keinesfalls
die Wichtigkeit des Themas Menschen mit Behinderung
relativieren. Es soll nur verdeutlichen, dass die Zukunft
mit ihren Wertigkeiten offen ist.
Normen, im Sinn von Bau- oder sonstigen Vorschriften,
sind
als
Regelinstrumente
in
einer
gesamtgesellschaftlichen
Betrachtungsweise
unten
anzusetzen. Sie schreiben fest und vor, meist ohne viel
Handlungsspielraum zu lassen. In ihren Aussagen sind sie
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Zum Folgenden: Hans Steiner, Eine Auseinandersetzung
mit der baulichen Barrierefreiheit (Manuskript Oktober
2014 ab Kapitel 2).
konkret und möglichst umfassend. Vorschriften und
Normen sollen verwirklichen, was an der Spitze der
Gedankenpyramide steht: den Wunsch, die Absicht oder
aber auch die Utopie. Wir verdeutlichen das am Beispiel
der Baurechtspyramide für die bauliche Barrierefreiheit
(Abb. 1 unten): Einschlägige Normen und der Stand der
Technik
sind
die
Basis.
Darüber
folgen
rechtsverbindliche Normen, OIB-Richtlinien und
bautechnische Vorschriften. Darüber liegen die
gewöhnlich vorauszusetzenden Eigenschaften, an der
Spitze steht das Diskriminierungsverbot. Wenn man nun
versucht, die Pyramide von der Basis aufzubauen, so mag
dies zwar der Logik des Bauens entsprechen, jedoch steht
dies im Widerspruch zur systemisch-kybernetischen
Betrachtungsweise. Ein System ist mehr als die Summe
seiner Elemente. Das Sammeln von Einzelfaktoren führt
zu keiner Systembeschreibung. Das Setzen von Normen
allein macht keine Barrierefreiheit. Es ist ebenso
unmöglich, auf diesen Weg das Ziel Barrierefreiheit zu
erreichen, wie es unmöglich ist, jeden künftig möglichen
Störfall in einem System vorauszusehen. Es gilt auch
hier, die Muster und Führungsgrößen zu bestimmen, um
zu praktikablen Lösungsansetzen zu kommen. Wir
müssen die Pyramide von der Spitze her betrachten. Auf
den Ebenen 5 und 6 finden wir die gewöhnlich
vorauszusetzenden
Eigenschaften
und
das
Diskriminierungsverbot. Das sind keine durch Regeln
und Normen allgemein gültig festschreibbare Größen.
Wir müssen uns vielmehr fragen, wer nicht diskriminiert
werden soll und wer die gewöhnlich vorauszusetzenden
Eigenschaften nutzen soll. Die Antwort lautet: Menschen.
Es sind immer noch die Menschen, für die Regeln
gemacht werden sollten, nicht für die Objekte. Es gilt,
von der Orientierung am Objekt wegzukommen und sich
im Denken auf den Menschen hin zu bewegen. Ein
Mensch, der eine Dienstleistung beansprucht oder einen
Ort aufsucht, wird automatisch zum Nutzer des
Angebots. Nutzer suchen ein Angebot, weil sie dessen
Funktion benötigen oder haben wollen. Sie haben ein
Bedürfnis nach der Funktion des Angebots. Haben
mehrere Nutzer die gleichen Probleme, Interessen oder
Ansprüche, so kann man sie zu einer Zielgruppe
zusammenfassen.
Ausgehend
von
der
Zielgruppenüberlegung,
die
nicht
nur
bei
engpasskonzentrierten Strategien als wesentliches
Element für eine Angebotsentwicklung gesehen wird,
ergeben sich dann die nötigen Maßnahmen. In Anlehnung
an die EKS, die dem konstanten Grundbedürfnis bei
strategischen Überlegungen eine wesentliche Rolle
zuspricht (s. u.), bedeutet dies allerdings auch, dass die
konstanten Grundbedürfnisse aller Menschen zu
berücksichtigen sind. Essen, Teilhabe an der
Gesellschaft, Selbstverwirklichung und beispielsweise
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© STP 2015 Hans Steiner
ein WC zu benutzen oder ein Gebäude zu betreten,
gehören zweifellos zu den Grundbedürfnissen aller
Menschen. So erklärt sich auch, warum es unsinnig ist,
von „Menschen mit besonderen Bedürfnissen“ zu
sprechen. Es gibt bestenfalls Zielgruppen mit speziellen
Ansprüchen.
In diesem Sinn erscheint es zielführend, die bauliche
Barrierefreiheit an funktionalen Gesichtspunkten
auszurichten. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der
Benutzbarkeit der Funktionseinheit. Wir begegnen hier
einer der acht biokybernetischen Grundregeln nach F.
Vester: Die Funktionsorientierung hat über der
Produktorientierung zu stehen. Nicht das barrierefreie
Objekt ist das Ziel, sondern die barrierefreie Funktion
kann als Führungsgröße gesehen werden. Die Funktion
muss definiert und barrierefrei gestaltet sein. Hier liegt
dann auch der nötige Spielraum, um eine letztlich nicht
zu
gewährleistende,
absolute
baulich-technische
Barrierefreiheit zu ergänzen. Aus dem Blickwinkel der
Funktionsorientierung und der Berücksichtigung von
Zielgruppen wird aber auch klar, dass öffentliche
Einrichtungen eine besonders hohe Verantwortung
tragen. Ihr „Angebot“ wird von der „Zielgruppe“ nicht
immer freiwillig aus eigenem Bedürfnis in Anspruch
genommen. Wer verspürt schon das Bedürfnis, das
Finanzamt aufzusuchen? Der moderne Staat versteht sich
in manchen Bereichen zwar als Dienstleister, was sich
durchaus positiv auf den Umgang mit seinen Bürgerinnen
und Bürgern auswirkt. Doch letztlich ist der „Kunde“
beim Arbeitsmarktservice AMS meist nicht freiwillig
zum Nutzer geworden. Umso höher ist daher die
Verpflichtung der staatlichen Institutionen, dem
Diskriminierungsverbot gerecht zu werden und Barrieren
abzubauen. Über die gesetzlichen Verpflichtungen hinaus
geht es um eine selbstverständliche Haltung:
Barrierefreies Bauen ist Teil des richtigen und guten
Bauens und somit Teil der Baukultur und der Kultur des
Bauens.
Diskriminierungsverbot
Gewöhnlich vorauszusetzende Eigenschaften
Bautechnische Vorschriften
OIB Richtlinien
Rechtsverbindliche Önormen
Einschlägige Önormen, Stand der Technik